Ich weiß nicht, was in den Köpfen jener vorgeht, die deutsche Lehrpläne entwerfen. Aber im gesamten Verlauf meiner Schullaufbahn war das atomare Wettrüsten kein einziges Mal Thema. In den naturwissenschaftlichen Fächern wurde mal kurz erklärt, wie Atomenergie funktioniert, doch die gesamte polithistorische Dimension, weshalb man darin geforscht hat, die Atombombe erfand und einsetzte? Kein Thema. Sämtliches Wissen über die jahrzehntelang die Welt im Atem haltende Atomangst und die Anlässe, die Welt überhaupt erst an diesen Abgrund zu führen? All das musste ich von älteren Verwandten erfahren sowie aus öffentlich-rechtlichen Dokumentationen und der Popkultur ziehen.
Das genügte für ein Verständnis des groben Zeitstrangs. Einen überaus vagen Eindruck dessen, wie es sich angefühlt haben muss, während des nuklearen Wettrüstens morgens im Gedanken aufzuwachen, abends nicht mehr zu leben, bloß weil irgendwer in der einen Hemisphäre irgendwas gesagt hat, das irgendwem auf der anderen Hemisphäre den Hut hat hochgehen lassen. Und für die unbegreiflich im Raum stehende Behauptung: "Naja, die Amis wollten halt die Bombe bauen, bevor die Nazis das tun."
Wenn ich an Oppenheimer denke, denke ich nicht zuallererst an die einmal mehr wuchtige Klangwelt, mit der Nolan seine Bilder aufwerten lässt. Oder an die visuelle Macht, mit der sich Nolan dem oft so uninspiriert abgewickelten Genre des Biopics nähert. Nicht einmal an Cillian Murphys so ruhig-brodelnd angelegte, so emotional aufzehrend wirkende Darbietung. Oder an Emily Blunt, die lange wie in einer undankbaren Nebenrolle gefangen wirkt und sich dann als weitere das Geschehen reflektierende, Persönlichkeit beweisende Partei enthüllt. Sondern daran, dass mir Oppenheimer endlich die Antwort auf die Frage "Warum zum Henker haben sich Menschen hingesetzt, um so etwas zu entwickeln?" begreiflich gemacht hat.
Innerhalb von drei Kinostunden entwirft Regisseur/Autor Christopher Nolan ein Szenario, in dem Hybris, Überforderung, widersprüchliche Informationen sowie überbordende, wissenschaftliche Neugier im Gleichschritt mit atemloser Angst vor der Bedrohung durch die Nazis zum Bau eines Weltenzerstörers führten. Eine Waffe, die daraufhin jenen entglitten ist, die ihre Implikationen verstehen, und aus reinem, patriotischen Machtgehabe auf Kosten mehrerer Tausend japanischer Leben der Weltbühne vorgeführt wurde. Nolans Oppenheimer dient nicht als Rechtfertigung, nicht einmal zwingend als schulische Erklärung. Sondern als ernüchternde Begreiflichmachung der sehr speziellen Umstände und Persönlichkeiten, die zu einer die Welt verändernden, unaufhaltsamen Kettenreaktion führten.
Und das hat mich mit staunender Überwältigung zurückgelassen. Das werde ich so schnell nicht vergessen und dem Film für immer zugute halten.
Die düstere Sinfonie der physikalischen Formeln, die Kakophonie des politischen Ellenbogenreibens
Wie es bei Nolan zunehmend üblich wird, ist auch Oppenheimer eine von seinen Klängen getragene Filmerfahrung: Das Drama eröffnet, wie viele Klassikkonzerte beginnen: Das Orchester wärmt sich auf, die Streichinstrumente werden ein letztes Mal gestimmt. Dann sehen wir Regen auf eine Wasserfläche prasseln, von Nope-Kameramann Hoyte van Hoytema so gefilmt, dass es glatt so aussieht, als wären die aufprallenden Tropfen Noten auf einer Partitur.
Von nun an oszilliert die Filmmusik des The Mandalorian-Komponisten Ludwig Göransson zwischen voluminös erklingenden, sinfonischen Stücken und wuchtigem, chaotischem Elektrosound. Ein klassisch aufgebautes Orchester spielt Musik, die im Einklang mit den Bildern den Eindruck vom Vorantreiben von Forschungsprozessen, sprunghafter Passion in privaten wie beruflichen Dingen und flirrenden Gedanken erzählen. Eine Verschmelzung aus klassischem Orchester, Synthesizern und ungewöhnlichen Instrumenten wabert, dröhnt und schlägt entfesselte, bedrohliche Klangwellen. In diesen Passagen klingt Göranssons Musik so sehr nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten, wie noch nie jemand außer Hans Zimmer nach Hans Zimmer in seinen bombastischsten, wildesten Arbeiten klang.
