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Sonntag, 18. Juli 2021

Behind the Attraction


2017 startete auf Netflix die Dokuserie Spielzeug - Das war unsere Kindheit, die in jeder Episode eine flott erzählte Abhandlung über die Entstehung, den Aufstieg und den etwaigen Fall (und Wiederaufstieg) einer Spielzeugkollektion bietet. Der charmante Clou hinter der Serie ist die spür- und hörbare Begeisterung der Verantwortlichen für das Thema, die sich in kleinen Running Gags, Insiderjokes und spielerischen formalen Albernheiten äußert und dem Spielzeug-Element gerecht wird, der ein tiefer reichendes Behandeln des Themas gegenübersteht. Seien es Konflikte innerhalb des Kreativteams hinter einem Spielzeug, wer für welche Idee Anerkennung verdient, Steuerskandale, die zwischenzeitlich den Stern der Barbie-Marke haben sinken lassen, oder kulturelle Wandel, die eine Spielzeugserie anschieben oder ausbremsen: Fanhaftes Abkulten trifft auf kritisches Behandeln der unternehmerischen Hintergründe.

Brian Volk-Weiss, der Strippenzieher hinter der Dokureihe, ließ auf diese Dokuserie eine weitere Reihe bei Netflix folgen: Die ähnlich schnippisch aufgezogene Produktion Filme - Das waren unsere Kinojahre. Auch dort werden das Zelebrieren von Erfolgsgeschichten und das Erinnern an unschönere oder dramatischere Details vereint, wie "Der Autor von Stirb langsam dachte, seine Ehe zerrüttet und er verursacht jeden Moment einen tödlichen Autounfall, und als sich das als Irrtum herausstellte, fand er in seiner Angst den emotionalen Kern des Films" oder "Ohne Vertragsbruch gäbe es Kevin - Allein zu Haus nicht". Die Publikums- und Pressereaktion auf diese Dokuserie war etwas gespalten, da manchen die juxenden Erzählkommentare und die flippige Aufmachung nicht gefallen hat. Ihnen wäre ein ernsteres Making of der gewählten Filmtitel lieber. Andere mochten die Abwechslung.

Unter Disney-Themenparkfans wird Behind the Attraction sicher ähnliche Reaktionen hervorrufen. Denn Disney+ hat sich Brian Volk-Weiss ins Boot geholt, um sozusagen Disney-Attraktionen - Das waren unsere Themenparkerlebnisse auf die Beine zu stellen. Naja, ganz genau genommen hat Volk-Weiss mit seiner Produktionsfirma Disney+ ein anderes Format gepitcht, doch Disney+ fand seine Idee nur gut, allerdings nicht sehr gut, weshalb man ihn gefragt hat, ob er in seiner üblichen Tonalität nicht etwas über die Disney-Themenparks machen möchte. Volk-Weiss hat sozusagen aus eigenen Stücken ein Ticket für's Boot geholt und bekam dann diesen Posten zugesprochen.

Jedenfalls: Mit Dwayne Johnson als Massentauglichkeit anvisierenden, ausführenden Produzenten und Paget Brewster (DuckTales, Community) als humorvolle Erzählerin im Original schlägt Behind the Attraction eine andere Richtung ein als das tief im Archiv wühlende, kulturhistorisch-journalistische The Imagineering Story von Leslie Iwerks oder das Disney-Werbung betreibende One Day at Disney oder Disney Insider

Mit selbstironischen Spitzen und ständig auf's Gaspedal drückenden Kommentaren aus dem Off (halt im Stile der oben genannten Volk-Weiss-Projekte) vermeidet Behind the Attraction definitiv den Vorwurf, einfach nur Disney-Eigen-PR zu sein. Behind the Attraction könnte auch einfach eine Travel-Channel-Produktion sein, die sich etwas hipper und flippiger verkaufen will als für den Spartensender üblich. Aber dieses "Hach, es geht halt um Themenparks, und wir lieben Themenparks, aber es ist halt ... ein Themenpark ... und nicht tiefdüstere Politgeschichte!"-Spaßelement wird garantiert manchen Leuten auf den Keks gehen. 

