Es war ein langer Kampf, aber die Video Nasties haben gewonnen, die billigen, schockierend expliziten Horrorfilme gegen die britische Moralhüter:innen und Behörden in den frühen 1980ern ins Feld gezogen sind. Denn 40 Jahre später wurde mit Censor ein Psychohorror mit britischen Fördergeldern finanziert, der sich liebevoll vor den Filmen verneigt, die im Vereinigten Königreich einst verteufelt wurden. Allein schon daher hat Prano Bailey-Bonds Langfilm-Regiedebüt Anerkennung verdient. Doch Censor hat darüber hinaus noch viel mehr Reize zu bieten.
Enid (Niamh Algar) arbeitet während der Video-Nasty-Ära als Filmzensorin. Während manche ihrer Kollegen etwas lascher urteilen und einige Gewaltspitzen durchgehen lassen wollen, weil sie einen künstlerischen Anspruch in den Horrorschockern erkennen, setzt Enid drastisch die Schere an. Als ein Serienmörder die Nachrichten dominiert und der Verdacht aufkommt, dass er seine Taten von Direct-to-Video-Horrorfilmen abkupfert, erhöht sich der Druck auf die Zenurbehörde: Die Gesellschaft (oder zumindest der lautstark-erbosten Teil von ihr) fordert zu ihrem Schutz strengere Eingriffe in weitere Horrorfilme. In diesem Stimmungsklima verliert Enid den Bezug zur Realität: Die Frau, die das spurlose Verschwinden ihrer Schwester nie verarbeitet hat, entwickelt eine Obsession mit den Filmen von Schockfilmer Frederick North, von dem sie sich Aufklärung in diesem Familienfall erhofft. Oder Rechenschaft für seine ekelhaften Werke. Oder beides ...
Die erste Überraschung habe ich schon eingangs erwähnt: Wer hätte gedacht, dass je mit britischen Fördergeldern ein Film finanziert wird, der sich vor Video Nasties verneigt? Die zweite folgt sogleich: Obwohl Regisseurin/Autorin Prano Bailey-Bond und Autor Anthony Fletcher viel Liebe für schlonzige, siffige, explizite Horrorstreifen übrig haben, watschen sie nicht einfach diejenigen ab, die Altersfreigaben vergeben und in den 1980ern noch radikale Kürzungen anordneten. Fletcher und Bailey-Bond machen während ihrer Einblicke in das kulturelle Klima von damals und den Arbeitsalltag von Enid und ihren Kolleg:innen deutlich: Da saßen nicht nur verklemmte, dauerpanische Menschen vor den TV-Geräten und Leinwänden, die sämtliche Gewalt- und Sexszenen verstümmeln wollen, weil sie dachten, dass sie die Gesellschaft verderben.
Ja, unsere Protagonistin Enid ist so jemand. Aber sie hat Kolleg:innen, die Wertschätzung für jede Art von Film übrig haben, und es sich zur Aufgabe machen, für die Filme zu argumentieren. Und es gibt jene, die glauben, einfach nur ihre Arbeit machen zu müssen: "Die Gesellschaft verlangt eine Zensur, und unabhängig davon, ob wir sie befürworten oder nicht, als Jugendschutzbehörde ist es unsere Aufgabe, den kulturellen Forderungen unseres Landes Folge zu leisten, also versuchen wir, es im angemessenen Maße zu verfolgen." Ganz beiläufig wirft Censor also die Frage auf: Wer ist wirklich schuldig, wenn Filme zerstückelt werden? Die Jugendschutzbehörde oder die Gesellschaft (beziehungsweise der Gesellschaftsteil), die/der danach verlangt, verhätschelt zu werden?
Der Schwerpunkt von Censor liegt jedoch nicht auf dieser Beinahe-vielleicht-ein-wenig-Verteidigung von britischen Filmzensor:innen der 1980er. Vor allem ist es ein Psychohorror über Enid, die zwar mit großer Abneigung über Horrorfilme urteilt, sie jedoch auch ohne mit der Wimper zu zucken, gant gelangweilt wegkonsumiert. Jedenfalls, bis ihre Eltern in einem Gespräch ihr nie überkommenes Trauma noch stärker ins Bewusstsein rücken: Das Verschwinden (und den möglichen Tod) ihrer Schwester. Fortan erkennt Enid in allem, was sie sieht, einen Verweis auf ihre Schwester. Nun übt Horror eine größere Sogkraft auf sie aus. Sie verliert sich in ihnen, glaubt, dass diese Filme direkt zu ihr sprechen, und dass ihr Leben einem derartigen Film gleicht.
Während Enid den Bezug zur Wirklichkeit verliert, geraten die Formalien des Films ins Schlingern: 35mm-Aufnahmen und 8mm-Bildmaterial vermischen sich, auf Video gedrehte Szenen drängeln sich dazwischen, die staubige blau-grau-braune Lichtsetzung wird durch stilisierte Neonlichter aufgebrochen. Bandrauschen hebt sich unter die von erdrückender Leere geprägte Klangtapete von Censor.
Zu Beginn des zweiten Akts, wenn wir Enid und ihren Beruf bereits kennengelernt haben, aber ihr schleichender mentaler Zerfall noch nicht nennenswert eingesetzt hat, mäandert Censor ein wenig ... sofern man einem Film mit 84 Minuten Laufzeit, einem trocken-humorigen/dramatischen ersten Akt und einem famosen dritten Akt überhaupt sowas vorwerfen kann. Doch der eindringliche Schlussakkord und Enids leicht begreifbare, schwer zu durchschauende Charakterisierung heben Censor klar empor.
Enid ist oberflächlich leicht zu erläutern, aber ein Enigma, je tiefer man bohrt. Sie ist keine Abrechnung mit Moralaposteln, keine Entschuldigung ihrer Ansichten über Gewaltfilme, Enid lässt uns ratlos, doch zutiefst angespannt zurück. Und genau das sollte auch sein, um das Faszinosum extremer Horrorfilme zu würdigen: Ein bisschen Kopfkratzen gehört dazu. Klare Empfehlung für Genrefans.
Censor ist ab dem 29. Juli 2021 in deutschen Kinos zu sehen.
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