Als Kirk Wise und Gary Trousdale den Beschluss gefasst haben, nach dem Märchenmusical Die Schöne und das Biest und dem romantisch-dramatischen Musical Der Glöckner von Notre Dame mit Atlantis - Das Geheimnis der verlorenen Stadt einen gezeichneten Action-Abenteuerfilm zu wagen, erklärten sie und ihr Produzent Don Hahn diesen Impuls mit einem Disneyland-Vergleich. Die von Walt Disney moderierte TV-Sendung und der von ihm erschaffene Themenpark sind in mehrere "Länder" unterteilt, die jeweils einem Genre respektive einer Erzähltradition gewidmet sind.
Während die Disney-Fernsehsendung aufgrund des immensen Erfolgs der Miniserie Davy Crockett gehäuft ins Frontierland wanderte, um auf die heimischen Mattscheiben Western-Geschichten zu werfen, sieht es in der Geschichte der Walt Disney Animation Studios anders aus:
Würde man die Filmografie des traditionsreichen Disney-Trickstudios in die Logik der Disneyland-Sendung zwängen, während deren Vorspann stets mitgeteilt wurde, in welches Land man heute schlendern wird, oder wie einen Parkbesuch auffassen, so übt ein Land eine überaus dominante Anziehungskraft auf die Studiobosse aus. Das Land direkt hinter dem Schloss. In Don Hahns Worten:
„Es gibt einen gewaltigen Bereich namens Adventureland im Disneyland, und wir sagten wir uns: Lasst uns einen Abstecher dorthin machen! Wir sind oft genug die Main Street entlang gelaufen und durch das Schloss ins Fantasyland gelangt – diesmal wollten wir die Abzweigung nehmen, nach links ins Adventureland gehen und dort ein bisschen Spaß haben.“
Leider folgte das zahlende Publikum Hahn, Trousdale und Wise während der Kinoauswertung von Atlantis bloß in überschaubaren Zahlen. Kurz darauf fiel auch Der Schatzplanet auf die Nase. Überhaupt zeigte sich über Jahre hinweg das Kinopublikum zögerlich, animierte Disney-Filme zu würdigen, die nicht ins Fantasyland passen.
Mittlerweile ist dieser Fluch gebrochen: Atlantis und Der Schatzplanet haben (vor allem unter Millennials) im Heimkino eine mittelgroße, stetig wachsende, sehr innige Fangruppe generiert. Und der dezent futuristische Superheldenfilm Baymax – Riesiges Robowabohu, der wohl am ehesten ins Tomorrowland gehört, wurde sogar zu einem der größten Hits der Walt Disney Animation Studios.
Insofern ist es nachvollziehbar sowie löblich, dass Der Schatzplanet- und Baymax-Produzent Roy Conli den Mut hatte, ein weiteres Mal das Fantasyland bei Seite zu lassen. Darüber, ob der von ihm produzierte Strange World nun eher ins Adventureland gehört oder in das (teilweise) an Jules Verne angelehnte, Pariser Discoveryland, lässt sich indes streiten. Bedauerlich ist derweil, dass sich bereits jetzt abzeichnet, dass sich die frühen 2000er-Jahre wiederholen:
Während sich das vergleichsweise überschaubare Echo von Raya und der letzte Drache noch durch die Pandemie erklären ließe, steuert Strange World nun ohne diese Ausrede auf einen ernüchternden Deutschland-Start hin. Die US-Zahlen sind ebenfalls nicht allzu euphorisch, erste Prognosen besagen, dass der Film Disney ein Minus von 100 Millionen Dollar einbringen wird. Zwei Nicht-Fantasyland-Filme mit bedauerlichen Zahlen, recht kurz nacheinander... Kein gutes Signal, dass das Publikum den Walt Disney Animation Studios da sendet. Aber unabhängig davon, wie schade dieses Déjá-vu im Prinzip ist... Wie finde ich eigentlich den Film, mal so ganz praktisch gesprochen?
Drei Abenteuergenerationen, ein anachronistisches Abenteuer
Es hat leider einen Grund, dass ich zunächst auf die ganze Fantasyland/Adventureland-Sache einging, statt direkt mit Strange World einzusteigen. Denn zumindest nach einmaligem Anschauen finde ich seine Position in der Disney-Filmgeschichte und die Wiederholung vergangener Publikumsreaktionen spannender und bedeutungsvoller als den Film selbst. Womit ich Strange World jedoch nicht absprechen will, Qualitäten zu haben. Regisseur Don Hall (inszenierte Winnie Puuh, verfasste unter anderem Mulan und Ein Königreich für ein Lama) und Autor/Ko-Regisseur (wirkte am Drehbuch von Raya und der letzte Drache mit) haben gute Ideen. Bedauerlicherweise ist deren Umsetzung zu oft lau, als dass diese Ideen oft genug reifen und aufblühen könnten.