Auf der Oppenheimer-Tonspur wird ein unablässiger Kampf ausgetragen, zwischen Konvention und Modernität, Untermalung und Übertönung, einem mitfühlenden und gegen das Bild rebellierenden Ansatz. Nolan, dessen Filme mitunter als verkopft, über-intellektualisiert und kompliziert kritisiert werden, machte schon in Tenet keinen Hehl daraus, dass er doch nur will, dass wir seine Arbeit fühlen, nicht verstehen. Er legte Clémence Poésy sogar eine Tenet-Gebrauchsanweisung in den Mund. In Oppenheimer belässt er es nicht mehr auf eine Dialogzeile. Er lässt es Göransson musikalisch in die Welt hinausbrüllen und trennt visuell seine einmal mehr ineinander verwobenen Erzählebenen in vibrierende, gefühlsüberbetonte Farben und nüchternes, Nuancen auslöschendes Schwarzweiß, um es uns begreiflich zu machen: Nolan will uns die Geschichte mit jeder Pore unseres filmschauenden Körpers erleben lassen. Das Trockene ist trocken, laugt aus. Das Chaos ist laut und desorientierend.
Wer in der realen Historie an welchem Tag jetzt was warum gesagt hat, ist weniger von Belang als das, was daraus folgt, was es mit der Welt macht, mit Oppenheimers Seelenleben anstellt, mit uns im Saal macht. Oppenheimer ist kein derartiges Wunder an Struktur, Schnitt und Musik wie Dunkirk, setzt dessen Grundgedanken, wichtige Geschichtsereignisse zu destillieren und in uns hineinzujagen, aber deutlich erfolgreicher um.
Einen Clémence-Poésy-Augenblick nimmt sich Nolan dennoch heraus: Oppenheimer, den wir im Film wiederholt rätselnd ins Leere starren, mit seinen Augen Löcher in die Luft bohren und fragend vom Regen bombardierte Wasserflächen anblicken sehen, bekommt von einem Kollegen gesagt, er sei als an der Mathematik desinteressierter Physiker wie ein Musiker, der keine Noten lesen kann. Was in seinem Fall nicht weiter von Belang wäre, da er die Musik in ihrer Gesamtheit versteht. Womit Nolan noch im ersten Drittel (erstmals, aber nicht zum letzten Mal) den Bogen zurück zum Filmbeginn spannt. Dieser Film wird musikalisch erfahrbar gemacht, schert sich um dornige, widersprüchliche Gesamteindrücke, ignoriert trotz drei Stunden Laufzeit irgendwelche Detailfragen, die allein das Fachpublikum einordnen köönte. Das mag spalten, setzt aber große Energie frei.
Während die sich um Oppenheimers Lebensperspektive und den physikalischen Forschungsprozess drehenden Sequenzen zwar mit ehrlichem, überzeugtem Pathos, aber auch geordnet ablaufen, ist die dominierende Energie in anderen Sequenzen destruktiv: Immer wieder sehen wir Anhörungen. Aus Oppenheimer wird phasenweise eine Art Justizthriller, mit allem, was zum Genre dazugehört: Uninformierte Fehlurteile, hasserfüllte Anschuldigungen, unsaubere Argumentationen, die mit voller Überzeugung in den Raum gebrüllt werden. Es sind Szenen, die uns aus Oppenheimers Schuhen rausholen und dazu drängen, Urteile über ihn zu bilden. Wohlwissend, wie schwer dies ist.
Und es sind Szenen, die eiskalt mit dem US-Politzirkus abrechnen. Da ist ein Mann, der sich so sehr auf die Gelegenheit stürzte, die ultimative Waffe zu bilden, dass er davon geblendet einer angriffswütigen Politik in die Hände spielte und somit literweise Blut an seinen Händen kleben hat. Und den will man vor allem deskreditieren, weil er sich einst für die Gründung einer Gewerkschaft aussprach? Die USA, das Land der unbegrenzten "Fairness und Mitspracherecht sind Kommunismus, und somit unser aller Todfeind"-Argumentationsstrudel.
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