Aufgrund der vielen bald ablaufenden Empfehlungen gibt es die Mediatheken-Tipps ausnahmsweise bereits am Freitag! (Ihr sollt ja wenigstens eine vage Chance haben, die Tipps zu befolgen.)
Letztes Jahr in Marienbad (Nouvelle Vague trifft Avantgarde, 1961) In einem weitläufigen, prunkvollen, aber auch beunruhigend-klinischen Hotel begegnen sich ein Mann und eine Frau. Er ist überzeugt, dass sie sich vergangenes Jahr in Marienbad gesehen haben und intensive Erfahrungen miteinander hatten, sie kann sich nicht erinnern. Irritierende, zwischendurch schwärmerische, zumeist unwohlige Traumlogik mit hypnotischer Kameraführung und überwältigender Musikuntermalung, die man verbissen entschlüsseln kann, um den "wahren Plot" zu erfahren. Sollte man meiner Ansicht nach aber bleiben lassen, da sich selbst Regisseur Alain Resnais und Drehbuchautor Alain Robbe-Grillet uneinig wahren. Ergiebiger ist es, die Stimmung aufzusaugen, sich fallen zu lassen und zu analysieren, welchen Reim man sich aus den Motiven und Figurenprofilen macht. Und es ist amüsant, sich vor Augen zu führen, dass Letztes Jahr in Marienbad einst von den Filmfestspielen von Cannes abgelehnt wurde, keine Oscar-Nominierung als Internationaler Film bekam und in einem auflagenstarken The Fifty Worst Films of All Time-Ratgeber vorkam. Mittlerweile wird er dagegen (vollauf zurecht) für seine Klasse, Ästhetik, atmosphärische Intensität und Deutungsvielfalt als Klassiker verehrt. arte-Mediathek, abrufbar bis zum 31. März 2024
Auf der Flucht - The Chase (Film-noir-Thriller, 1946) Ein armer, leicht ängstlicher, ehrlicher Schlucker (Robert Cummings) findet eine Geldbörse und bringt sie seinem Besitzer. Der ist ein brutaler, prunkvoll lebender Gangsterboss (Steve Cochran), der den Ex-Soldat zum Ärger seiner grantigen rechten Hand (Peter Lorre) als Chauffeur anstellt. Daraufhin findet der gutmütige, scheue Mann einen Draht zur Gattin des Gangsters (Michèle Morgan), die von Havanna und einem Leben in Freiheit träumt. Regisseur Arthur Ripley und Drehbuchautor Philip Yordan schufen hiermit einen in Deutschland leider kaum bekannten Stützpfeiler der Film-noir-Epoche und führen durch ihre Abänderungen der Cornell-Woolrich-Romanvorlage The Black Path of Fear die Hays-Code-Zensur an der Nase herum: Die oberflächlichen Verwässerungen führen in ihrer Umsetzung zu einer beklemmenden, diffus-finsteren Stimmung, die sich richtig böse im Nacken festbeißt.
Bildsprachlich halten sich Ripley und Die Schwester der Braut-Kameramann Franz Planer eingangs mit den Film-noir-Markenzeichen zurück, steigern sich aber im letzten Dritteln in eine Schauersymphonie aus verwinkelten Räumen, engen Gassen, schweren Schatten und auch grell beleuchteten, hallend-leeren Orten, die genügend Platz für überdimensionale Damoklesschwerter bieten, die sprichwörtlich über den Figuren schweben. Und so wird aus einer Verbotenen-Liebe-Räuberpistole letztlich ein Film, der (damalige) narrative Konventionen aushebelt, von Traumata, Angststörungen und Verfolgungswahn handelt und womöglich die Bahn frei gemacht hat für spätere Hitchcock-Arbeiten und David Lynch. arte-Mediathek, abrufbar bis zum 1. April 2024