Der wagemutige Entdecker Jaeger Clade und sein Sohn Searcher wollen die Welt erkunden und Wege finden, ihr kriselndes Heimatreich Avalonia zu stärken. Als sie während einer Expedition eine Elektrizität ausstoßende Pflanze entdecken, streiten sie sich: Searcher will mit der Pflanze heimkehren und Avalonia in eine neue Ära leiten, Jaeger will sich weiter durch die unüberwindbaren Berge kämpfen. Ihre Wege trennen sich. 25 Jahre später ist Avalonia ein utopisches Land, dessen Versorgung auf der von Searcher entdeckten und nun von ihm und seiner taffen Frau Meridian im großen Stil angebauten Pflanze fußt. Als immer mehr dieser Pflanzen verfaulen, müssen Searcher, Meridian und ihr gemeinsamer Sohn Ethan tief ins Innere der ihnen bekannten Welt vordringen, um der Sache auf dem Grund zu gehen...
Jules Verne trifft Kino-Serials, Abenteuercomics im Stile der großen Carl-Barks-Spektakel oder Tim & Struppi und B-Movie-Fantasyabenteuer, aufgepeppt mit einem Schuss kontemporärem Zeitgeist und Retro-Futurismus. Die Welt und Erzählhaltung von Strange World ist ein bunter Mix an Einflüssen, und das gilt allein schon, bevor die Clades einen auf Reise zum Mittelpunkt der Erde machen und durch eine wobbelige, wibbelige, glibberige, farbenfrohe Welt der Sonderbarkeiten stapfen, kämpfen und fliegen.
Ästhetisch geht Strange World dabei nicht derart markante Wege wie einst der im kantigen Mike-Mignola-Stil gehaltene Atlantis oder der an die Brandywine-Schule angelehnte Schatzplanet. Trotzdem sind mir an der Animation und dem Produktionsdesign Elemente besonders aufgefallen. So sind die Oberflächenstrukturen der Figuren und ihrer Umgebung in Strange World vor der zentralen Expedition atypisch spröde, rau, geradezu porös: Avalonia und seine Bevölkerung sind nicht so scheinend-glatt wie im Disney-CG-Animationskino gewohnt. So, als würden wir einen auf rauem Papier gedruckten Comic lesen, während Chaos im Netz etwa in dieser Metapher auf Hochglanzpapier gedruckt wurde.
Es passt zur Stimmung des Films und hebt Avalonia von der titelgebenden, sonderbaren Welt im tiefen inneren der unerforschten Berge ab. Die ist glibberig, wabbelnd und squishy. Doch hier kommt eine der Schwächen von Strange World zum Zuge: Der Film ist gleichzeitig zu lang, und doch zu hektisch erzählt. Die auf eine deutliche, punktgenaue Lösung zusteuernde Geschichte ist, um im Comic-Talk zu bleiben, ein Carl-Barks-30-Seiter, oder um ins Abenteuerkino von einst zu gehen, ein 75 Minuten langer Familienspaß, den man sich sonntags in der Matinee anschaut. Mit 99 Minuten Laufzeit (inklusive Abspann, zugegebenermaßen) überdehnt Strange World das, was er erzählt, hält sich für eine 70 Seiten Minimum einnehmende Geschichte im Lustigen Taschenbuch oder ein größeres, wortwörtlich abendfüllendes Stück Abenteuerkino. Das bringt mit sich, dass der halb-subtil vorab telegrafierte Schlussakt wirkt nicht wie eine konsequente Lösung. Sondern wie ein schlecht gehüteter Twist.
Gleichzeitig wirkt Strange World wie gehetzt, da Hall und Nguyen von Schauplatz zu Schauplatz hurten, um kurze Impressionen verschiedener Ecken von Avalonia und dem Expeditionsschauplatz zu zeigen und dann weiterzumachen. Atlantis und Der Schatzplanet sind ebenfalls reich an Eindrücken, finden aber immer wieder prägnante, ruhigere Momente, in denen wir im Publikum ebenso wie die Figuren die Gelegenheit erhalten, zu staunen, die Welt und ihre Kultur aufzusaugen und auch Bedrohungen richtig sacken zu lassen. Strange World hätte auf ein paar Szenen verzichten, die übrig gelassenen dafür mehr auskosten müssen, damit das verspielte Produktionsdesign und die Entdeckergeschichte besser wirken können. Oder, alternativ: Alles so richtig komprimieren, für ein rasantes Abenteuer-Destillat. So hingegen fällt der Film leider zwischen zwei Stühle.
Die vielleicht größte Enttäuschung war für mich die Filmmusik: Sie störte mich zwar nicht, jedoch gelang es ihr zu keinem Zeitpunkt, eine griffige klangliche Stimmung zu entwickeln. Somit ist sie wohl zu beachtlichem Teil dafür mitverantwortlich, dass Strange World mir nie so einen richtigen Vibe transportiert hat: Die 40er- bis 60er-B-Movie-Abenteuer-Stimmung, der Retro-Futurismus, die Jules-Verne-Ansätze, die Abenteuercomic-Ästhetik und die "esoterischeren" Elemente - es gibt genug Ansätze, an die sich die Musik haften könnte. Geschweige denn Aspekte, die vereint werden könnten.