Ich dagegen muss sagen: Hey, ist doch super, dass es mehrere Tonalitäten auf Disney+ gibt, um hinter die Disney-Kulissen zu blicken. Liebend gern würde ich eine zweite Staffel des ernsteren The Imagineering Story schauen, wenn ich Disneys PR-Spin sehen will (will ich das?!), schau ich Disney Insider, und Behind the Attraction gestattet weitere Einblicke in die Themenparks und deren Geschichte, aber eher auf eine "MTV der späten 90er, frühen 2000er, komm, hab 'ne gute Zeit und lern dabei, hier, nimm 'nen Keks und hör mal, hier ist 'n Joke!"-Weise.

Oder, in den Worten von Brian Volk-Weiss selbst, der in einer virtuellen Pressekonferenz seine Gedanken zur Show erklären durfte: "Es ist eine spaßige Sendung, die in allererster Linie unterhalten soll. Aber hoffentlich ... um das böse L-Wort zu benutzen, lernt man am Ende auch was."

Zumal: Behind the Attraction nutzt diese flippige Art, um mittels dieser Verpackung dem Publikum Elemente nahe zu bringen, die es nicht unbedingt anfragen würde ... von solchen Fans wie mir mal ausgenommen. Es gibt selbstkritische Auseinandersetzungen mit schlecht gealterten Ideen und Imagineers mit bislang weniger Medienprominenz dürfen ihre Perspektive erläutern und so auch den Hardcore-Fans Neues bieten. Denn was die prominenteste Garde so zu ihren Arbeiten sagt, das weiß das Themenpark-Fandom ja mittlerweile. Aber natürlich kommen auch die zu Wort, schließlich schauen auch "Normalos" rein. Und so reicht die Liste der Interviewpartner:innen von Bob Weis, Jeanette Lomboy, Kim Irvine und Scott Trowbridge bis Tom Fitzgerald und Joe Rohde.

Oder, um Vanessa Hunt vom Walt Disney Imagineering Art Collection Team zu zitieren, die schon mehrere Disney-Sachbücher verfasst hat: "Als ich die Show geschaut habe, war es für mich ein echtes Vergnügen, aus erster Hand die Geschichten meiner Imagineering-Kolleg:innen über Attraktionen zu hören, über die ich dies und das schon wusste." Die Interview-Segmente zu sehen und zu hören und so persönliche Erfahrungsberichte von Imagineers zu bekommen, ist einfach etwas anderes als die knallharten Fakten zu lesen.


Imagineer Dave Durham, der vornehmlich in der frühen Planungsphase kommender Attraktionen tätig ist und schon an Indiana Jones Adventure arbeitete, merkte zudem an, dass er das Format Behind the Attractions so sehr mag, weil so viele Imagineers zur Sprache kommen und darin die ganzen Anekdoten der Öffentlichkeit erzählen können, die sie sich zuvor verkniffen haben.

Ich kann nur hoffen, dass es eine zweite Staffel geben wird. Denn Volk-Weiss, der großer Disney-Fan ist, tat sich schon ungeheuerlich schwer, die Themen der ersten Staffel zu wählen. Am liebsten hätte er allein über Mission to Mars zehn Folgen gemacht, so enthusiastisch geht er an dieses Metier heran, und das merkt man dem Format definitiv an. Wieso also nicht mehr davon? Es gibt noch genügend andere Winkel der Parks zu erkunden!

Die erste Hälfte von Staffel eins geht am 21. Juli 2021 bei Disney+ online, im weiteren Verlauf des Jahres folgen fünf weitere Episoden.

Donnerstag, 15. Juli 2021

Darf Schweinchen Dick rappen?

Ja.

Danke, Ende.


Okay, okay, ich hol weiter aus: In den vergangenen Tagen wurde mir einmal mehr das immense Dilemma deutlich, in dem sich ikonische Cartoon- und Comic-Figuren befinden, die Generationen überdauern. Denn für sie bleibt die Zeit stehen und schreitet dennoch voran. Als wäre ihre Position im kulturellen Zeitstrang kein einfacher Punkt, sondern ein sich dehnendes Gummiband, so dass diese Figuren gleichzeitig Ergebnisse einer vergangenen Zeit sind und eine gegenwärtige Präsenz.

Bei den Simpsons macht sich das sehr offensichtlich bemerkbar, rutscht die gelbe Familie aus Springfield doch stets ins Heute, ohne es je James Bond oder den Leinwandversionen von Batman, Spider-Man und Co. gleichzutun und den Reset-Button zu drücken. Und so haben wir eine Serie, in der die Eltern zweier Grundschulkinder erklären, wie sie sich als Jungspunde in den 1990er-Jahren kennengelernt haben, obwohl wir zuvor mit angesehen haben, wie die Kinder dieses Ehepaares durch die 1990er gewuselt sind.

