Dienstag, 28. Dezember 2021

Die schlechtesten Filme 2021

Alle Jahre wieder, gibt's hier im Blog das große Kopfschütteln. Denn wie könnte ich mich Jahr für Jahr durch Hunderte von Filmen ackern, ohne dabei bei einigen Titeln vor Frust und Missfallen jammernd Aufzustöhnen? Und auch wenn sich in den vergangenen Jahren in der Filmkritik-Blase ein Auflehnen gegen Floplisten entwickelt hat, so will ich an meiner Angewohnheit festhalten. Denn zum filmischen Jahresrückblick gehört es doch, nicht nur an die Glanzlichter zurückzudenken, sondern auch an die dunkelsten Schatten. Man muss ja beim Gedanken an diesen Graupen nicht direkt Schläge und Tritte unterhalb der Gürtellinie verteilen. Denn die Tendenz dazu ist doch ein viel größeres Problem als ein Sammelsurium der größten Schwachpunkte?

Bevor es losgeht, rasch noch ein paar obligatorische Anmerkungen: Der Titel dieses Eintrages ist nicht richtig zutreffend, es müsste "Die mir unliebsten Filme 2021" lauten, aber das klingt so ungelenk, dass ich lieber Jahr für Jahr erkläre, was ich meine, statt den Titel zu ändern. Denn ich gehe nach Ablehnhaltung, die ein Film bei mir ausgelöst hat, sei es durch verschenktes Potential, quälende Langeweile oder erzählerische/kunsthandwerkliche Inkompetenz. Außerdem kann ich natürlich nur das beurteilen, was ich auch gesehen habe, das erklärt sich ja wohl von selbst. So, los geht's!

Platz 10: Asphalt Burning (Regie: Hallvard Bræin)

Dank seines Status als Netflix-Originalfilm und der Beteiligung einiger deutscher Stars und Sternchen dürfte dies der hierzulande bekannteste Teil der am zweitinkonsequentesten betitelten Autoactionfilmreihe dieses Jahrtausends sein. Auf Borning: The Fast & The Funniest folgte Børning 2 - On Ice, und dann halt Asphalt Burning. Die norwegische Autorenn-Saga mit Witz und viel Familienkonflikt geriet in den ersten beiden Runden sehr charmant, doch Teil drei fährt alles an die Wand. Die etablierten Figurendynamiken werden unglaubhaft weitergeführt, das Dialogbuch hat sämtlichen Witz verloren und die Action fühlt sich ungeheuerlich bleiern an. Und das, obwohl mit dem Gedanken "Da können wir so schnell sein, wie wir wollen" durch Deutschland gebrettert wird. Gähnend langweilig.

Platz 9: LEGO Star Wars Gruselgeschichten (Regie: Ken Cunningham)

Ich erwarte von LEGO-Specials eigentlich nur eines: Dass sie lustig sind. LEGO Star Wars Gruselgeschichten hat mich nicht nur nicht zum Lachen gebracht, sondern mich derart gelangweilt, dass ich dachte, es sei ein zweistündiger Film, obwohl diese Nummer nur rund eine Dreiviertelstunde geht. Und manche der Gags sind so aggressiv schlecht, dass es mir noch für Stunden die Laune verhagelte. Einfach aggressiv mies.

Platz 8: Halloween Kills (Regie: David Gordon Green)

In Sachen Kameraführung, Lichtsetzung, Schauspiel, Sounddesign, Kostüm, Make-up und so weiter, und so weiter, ist dies klar der am fähigsten umgesetzte Film in meinem Flopranking. Aber die Balance aus erzählerischer Grundidee, dramaturgischer Ausarbeitung des Skripts und inszenatorischer Tonalität ist derart katastrophal, dass Halloween Kills dennoch der von mir am achtmissachteste Film des Jahres ist. Auf konzeptueller Ebene bin ich fasziniert von Greens Gedanken, im Sequel zu seinem wie ein Remake betitelten Halloween-Sequel inhaltlich das auszuerzählen, was das Filmerbe zuvor schon aus dem Serienkiller Michael Myers gemacht hat: Aus einem unerklärlichen, jedoch realistisch denkbaren Gewalttäter wurde sukzessive ein Mysterium, eine tödliche Chiffre, das Böse in Person. Dass also in Halloween Kills aus einer äußerst unwahrscheinlichen, trotzdem weitestgehend realistischen Killerfigur ein mythologisch angehauchtes Ungeheuer wird: Gern, meinetwegen, is' mal was Neues.