Stattdessen dudelt der Score munter, manchmal auch dezent-dramatisch vor sich her, nie unpassend, aber auch nie in einer Form, die den Film aufwertet. Dass die Musik von Henry Jackman stammt, überrascht mich enorm, fand er doch in den Ralph reicht's-Filmen und bei Baymax so eine formidable Balance aus Gefühl und Aufregung, Disney-Tradition und frischen Anstrichen.
Daher ist es ausgerechnet ein kurzer Moment, in dem die Clade-Familie zu einem in unserer Welt halbwegs aktuellen Electro-Swing-Radiohit in der Küche tanzt und gemeinsam kocht, in dem am ehesten die Bild- und Klangwelt von Strange World zusammenfinden: Ein Radio im 40er-Jahre-Look, Figuren, die flippig mit Gesten moderne Memes referenzieren, eine zeitlos-gemütliche Hütte, in der futuristische technische Versatzstücke für Leben sorgen, all das zusammengehalten von einem Stück, das heute und gestern vereint.
Generischer als es sein sollte
Ähnlich, wie mich Jackmans Score überraschend gleichgültig ließ, und daher dem gesamten Film Atmosphäre fehlte, fand ich die Dialoge ernüchternd: Figuren kabbeln und versöhnen sich in recht generischen Wortwechseln, die man zu großen Teilen aus diesem Film lösen und in zahlreiche andere familienorientierte Abenteuergeschichten pflanzen könnte, ohne dass es auffällt. Wenn sich Farmer/Forscher Searcher mit Entdecker/Kampfnatur Jaeger reibt oder Ethan sich vor seinem Schwarm für seinen Vater schämt, sind das zeitlose Mini-Konflikte mit breitem Identifikationspotential. So weit, so gut.
Doch sie äußern sich nicht so, dass ich je ein Gefühl dafür entwickeln konnte: "Ja, DAS klingt total nach Ethan!" oder "Aha, das ist also Jaegers tiefergehende Persönlichkeit". Die Wortwechsel bleiben schlicht funktional. Und daher fiel es mir schwer, die Figuren wirklich liebzugewinnen. Sie nervten nie. Aber sie blieben Abziehbilder, Entwürfe, noch zu verfeinernde Archetypen.
Dabei ist das Potential, das sie hätten entfalten können, offensichtlich: Ethan etwa ist Fan eines Gesellschaftsspiels, irgendwo zwischen Die Siedler von Catan und den Scharen an Sammelkartenspielen, bei denen man sich mit dem Kauf von Blisterpackungen dumm und dusselig zahlt. Er hat eine gute Bindung zu seinem Vater, ist aber auch voll in der Pubertät und würde ihn daher am liebsten verstecken, wenn sein Liebster auf der Familienfarm vorbeischaut. Er ist ein guter Taktiker, lässt sich aber auch schnell ablenken.
Dadurch müsste Ethan eine herausstehende Disney-Figur werden, oder wenigstens einer der spannenderen Protagonisten im animierten Disney-Abenteuerkino. So nacherzählt ist er es womöglich auch, im Film selbst geht ihm aber durch die "egalen" Dialoge Charakter abhanden. Ähnlich verhält es sich mit dem Rest seiner Familie, geschweige denn mit den Horden an anonymen Besatzungsmitgliedern, die sich an der Expedition beteiligen. Daher sind die wortlosen, nicht-menschlichen Sidekicks denkwürdiger als der tragende, menschliche Cast. Selbst Atlantis hat mehr aus seinem überdimensionierten Cast rausgeholt: Viele Nebenfiguren sind zwar auch nur zweidimensionale Persönlichkeiten, aber sie sind wenigstens waschechte Knallchargen, und nicht etwa Statist:innen mit Text.
So kommt es auch, dass ich wegen der Schlusslösung von Strange World nur sanft lächelnd mit den Schultern gezuckt habe. Dass ich es vorgeahnt habe, geschenkt. Aber hätte ich die Möglichkeit gehabt, mit den Figuren stärker mitzufiebern, hätte es mich berührt, wenn sie das erfahren, was ich vorgeahnt habe. Und ich hätte mitgelitten, wenn sie darauf basierend schwerwiegende Entscheidungen treffen.
Nicht missverstehen: Im Prinzip ist Strange World als Fortschritt darin, wen Disney in seinen animierten Produktionen prominent repräsentiert, genauso löblich, wie ich die Lektion, die die Figuren lernen, schlüssig sowie als Gesellschaftskommentar bemerkenswert finde. Aber in Praxis habe ich das metaphorische Comicheftchen zugeklappt und auf einen Stapel geschmissen, statt es zuzuklappen, amüsiert und berührt durchzuatmen und sorgsam ins Regal zu stellen.
Das, was Strange World für den Disney-Kanon bedeutet, bedeutet mir mehr als der Film selbst. Der ist leider nur ein nettes, schnell vergessenes Disney-Abenteuer. Aber hey, für viele sind Atlantis und Der Schatzplanet genau das. Und ich bin sicher: So wie viele, viele andere animierte Disney-Flops, wird auch Strange World seine Kult-Fangemeinde entwickeln. Und ich gönne es ihm, aus Prinzip. Teil von ihr werde ich nicht sein können, dafür ist er mir in Praxis zu egal.
Strange World läuft aktuell im Kino.
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