Aber auch andere gezeichnete Ikonen durchlaufen dieses Dilemma: Ob Micky Maus, Donald Duck, Goofy und Co. oder deren turbulenten Kolleg:innen aus dem Warner-Studio, sie alle wurden zu einer Zeit populär, bevor die Eltern oder gar Großeltern von Millionen ihrer heutigen Fans überhaupt auf der Welt waren. Das bedeutet, dass seit Jahrzehnten das Image dieser Figuren feststeht und somit auch die an sie gerichtete Erwartungshaltung. Nicht nur älterer Fans. Wer in den frühen 2010er-Jahren solche Ikonen kennengelernt hat und sie heute weiterhin mag, hat eine gewisse Erwartung, dass diese Figuren, "die schon immer da waren", sich treu bleiben. Obwohl neue Fans nachwachsen. Doch so lief es schon in den 2000er-Jahren und in den 1990er-Jahren und in den 1980er-Jahren und so weiter, und so weiter. 

Hinzu kommt, dass gerade bei solchen Figuren wie der klassischen Disney-Truppe oder der chaotischen Warner-Gang, nur ein verschwindend kleiner Bruchteil ihrer Fans diese Schöpfungen allein aus Filmen, Serien und Comics kennt, die aus seiner eigenen Lebenszeit stammt. Weil der lang zurückreichende Katalog (wenigstens teilweise) immer und immer wieder verwendet wird, gewöhnt man sich mittels einem Mischmasch der Inkarnationen an seine liebsten generationenübergreifenden Trickstars. Menschenskinder, selbst Lustige Taschenbücher aus den 2020er-Jahren kommen mitunter mit mehrere Jahrzehnte alten (Deutschland-)Erstveröffentlichungen daher. Kein Wunder, dass für manche Disney-Fans der Anblick von Dagobert Duck, der ein Smartphone nutzt, immer noch ein Kuriosum darstellt, wenn nicht sogar einen Kulturschock. 

Doch diesem "Dagobert hat über sechs Jahrzehnte kein Smartphone genutzt, wieso sollte er heute eines nutzen?!"-Argument muss man entgegenstellen: Dagobert war schon immer eine Figur, die in der Gegenwart stattfindet! Carl Barks hat seine Disney-Comics nicht als "Historienstoffe" entwickelt und bewusst eine vergangene Epoche als Schauplatz gewählt, sondern sie in seinem Heute spielen lassen. Was zu einem ähnlichen Effekt führte, wie ihn später Die Simpsons durchmachen sollten: Tick, Trick und Track hätten am Ende von Barks' Karriere längst eine eigene Familie gründen können, blieben aber weiter die Kinder aus seiner Anfangszeit, obwohl die Zeit in Entenhausen nicht stehen geblieben ist, sondern sich Mode und Technologie weiterentwickelten.

Die Ducks, Micky Maus und Freunde, und auch die durchgeknallten Menschen und Tiere aus den Looney Tunes- und Merrie Melodies-Reihen existieren im Heute und sind dennoch ihrer langen Historie verpflichtet. Es ist ein Mindscrew-Widerspruch, den wir einfach akzeptieren müssen. Natürlich gibt es Ausnahmen: Italienische Disney-Comicschaffende lieben es, für einzelne Geschichten den altbekannten Kader an Figuren als Personen aus vergangenen Jahrhunderten zu besetzen. Und für Don Rosa spielten seine Comics in der Vergangenheit, so dass sie realistisch im Kanon mit Barks sein können (obwohl "realistisch" und "Kanon mit Barks" aus genanntem Grund auch nur hinhaut, wenn man die Augen ganz fest zusammenkneift, nicht zu lange nachdenkt und einige Comics ignoriert). 

Aber gemeinhin gilt: Diese Figuren müssen sich schrittweise aktualisieren, wenn sie relevant bleiben sollen. Und dennoch dürfen sie sich nicht zu sehr verändern, sonst sind sie ja nicht mehr wiederzuerkennen. Dann könnten die Film-, Serien- und Comic-Schaffenden ja gleich neue Figuren erfinden. Es ist ein Drahtseilakt: Was darf ins Heute wandern, was muss bleiben? 