Die Falle - Pitfall (Film noir, 1948) Visuell der am wenigsten eindringliche Film noir, den arte derzeit in der Mediathek anbietet, dafür aber der mit dem gewitztesten Dialogbuch: Regisseur André De Toth inszeniert mit tonal überaus versierter Hand eine verrucht-empathische Eifersuchtsgeschichte. Versicherungsmann John Forbes (Dick Powell) versteht sich bestens mit dem Model Mona Stevens (Lizbeth Scott). Deren Freund sitzt wegen Finanzbetrugs im Knast, jedoch kann seine Strafe verkürzt werden, wenn Mona mit John kooperiert. Die Dynamik zwischen Mona und John schmeckt jedoch Mac (Raymond Burr) überhaupt nicht: Der dubiose Schlägertyp wird als Privatdetektiv von Johns Versicherung beschäftigt, und hatte ein Auge auf Mona geworfen. Doch nicht nur Macs Gewaltbereitschaft gefährdet das Familienidyll zwischen John und seiner Gattin Sue (Jane Wyatt)... Fesselnd gespielte Film-noir-Eifersuchtsgeschichte, die mit ihrer nuancierten Moral gegen den Hays Code verstößt, aber unzensiert in die Kinos gelang: Toth ließ zwei hochrangige Zensoren wissen, dass ihm ihre Affären bekannt sind. Hüstel, hüstel. arte-Mediathek, abrufbar bis zum 1. April 2024
Der Menschen Hörigkeit - Of Human Bondage (Romantikdrama mit frühem Film-noir-Einschlag, 1934) Gescheiterter Kunststudent mit wackligen Sozialkünsten wechselt in die Medizin und verliebt sich Hals über Kopf in eine Kellnerin, die ihn jedoch mit nichtssagenden Aussagen an der langen Leine hält. Das führt aber bloß dazu, dass er eine Obsession mit ihr entwickelt... John Cromwells von der US-Kongressbibliothek für die Nachwelt aufbewahrter Klassiker besticht mit widerborstigen Figuren, die sich wiederholt unmöglich aufführen, und trotzdem einen menschlichen Funken behalten, aufgrund dessen Cromwell und Drehbuchautor Lester Cohen (nach einem Roman von W. Somerset Maugham agierend) uns herausfordern, weiterhin empathiefähig zu bleiben. Leslie Howard spielt den Protagonisten etwas läppisch, doch Cohens Skript und eine beeindruckende Bette Davis, die in der weiblichen Hauptrolle von ignorant über eiskalt-manipulativ bis aufgebracht-verzweifelt reicht, heben Der Menschen Hörigkeit auf das Niveau eines Klassikers über irrationale, zwischenmenschliche Verbundenheit und Abhängigkeit. arte-Mediathek, abrufbar bis zum 1. April 2024
Der Rausch (Tragikomödie, 2020) Thomas Vinterbergs brillanter Tanz zwischen pechschwarzer Komödie, melancholischer Mid-Life-Crisis-Saufeskapade und einfühlsamem, zwischenmenschlichem Drama befasst sich auf packend-amüsante, dennoch nachdenkliche Weise damit, wie nah Leid und Freud beieinander liegen und führt vor, dass wir aus unserer endlichen Zeit auf Erden was machen und sie auskosten sollten - aber stets im Blick haben müssen, dass wir uns nicht durch zu viel Verköstigung ins Aus schießen. Der eh so oft grandiose Mads Mikkelsen gibt eine seiner besten Performances ab und das Finale ist ein Filmschluss für die Ewigkeit. What a Life! ARD-Mediathek, abrufbar bis zum 3. April 2024
Schattenseiten (Film-noir-Hommage, 2018) Kauzig-stilvolle Verneigung vor dem Film noir und das insbesondere in den 50ern und 60ern populäre Pixilation-Animationsmedium: In einer surrealen Welt, in der es möglich ist, das eigene Herz der Bank zu überlassen, hilft eine Frau einem Unbekannten, sein gestohlenes Herz wiederzubeschaffen. Doch der Auftrag ist komplizierter als gedacht... arte-Mediathek, abrufbar bis zum 7. Mai 2024
Wieso sechs Tipps? Ich möchte, dass diese Artikelreihe händelbar bleibt. Für mich, damit ich sie neben meinen anderweitigen Verpflichtungen verfassen kann. Und für euch: Ich will euch nicht mit Anschautipps erschlagen. Sechs Tipps halte ich indes für umsetzbar: Selbst, wer alle Tipps ansprechend findet, kann sich täglich einen davon angucken, und hat dennoch bis zur nächsten Ausgabe der Reihe auch einen Tag "mediathekenfrei".
Die Mediatheken-Tipps erheben selbstredend keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt viel mehr zu sehen, als ich hier Woche für Woche nennen könnte.