Im Januar 2020 wurde bekannt, dass der Doctor Strange-Macher entgegen anfänglicher Pläne das Sequel Doctor Strange in the Multiverse of Madness nicht inszenieren wird. Dennoch nimmt die Fortsetzung seine Schlussfolgerung "Wut ist maskierte Angst, Angst entsteht durch (erlittenen oder erwarteten) Verlust" und steigert sie massiv. Daher auch der zweideutige Filmtitel: Viel zu einfach ist man dazu verleitet, ihn einzig als "Doctor Strange im Multiversum der Merkwürdigkeit" zu verstehen. Schließlich gab bereits Stephen Stranges kurzer Multiversumtrip im ersten Doctor Strange einen bizarren Vorgeschmack auf die multiversalen Möglichkeiten.
Jedoch wird mit "Madness" nicht bloß "grotesk", "eigenartig" und "schrullig" konnotiert. "Madness" bedeutet abhängig vom Kontext auch "Tobsucht". Drehbuchautor Michael Waldron (Loki, Rick & Morty) und der Derricksons Platz einnehmende Tanz der Teufel-, Spider-Man- und Drag Me to Hell-Regisseur Sam Raimi leben eben diese diffuse Bedeutung des Filmtitels mit glühendem Eifer aus.
Denn der nunmehr 28. (!) Marvel-Cinematic-Universe-Film steckt nicht nur voller konfuser Anblicke und skurriler Späße. Seine Antriebsfeder ist nämlich Zorn, der Angst kaschieren soll, wodurch Doctor Strange in the Multiverse of Madness zu einem Big-Budget-Genrevertreter des "Spielkind-Horrors" wird: Sam Raimi haut wie ihm Wahn mit aus der Wut diverser Figuren motivierten, finsteren Designs, morbiden Ereignissen und schaurigen inszenatorischen Kniffen um sich, sowie mit deformierten Wesen, die das verkümmerte Innere ins Äußere verkehren.
Wie es seine markante Art ist, dient Raimi nicht etwa als Antrieb, sein Publikum zu verstören, selbst wenn er ein paar Schrecken und Augenblicke des Angewidertseins dankend in Kauf nimmt. Viel mehr strahlt seine Inszenierung eine diabolische Freude an Visualisierungen eines korrumpierenden Jähzorns aus. Der filmemacherische Aspekt von Doctor Strange in the Multiverse of Madness vibriert daher ständig zwischen "Schau mal, was solche Gefühle und Gedanken mit uns machen" und einem ansteckend-amüsiertem "Guck mal, was ich mir hab einfallen lassen!"
Das ist längst nicht Raimis dreckigster Ansatz, jedoch ein sündig-boshaftes Vergnügen, das nicht nur überdeutlich seine Handschrift trägt, sondern auch den Handlungsmotiven und Charakterbögen des Films gerecht wird.
Mit dem Zornmotor durch das Multiversum gescheppert
Ähnlich wie der kürzlich in den deutschen Kinos gestartete Everything Everywhere All At Once wäre Doctor Strange in the Multiverse of Madness ohne das in der Filmhandlung unentwegt angesprochene Konzept eines Multiversums denkbar, wenngleich weniger lohnenswert. Denn beide Filme lassen die Idee mehrerer verbundener Paralleluniversen, durch die man mit ausreichend geleistetem Aufwand reisen kann wie durch ferne Länder, nicht zum Selbstzweck verkommen.
In Everything Everywhere All At Once dient das Verknüpfen zahlreicher (mitunter haarsträubend-durchgeknallter) Universen, um den Weltschmerz der von Michelle Yeoh gespielten Protagonistin ebenso kreativ wie nachdrücklich zu unterstreichen: "Hätte ich damals nur... Wäre mir einst bloß... Wieso habe ich nicht..."-Gedankenexperimente, die in Momenten der Langeweile, des Stresses und vor allem zutiefst empfundener Unzufriedenheit durchexerziert werden, werden in der schrill-bunten Dramödie des Regie-Duos Daniel Kwan & Daniel Scheinert schlagartig greifbare Wirklichkeit.
Doctor Strange in the Multiverse of Madness derweil hätte auch als Doctor Strange and the Emotional State of Madness konzipiert werden können: Was in Everything Everywhere All At Once Überlegungen des Bedauerns sind, ist in diesem Film gärender Zorn über Ungerechtigkeit, Bigotterie, ungleichmäßig verteilte Glücksaussichten und die Starrsinnigkeit Anderer, sich einfach mal in fremde Positionen zu denken. Das wäre ohne Multiversum umsetzbar, und Doctor Strange in the Multiverse of Madness trägt diverse wiederkehrende Sam-Raimi-Motive vor sich her, mit denen er Frust, Korrumpierbarkeit und finstere Verführungen bereits in anderen Filmen angepackt hat. Durch den Multiversumsaspekt vergrößert sich allerdings die Spielwiese, auf der Raimi und Waldron sich austoben können, und für die Figuren intensivieren sich emotionale Fallhöhe sowie Verdruss.