Jedoch ist das Slasher-Element von Halloween Kills so knochentrocken und sperrig erzählt sowie im Löwenanteil der Szenen so monoton inszeniert, dass der Film mir weder Thrill noch Spaß geboten hat. Und das, obwohl die Kills für sich betrachtet zum härtesten gehören, das das Halloween-Franchise abseits Rob Zombie zu bieten hat. Und leider ist es nicht so, als hätte Halloween Kills an anderer Stelle umso mehr zu bieten: Die Dialoge sind derart platt und haben solch eine Wachsmalkreide-Verkrampftheit, dass jeglicher Versuch, Halloween intellektuell auf einer Metaebene weiterzubringen, genauso flach fällt, wie die gallig-tumbe Anti-Mob-Mentalität-Gesellschaftskritik.

In anderen Händen hätte Halloween Kills mit dieser Grundidee ein Brett werden können. Ryan Murphy hätte ein campy-sündiges Vergnügen draus machen können, Christopher Landon eine clever-witzige Slasher-Dekonstruktion und Ari Aster hätte den bitteren Witz noch bitterer und das angedachte, verstörende Element auch wirklich zappenduster umsetzen können. So dagegen war Halloween Kills eine Geduldsprobe. Und das nicht auf die Weise, auf die Horrorfilme unsere Nerven strapazieren möchten.

Platz 7: Mosquito State (Regie: Filip Jan Rymsza)

Beim diesjährigen Fantasy Filmfest war die Durchschnittsqualität meiner Ansicht nach außerordentlich. Doch drei gewaltige Ausreißer nach unten gab es. Einer hat die Flops 2021 knapp verpasst, einer hat einen offiziellen deutschen Start für 2022 erhalten, und bei Festivalfilmen verfolge ich in meinen Jahreslisten ja die Regel "Wenn kurz vor Veröffentlichung ein deutscher Start abseits des Festivalzirkus feststeht, gilt der". Und dann ist da noch das Shudder Original Mosquito State, das bisher keinen deutschen Start hat und daher für mich mangels Alternative als 2021er-Film gilt. Die Grundidee ist denkbar simpel: "Was, wenn wir Wall-Street-Spekulanten als Blutsauger darstellen - DIE FILMMETAPHER" Als Kurzfilm hätte dies in der von Filip Jan Rymsza hier gebotenen, eisig-sauberen Bildstilistik super funktioniert, doch als Langfilm ist Rymszas Herangehensweise einfach nicht genug: Die Metapher ist schnell durchschaut, die Länge des Films verwässert die Aussage eher, als sie zu intensivieren, und letztlich habe ich mich nur noch vor Langeweile im Kinosessel gewälzt. Ziemliche Bankrotterklärung für einen Film, der mich eher unbequem zurücklassen müsste wie zahlreiche Mückenstiche.

Platz 6: Jiu Jitsu (Regie: Dimitri Logothetis)

Sterbenslangweiliger, stellenweise auf fast schon beleidigende Weise lieblos runtergefilmter Mix aus Action und Sci-Fi, in dem Frank Grillo und Tony Jaa verschenkt sind und Nicolas Cage in einer Handvoll Szenen ansteckend viel Spaß hat und somit im Alleingang Jiu Jitsu vor einer noch mieseren Platzierung bewahrt.

Platz 5: Nobody Sleeps in the Woods Tonight II (Regie: Bartosz M. Kowalski)

Der erste Nobody Sleeps in the Woods Tonight-Film ist eine wenig originelle, aber passable Slasher-Hommage irgendwo zwischen ständiger Verneigung vor unvergesslichen Genremomenten und reinem Ideenklau, der jedoch durch die neckisch-wendungsreiche Story zumindest annehmbar gerät. Teil zwei, der von ein paar halbseidenen Referenzen auf den Vorgänger abgesehen, praktisch ein In-Name-Only-Sequel ist, nimmt sich vor, das Genre vehementer auf links zu drehen und mischt Killersympathien mit dem Thema "Sinnlichkeit zwischen Monstern". Auch das sind keine völlig neuen Ideen, aber sie sind sehr wohl weniger abgenutzt als die Versatzstücke des Vorläufers, noch dazu in dieser Kombination. Wieso also landet dieser polnische Netflix-Horror in meinen Flops? Nun: Kowalskis interessante Idee gerät zur filmgewordenen Schlaftablette, weil die Figurenzeichnungen ultraflach sind, die Dialoge absolut frei von Witz, Stil oder Charakter und die Regieführung so steif wie ein Bügelbrett, während bildästhetisch "ohne Blitz mit einer Wegwerfkamera in einer Tropfsteinhöhle fotografiert" als Vergleich angebracht ist. Das große Gähnen, im Tandem mit dem enttäuschten Seufzen "Diese Idee hätte was werden sollen".