Ein Beispiel: Donald Ducks Matrosenjacke war schon immer ein seltsames Kleidungsstück für einen jähzornigen Erpel auf dem Bauernhof / in der Kleinstadt / in der Großstadt. Aber es wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kurioser. Und dennoch möchte ich nicht, dass Donald dieses Jäckchen dauerhaft ablegt. Ich bin riesiger Verteidiger von Quack Pack, wo er ohne weitere Erklärung ein Hawaiihemd trägt. Aber diesen "Eingriff" in Donalds Ikonografie dulde ich in Quack Pack nur, weil es halt allein für diese eine Serie gilt.

Doch Dagobert, der ein Smartphone nutzt (entweder ein gebrauchtes oder aus eigener Herstellung, teure Konkurrenzprodukte würde er natürlich nicht fabrikneu erwerben!)? Goofy, der Online-Dating betreibt? Tick, Trick und Track, die ihr Taschengeld aufbessern, indem sie streamen, wie sie Videospiele spielen? Klar! Warum nicht? Das sind einfach neue Geschichten im Heute, keine Veränderungen des Charakters oder der Ästhetik.

Allerdings wurde neulich noch einmal deutlich, wie viele erwachsene Fans nicht so wie ich über ihre uralten fiktiven Stars denken, die sie schon aus ihrer Kindheit kennen. Denn ein Clip aus Space Jam: A New Legacy wurde in den sozialen Netzwerken härter verrissen als auf einer FDP-Parteisitzung der Gedanke, Mieten zu drosseln.

Zunächst einmal: Im Kontext des Films ergibt die Szene Sinn. Die Looneys müssen ein Basketballspiel gegen die Schergen eines machtgierigen Fieslings gewinnen, um ihre Haut zu retten. Mal wieder. Aber dieses Mal geben Kreativität und Style Bonuspunkte. Daher bekommt die Gegenseite überraschend wertvolle Punkte zugeschrieben, weil sie beiläufig etwas gesagt hat, das sich reimt. So ein "Huch, das hat sich ja gereimt, war keine Absicht!"-Verlegenheitsmoment. Wir alle hatten mal so einen. Den Looneys steht daraufhin der Gedanke klar in die Augen geschrieben: Aus dem Versehen müssen wir ein Rapbattle machen, um aufzuholen! 

Bugs Bunny schaltet von allen am schnellsten und drängt ein völlig unvorbereitetes Schweinchen Dick dazu, diesen sinnbildlichen Ball aufzunehmen. Das ist typisch Bugs. Er kann so seine eigene Haut retten und gleichzeitig wen in Verlegenheit bringen. Mit Schweinchen Dick alias Porky Pig (die Space Jam: A New Legacy-Synchro hat sich für den altbackenen deutschen Namen der Figur entschieden) hat er auf sogleich zweifacher Ebene das perfekte Opfer für diesen Moment gefunden: Der Ringelschwanzträger ist schüchtern und unter allen Looneys das, was am ehesten einem Spießer gleicht, also ist es für ihn extra unangenehm. Der Erwartungsdruck, das Basketballspiel für sich entscheiden zu müssen und daher auch beim ungeplanten Rapbattle zu überzeugen, raubt dem Schweinchen allerdings jegliche Option zu kneifen. Und da Porky eh rhyth­misch spricht, besteht die Aussicht, dass er über sich hinauswächst, wenn er erstmal bis zum Hals im kalten Wasser steckt.

Leute: Das passt schon! Ja, die Szene ist zu lang, sie schreit danach, ein rascher Gag in einem turbulent-chaotischen Basketballspiel zu sein. Aber darüber regt sich nahezu niemand auf. Der große Aufschrei dreht sich um 

Looney Tunes ... und Rap?! Darf das?! 

Warum nicht? The Notorious B.I.G. (der ganz offensichtlich primär wegen des Wortspiels "Notorious P.I.G. als Referenz gewählt wurde) landete vor 24 Jahren an der Spitze der US-Albencharts. Eine "Es ist peinlich, wie verzweifelt ihr euch auf etwas aktuelles stürzt, ohne zu wissen, ob es die Zeit überdauert"-Kritik kann man da nicht gelten lassen. Ebenso wenig lasse ich ein "Peinlich, ihr denkt, das ist aktuell, aber es ist schon längst verjährt" durchgehen. Notorious B.I.G ist seit bald einem Vierteljahrhundert tot und immer noch ein Begriff in der Musikkultur, und Rap wird so schnell auch nicht mehr irrelevant. 