Dem über allem stehenden Aspekt der Wut konsequent folgend, macht Doctor Strange in the Multiverse of Madness gewaltigen Druck: Gemeinsam mit Avengers | Infinity War und The Return of the First Avenger (alias Captain America: Winter Soldier) bildet Raimis Regiearbeit die Erzähltempo-Speerspitze im MCU. Das Publikum sowie die zentralen Figuren werden unmittelbar ins chaotische Geschehen gestürzt und daraufhin artet es nahezu unaufhörlich aus. Teils in Form von Science-Fantasy-Superhelden-Spektakel in glühender, überbordend detaillierter, farblich satter Sam-Raimi-Ästhetik, die zwischen Gothic, Stoner Rock und makabrem Camp oszilliert. Teils mittels Popcornspektakel-Grusel-Setpieces.
Lediglich eine nennenswerte Insel der Ruhe gönnt sich Doctor Strange in the Multiverse of Madness, eine Phase, in der die Heldenfiguren ihre Gedanken sortieren und sich mit Hintergründen, Lösungsansätzen und der Aufarbeitung brennender Fragen beschäftigen. Eine Atempause, die gewiss etwas kürzer hätte ausfallen können. Allerdings ist sie aus narrativer und tonaler Sicht notwendig, selbst wenn sie auf dem ersten Blick überflüssig, womöglich von Produzent Kevin Feige ferngesteuert erscheinen mag. Sie ist ein atypisch früh erfolgendes, jedoch prononciert eingesetztes retardierendes Moment, durch das der anschließende Akt erst seine zornig-dringliche Energie verliehen bekommt.
Es ist Raimi, der diesen Wahnwitz zusammenhält und in einen soghaften Vorwärtsdrang kanalisiert. Mit seinen schubartigen Kamerafahrten, im exakt richtigen Moment in eine Schräge kippenden Kamera (hier geführt von Gladiator-Filmer John Mathieson), gelegentlichen POV-Shots, sehr spärlich eingesetzten, wirkungsvollen Blicken des Casts exakt in die Linse und dem tolldreisten Wechseln von übernatürlichem Geprotze zu Albernheit zu Gravitas zu Gewaltspitzen. Gewaltspitzen, die glatt einer Herausforderung an Gore Verbinski gleichen. An den Regisseur, der vier Mal mit effektlastigen Big-Budget-Erlebnissen die Grenzen dessen auslotete, was in einem "Vier-Quadranten-Film" mit US-Freigabe PG-13 respektive einer deutschen FSK-Freigabe ab zwölf Jahren möglich ist.
Ob Verbinski eines Tages Doctor Strange in the Multiverse of Madness sehen, "Herausforderung angenommen!" raunen und einen noch feisteren PG-13-Härterausch nachlegen wird, muss sich noch zeigen. Schon jetzt hat sich dagegen gezeigt, dass Elizabeth Olsen es versteht, ihre Figur der Wanda Maximoff von Projekt zu Projekt völlig neu zu erfinden und dennoch eine stringente Entwicklung zur Schau zu stellen, sowie eine konstante Intensivierung ihres Spiels.
Cumberbatch wechselt unterdessen mühelos von Facette zu Facette seiner Rolle, Quasi-Newcomerin Xochitl Gomez gibt dem Film eine unverbrauchte Energie zwischen Ängstlichkeit und "Ich lass mich nicht unterkriegen"-Kampfeswillen und der Rapport zwischen Benedict Wong und Cumberbatch ist einmal mehr höchst amüsant.
Komponist Danny Elfman untermalt den sinistren Zornestrubel, in denen die Figuren gestürzt werden, effektiv und mit zahlreichen klanglich heraussteckenden Kanten, selbst wenn noch mehr erzürnter Zunder und dämonischer Sog drin gewesen wäre. Aber vielleicht wäre das zwischen dem, was Raimi, Olsen und Cumberbatch allesamt an schweren Geschützen auffahren, damit Doctor Strange in the Multiverse of Madness ohne Rücksicht auf Verluste durch die multiplen abgefahrenen Dimensionen der Tobsucht brettern kann, sogar zu Ballast geworden?
Doctor Strange in the Multiverse of Madness ist ab sofort in vielen deutschen Kinos zu sehen.
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