Das Allgemeine im Spezifischen.
Julie führt kein alltägliches Leben. Sie hat im Bett Vorlieben, die zwar keinesfalls unerhört sind, doch ebenso wenig als geläufiger Kink durchgingen. Ihre Universitätsbiografie ist außergewöhnlich. Sie bandelt mit einem berühmten Comiczeichner an.
Und doch ist Julie womöglich meine größte Identifikationsfigur des Kinojahres. Und es geht nicht nur mir so. Ganz gleich, mit wem ich mich über das zwölf Kapitel, einen Prolog und einen Epilog umfassende Julie-Porträt Der schlimmste Mensch der Welt unterhalte. Egal welcher Demografie diese Personen angehören, wo sie im Leben stehen, und wie sie dazu stehen, wo sie im Leben stehen. Immer wieder höre ich: "Ich habe das Gefühl, dass dieser Film speziell für mich gemacht wurde."
Das Geheimnis dahinter dürfte sein, dass sich die von Renate Reinsve ebenso liebenswert und nachvollziehbar wie sprunghaft und verärgernd gespielte Julie nicht wie eine am Reißbrett entworfene Identifikationsfigur wirkt. Sondern wie ihre ganz eigene Frau mit ihrem ganz individuellen Kopf, die sich authentisch durch emotionale Stürme bewegt und vor rationalen Wegzweigen verzweifelt. Reinsve spielt dies wie aus dem Leben gegriffen, während Autor Eskil Vogt und Autor/Regisseur Joachim Trier Julies Stationen mal mit semi-dokumentarischer, rein beobachtender Nüchternheit abbilden, mal Julies Innerstes nach außen kehren, amplifizieren und zu Kino-Magie erhöhen. Immer genau dann, wenn sich eine irreale Erzählform und Bildsprache echter anfühlen als es eine wirkliche Skizzierung von Julies Innenleben könnte.
So zeigt uns Der schlimmste Mensch der Welt eine hyperspezifische fiktive Biografie einer Frau, die von den unzähligen Möglichkeiten erschlagen, von den widersprüchlichen Erwartungen an sie erzürnt und von den ungerechterweise verschlossenen Türen in ihrem Leben frustriert ist. Und eben diese hyperspezifische Skizze eines ganz speziellen Lebens ist so greifbar, gewitzt, unverfälscht und bewegend, dass sie wieder allgemeingültig wird. Julies Überlegungen, Gefühle und Probleme sind so wahrhaftig, dass ich mich immer wieder an eigene Lebensstationen erinnert habe. Und sei es aus noch so anders gearteten Gründen:
Hier ging es mir genauso wie Julie, dort habe ich auf einen ähnlichen Satz ganz anders reagiert, und in jene Situation war völlig anders, aber Julies Reaktion gleicht einem Gedanken, den ich mal hatte. Der schlimmste Mensch der Welt und mein Leben wirkten wie aus demselben Baukasten zusammengesetzt, nur zu variierenden Ergebnissen. So unterstreicht der Film die Universalität von Erfahrungen und Befindungen als auch die riesige Bandbreite an Möglichkeiten, die das Leben bereit hält, sowie das, welche Implikationen diese Erkenntnis hat.
Das Spezifische ist allgemeingültig.
Der schlimmste Mensch der Welt ist ab dem 2. Juni 2022 in deutschen Kinos zu sehen.
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