Bliebe also höchstens "Das passt nicht zu den Looneys", aber ... wieso? Ja, Warner Bros. hätte die Figuren aus den Looney Tunes schon vor Jahrzehnten in Watte packen, einschweißen und auf dem Dachboden verstauen können, damit sie für immer und ewig genau so bleiben, wie sie damals waren. Den Weg ist man aber nicht eingeschlagen. Und die Looney Tunes können nicht für alle Zeit ausschließlich Referenzen auf Oper, Klassik, Jazz und Ragtime-Musik machen. Ja, das hat sich, weil sie dies zu ihren Glanzzeit getan haben, in ihre DNA gebrannt, es wäre schade, würden sie sowas nie wieder machen.

Aber ich halte "Lasst uns das Prinzip von damals wiederholen" für ebenso veritabel wie "Lasst uns dieselben Dinge von damals wiederholen". Denn, ja: Für Menschen meines Alters waren "Looney Tunes und Ragtime" schon immer ein Paar und sowohl die Warner-Cartoon-Reihe als auch die Musikrichtung schon immer "was von vor meiner Zeit". Doch ich möchte daran erinnern: Was wir beim Anblick von Looney Tunes- und Merrie Melodies-Cartoon als alt (und somit in manchen Augen und Ohren automatisch als Teil der Hochkultur) auffassen, war zum Produktionszeitpunkt dieser Filme naturgemäß aktueller. Und manchmal sogar neu.

In One Froggy Evening von 1955, der gemeinhin als einer der besten Cartoons aller Zeiten gilt, kommen einige Lieder vor, die damals schon altbewährte Klassiker ihrer Richtung waren. Doch zudem werden ein (bewusst altmodisch klingender) Originalsong und Kompositionen aus den Jahren 1921 und 1930 gesungen. Der jüngste alte Song in One Froggy Evening war damals also fast genauso alt wie es Notorious B.I.G.s Nummer-eins-Album heute ist.

Und während wir heute die vielen jazzbasierten Warner-Cartoons sehen und denken "Ah, ja, damals ... Jazz ... das war so kultiviert!" waren diese Kurzfilme zu ihrer Zeit ... nunja ... genauso aktuell und nah am Geschmack junger und musikalisch aufgeschlossener Menschen wie es heute Verweise auf Rapmusik sind. 

Will ich, dass Porky Pig dauerhaft zum Rapper wird? Nein, das passt nicht zu ihm. Aber dass es zu ihm nicht passt (charakterlich! nicht, weil er schon so lange existiert!) ist Teil des obigen Space Jam: A New Legacy-Gags. Regt euch liebend gern über die Umsetzung auf. Aber nicht über das Prinzip. Diese Figuren waren in ihren Glanzzeiten aktuell, wieso sollten sie nun reine Museumsexponate sein?

Samstag, 10. Juli 2021

Censor

Es war ein langer Kampf, aber die Video Nasties haben gewonnen, die billigen, schockierend expliziten Horrorfilme gegen die britische Moralhüter:innen und Behörden in den frühen 1980ern ins Feld gezogen sind. Denn 40 Jahre später wurde mit Censor ein Psychohorror mit britischen Fördergeldern finanziert, der sich liebevoll vor den Filmen verneigt, die im Vereinigten Königreich einst verteufelt wurden. Allein schon daher hat Prano Bailey-Bonds Langfilm-Regiedebüt Anerkennung verdient. Doch Censor hat darüber hinaus noch viel mehr Reize zu bieten.

Enid (Niamh Algar) arbeitet während der Video-Nasty-Ära als Filmzensorin. Während manche ihrer Kollegen etwas lascher urteilen und einige Gewaltspitzen durchgehen lassen wollen, weil sie einen künstlerischen Anspruch in den Horrorschockern erkennen, setzt Enid drastisch die Schere an. Als ein Serienmörder die Nachrichten dominiert und der Verdacht aufkommt, dass er seine Taten von Direct-to-Video-Horrorfilmen abkupfert, erhöht sich der Druck auf die Zenurbehörde: Die Gesellschaft (oder zumindest der lautstark-erbosten Teil von ihr) fordert zu ihrem Schutz strengere Eingriffe in weitere Horrorfilme. In diesem Stimmungsklima verliert Enid den Bezug zur Realität: Die Frau, die das spurlose Verschwinden ihrer Schwester nie verarbeitet hat, entwickelt eine Obsession mit den Filmen von Schockfilmer Frederick North, von dem sie sich Aufklärung in diesem Familienfall erhofft. Oder Rechenschaft für seine ekelhaften Werke. Oder beides ... 