Platz 4: Happy Family 2 (Regie: Holger Tappe)

Pro: Joko Winterscheidt haut hier als Synchronsprecher echt einen raus.

Contra: Praktisch alles andere. Eine Spannungskurve wie ein vor Wochen umgekippter Besenstiel, eine Figurenanimation, die auf Automatik zu laufen scheint ("solange die Augen alle paar Sekunden blinzeln reicht das für's Gesicht, oder?") und eine Story, die die Sequel-Plage "Komm, wir lassen die Figuren einfach nochmal das Problem und die Lektion aus Teil eins durchlaufen" mit "Öh, irgendwas mit höher, schräger, weiter?!" verquickt. Grausig.

Platz 3: The Reckoning (Regie: Neil Marshall)

Mein Fantasy-Filmfest-Flop 2020 erhielt 2021 seinen offiziellen deutschen Start, und auch mit dem großen Abstand hat sich meine Frustration über dieses Machwerk nicht gelegt. Marshalls "Ist sie eine Hexe oder gibt es Hexen nicht, und ich will einfach nur die Machtgeilheit der Kirche und des Patriarchats vorführen?"-Thriller ist ein Paradebeispiel der inszenatorischen Doppelzüngigkeit: Um seine Horrorwurzeln nicht zu verleugnen, unterwandert Marshall die auf dem Papier so geradlinige "Die Frau ist unschuldig und Opfer einer selbstgefälligen Machtnummer der Männer um sie herum"-Erzählung mit ambivalenten Genreeinflüssen, die übernatürliche Deutungen des Stoffes zulassen. Und der ganze feministische Grundgedanke dieser Handlung wird durch die Kameraführung, die Bildästhetik und die Inszenierung von Marshalls Lebensgefährtin in der Hauptrolle ad absurdum geführt:

Charlotte Kirk räkelt sich sauber rausgeputzt in lasziven Mittelaltermarktkostümen, als sei sie Teil eines Fotoshootings der Sports Illustrated Renaissance Fair Edition. Fehlen nur noch lauter abgemischtes Stöhnen auf der Tonspur und eine "Bowchickawowowow"-Originalmusik für's Softcore-Privatfernsehen-Nachtprogramm. Weißte, wenn du deine Partnerin angesext in einem Erotikfilm in Szene setzen willst, dann mach's halt, aber schnell doch nicht zu Boden, indem du das und einem diesen Gedanken völlig entgegengesetzten Film im selben Atemzug verbrichst!

Platz 2: Aquaslash - Vom Spaßbad zum Blutbad (Regie: Renaud Gauthier)

Eine Wasserrutsche wird zur Todesfalle. Geile, simple, trashig-launige Idee. Was kann da schon schiefgehen? Naja, einfach alles, was über das Verkaufsargument hinausgeht: Grottiges Schauspiel, ein Drehbuch, das Horrorpartystimmung versprühen müsste, aber stattdessen von Minute eins an tot im Chlorwasser schwimmt, ein schwammiger Schnitt und spröde Uninspiriertheit machen alles vor dem blutigen Finale zur Geduldsprobe. Das blutige Finale ist dann sogar ganz lustig, aber es reicht völlig, den Trailer zu schauen. Der bietet alles, was Aquaslash zu bieten hat, ohne den Murks drumherum.

Platz 1: Buddy Games (Regie: Josh Duhamel)

Ich bin den Grown Ups-Filmen wohl fast eine Beinahe-Entschuldigung schuldig: So unangenehm ich die Chaos-Freundesgruppe aus Adam Sandlers "Ich will einfach mit meinen Buddys abhängen"-Filmen auch finde, die sind absolute Musterschüler im Vergleich zu den keinerlei Chemie miteinander aufweisenden Mistkerlen aus Buddy Games. Josh Duhamels Regiearbeit ist eine Art "Grown Ups trifft Catch Me!", nur dass sämtliche Schwächen aus den Adam-Sandler-Abhängkomödien potenziert werden, die Story von Catch Me! (einmal im Jahr stärken Freunde ihre ansonsten allmählich schwindende Bindung zueinander mit einem absurd eskalierenden, kindischen Wettkampf) aufgebrummt bekommen und sämtliche Stärken des Jeremy-Renner-Vehikels auf der Strecke bleiben.