Die erste Überraschung habe ich schon eingangs erwähnt: Wer hätte gedacht, dass je mit britischen Fördergeldern ein Film finanziert wird, der sich vor Video Nasties verneigt? Die zweite folgt sogleich: Obwohl Regisseurin/Autorin Prano Bailey-Bond und Autor Anthony Fletcher viel Liebe für schlonzige, siffige, explizite Horrorstreifen übrig haben, watschen sie nicht einfach diejenigen ab, die Altersfreigaben vergeben und in den 1980ern noch radikale Kürzungen anordneten. Fletcher und Bailey-Bond machen während ihrer Einblicke in das kulturelle Klima von damals und den Arbeitsalltag von Enid und ihren Kolleg:innen deutlich: Da saßen nicht nur verklemmte, dauerpanische Menschen vor den TV-Geräten und Leinwänden, die sämtliche Gewalt- und Sexszenen verstümmeln wollen, weil sie dachten, dass sie die Gesellschaft verderben.

Ja, unsere Protagonistin Enid ist so jemand. Aber sie hat Kolleg:innen, die Wertschätzung für jede Art von Film übrig haben, und es sich zur Aufgabe machen, für die Filme zu argumentieren. Und es gibt jene, die glauben, einfach nur ihre Arbeit machen zu müssen: "Die Gesellschaft verlangt eine Zensur, und unabhängig davon, ob wir sie befürworten oder nicht, als Jugendschutzbehörde ist es unsere Aufgabe, den kulturellen Forderungen unseres Landes Folge zu leisten, also versuchen wir, es im angemessenen Maße zu verfolgen." Ganz beiläufig wirft Censor also die Frage auf: Wer ist wirklich schuldig, wenn Filme zerstückelt werden? Die Jugendschutzbehörde oder die Gesellschaft (beziehungsweise der Gesellschaftsteil), die/der danach verlangt, verhätschelt zu werden?

Der Schwerpunkt von Censor liegt jedoch nicht auf dieser Beinahe-vielleicht-ein-wenig-Verteidigung von britischen Filmzensor:innen der 1980er. Vor allem ist es ein Psychohorror über Enid, die zwar mit großer Abneigung über Horrorfilme urteilt, sie jedoch auch ohne mit der Wimper zu zucken, gant gelangweilt wegkonsumiert. Jedenfalls, bis ihre Eltern in einem Gespräch ihr nie überkommenes Trauma noch stärker ins Bewusstsein rücken: Das Verschwinden (und den möglichen Tod) ihrer Schwester. Fortan erkennt Enid in allem, was sie sieht, einen Verweis auf ihre Schwester. Nun übt Horror eine größere Sogkraft auf sie aus. Sie verliert sich in ihnen, glaubt, dass diese Filme direkt zu ihr sprechen, und dass ihr Leben einem derartigen Film gleicht.

Während Enid den Bezug zur Wirklichkeit verliert, geraten die Formalien des Films ins Schlingern: 35mm-Aufnahmen und 8mm-Bildmaterial vermischen sich, auf Video gedrehte Szenen drängeln sich dazwischen, die staubige blau-grau-braune Lichtsetzung wird durch stilisierte Neonlichter aufgebrochen. Bandrauschen hebt sich unter die von erdrückender Leere geprägte Klangtapete von Censor.

Zu Beginn des zweiten Akts, wenn wir Enid und ihren Beruf bereits kennengelernt haben, aber ihr schleichender mentaler Zerfall noch nicht nennenswert eingesetzt hat, mäandert Censor ein wenig ... sofern man einem Film mit 84 Minuten Laufzeit, einem trocken-humorigen/dramatischen ersten Akt und einem famosen dritten Akt überhaupt sowas vorwerfen kann. Doch der eindringliche Schlussakkord und Enids leicht begreifbare, schwer zu durchschauende Charakterisierung heben Censor klar empor.

Enid ist oberflächlich leicht zu erläutern, aber ein Enigma, je tiefer man bohrt. Sie ist keine Abrechnung mit Moralaposteln, keine Entschuldigung ihrer Ansichten über Gewaltfilme, Enid lässt uns ratlos, doch zutiefst angespannt zurück. Und genau das sollte auch sein, um das Faszinosum extremer Horrorfilme zu würdigen: Ein bisschen Kopfkratzen gehört dazu. Klare Empfehlung für Genrefans.

Censor ist ab dem 29. Juli 2021 in deutschen Kinos zu sehen.