Dass die Typen in Buddy Games nicht im Geringsten Typen sind, mit denen ich abhängen wollte? Geschenkt, ich würde auch niemals mit dem Hangover-Wolfsrudel Junggesellenabschied feiern wollen, da muss man ja um seine Gesundheit, seinen ganzen Lebensentwurf, wenn nicht sogar ums Leben bangen! Aber zwischen ihnen besteht eine witzige Reibung, die dank Todd Phillips' hochwertiger Regie spaßig anzuschauen ist. Und Catch Me! vereint Reibung und glaubwürdig wirkende, enge Bindung zwischen den Freunden mit Selbstironie, Herz und herrlicher Albernheit.

In Buddy Games dagegen glaube ich den Figuren nicht eine Sekunde lang, dass sie Freunde sind, unentwegt ätzt eine Abneigung zueinander aus ihnen heraus, die sich durch deren nerviges Gehabe nur potenziert und mich durch die von Duhamel spürbar intendierte "Na? NA?! COOL, ODER?!"-Brudi-Darstellung richtig wütend macht. Da fallen die propagierten Männer- und Frauenbilder aus der Hölle direkt doppelt schwer ins Gewicht. Kein Film 2021 hat mich mehr damit kämpfen lassen, ihn auszuhalten, als Buddy Games, und dafür gibt es die Flop-Spitzenposition!


Das waren natürlich längst nicht alle Graupen 2021, aber um das Ganze abzurunden, seien zwei gesondert erwähnt, ehe über den Rest der Flops der Mantel des Schweigens gehüllt wird. Zunächst: Mein Beinahe-in-den-Flop-10-gelandet-Filmfestkandidat John and the Hole, eine lästig-grobschlächtige Pubertätssinnkrisemetapher, gehüllt in einem Thrillergewand ohne Thrills, über einen Jungen, der seine Familie in einer Baugrube zurücklässt.

Und dann natürlich Der Duft von wildem Thymian mit Emily Blunt und Jamie Dornan, der unschuldig-banal beginnt und alsbald so hirnrissig-pathetisch und chaotisch-kauderwelschig wird, dass er einmal mit Anlauf auf einen Flop-Podestplatz zu rennt und dann wieder die Kurve kriegt und als "So unfassbar dumm, dass es wieder Spaß macht" endet. Ein Film, um ihn einmal im Jahr feucht-fröhlich zu begießen und sich über ihn zu wundern! Na, schönen Dank auch!

Sonntag, 28. November 2021

Mehr als ziemlich beste Feinde – Die Faszination Joko und Klaas

Joko und Klaas schicken wieder Stars rund um den Globus, damit sie mit ihnen das „Duell um die Welt“ austragen. Anlass für Antje Wessels und mich, den Erfolg des Entertainer-Duos zu untersuchen. (© ProSieben/Jens Hartmann)

Rufen Leute aus deinem Umfeld manchmal zusammenhanglos „Alabama“, finden Dinge ständig „unverhältnismäßig“ und warnen einander, dass sie „privat schlecht drauf“ sind? Herzlichen Glückwunsch: In deinem Freundeskreis befinden sich Fans von Joko und Klaas. Für den (unwahrscheinlichen) Fall, dass sich bisher niemand angeschickt hat, dich in die Faszination von Joko und Klaas einzuführen, obwohl du gerne endlich die Fragezeichen über deinem Kopf loswerden möchtest, bist du hier genau richtig. Denn wir möchten anlässlich des Starts der neuen „Duell um die Welt“-Staffel dem Erfolgsrezept des Duos auf den Grund gehen – und dir Neuling ein paar Insider verraten.

Der pompöse, irre Wettstreit

Wenn am kommenden Samstag, den 4. Dezember um 20:15 Uhr bei ProSieben die Show „Das Duell um die Welt“ auf die Bildschirme zurückkehrt, dann erlangt das oft kopierte, nie erreichte Format seine bereits neunte Staffel. Oder aber seine vierte. Je nachdem, wie genau man es nimmt. Denn zunächst haben sich Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt unter dem Titel „Joko gegen Klaas – Das Duell um die Welt“ von 2012 bis 2017 in 13 Ausgaben halsbrecherische Duelle geliefert, für die sie rund um den Erdball gereist sind.

Seit November 2018 treten die (vermeintlichen, aber dazu nachher mehr) Dauerkontrahenten lieber einen Schritt zurück und duellieren sich bloß noch im Studio, während sie prominente Freund:innen und Kolleg:innen auf Reisen schicken, bei denen es krasse, irre und/oder durchgeknallte Aufgaben zu erledigen gilt. Seither heißt die Show „Das Duell um die Welt – Team Joko gegen Team Klaas“ und zeigte unter anderem schon Moderator Steven Gätjen, der sich eine neue Identität als Schlager-Metal-Sänger aufbauen und damit auf einer Kink-Party behaupten musste. Oder auch Bestsellerautorin Charlotte Roche, wie sie sich Haken in den Rücken stechen ließ, um daran ein Bungeeseil zu befestigen und sich in die Tiefe zu stürzen.

Und das führt bereits vor, wie groß die Anziehungskraft von Joko und Klaas ist: Es müsste ja eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sein, Medienprominente, deren Zuhause Rote Teppiche und kuschelige Fernsehstudios sind, für solche Experimente wie Eistauchen, Sich-erschießen-lassen oder Nachts-in-der-Savanne-Übernachten zu finden. Nicht umsonst begnügen sich die meisten Joko-und-Klaas-Trittbrettfahrer-Formate mit solchen Aufgaben wie „Koche ein Rezept, das du nicht kennst … im Ausland!“ oder „Hier sind sehr, sehr schräg aussehende Actionspiele, macht euch im Studio mal zum Affen“. Und während manche dieser Kopien immerhin klasse produziert sind, lassen andere optisch sowie in Sachen Star-Qualität zu wünschen übrig.

Doch „Das Duell um die Welt“ bietet allein in dieser Staffel unter anderem Moderatorin Linda Zervakis, Musiker Michi Beck und Schauspielerin Collien Ulmen-Fernandes – die Promidichte ist also einmal mehr bemerkenswert. Man möchte glauben, die Bereitschaft, sich vor laufender Kamera Mutproben zu stellen, hat direkt mit den beiden Gastgebern selbst zu tun …


Die Geschichte Zweier, die auszogen, sich das Siegen zu lehren

Daher nun ein bisschen Geschichte: Klaas Heufer-Umlauf und Joko Winterscheidt machen seit 2009 gemeinsam Fernsehen. Es fing an mit der MTV-Show „MTV Home“, und auch wenn bei ihr noch ein großer Anteil „Musikfernsehen-Talkshow mit jugendlichem Zielpublikum“ in der DNA steckte, so gaben die 85 Folgen „MTV Home“ bereits deutlich die Marschrichtung für Joko und Klaas vor. Damals agierte Palina Rojinski als Sidekick der Beiden – und nicht nur, dass sie fortan in fast jeder folgenden Show des Duos in unterschiedlicher Kapazität mit von der Partie sein sollte: Eine beliebte Rubrik bestand daraus, dass Palina im Auftrag ihrer Chefs dämliche oder gar brisante Aufgaben bestehen musste.

Außerdem brach „MTV Home“ gelegentlich in fast schon filmreife Anflüge der Selbstreflexion und Selbstironie aus: In einer Folge von „MTV Home“ verlässt ein nachdenklicher Klaas nach einem Saufspiel („Macht doch mal wieder was mit Saufen!“ sollte ein beständiger Fanwunsch in der Karriere von Joko und Klaas werden) das Studio und hühnert von epochaler Filmmusik begleitet auf die Dachterrasse. Dort starrt er sinnsuchend ins Leere, bevor ihm Gott (in Form von Klaas selbst) süffisant grinsend Antworten gibt und die Leviten liest. Groben Schwachsinn machen und ihn dann rekontextualisieren? Das ist eine Waffe im Arsenal von Joko und Klaas, die später bei „neoParadise“ noch häufiger zum Einsatz kommen sollte.

Die ZDFneo-Sendung, die von 2011 bis 2013 lief, sollte außerdem beliebte „MTV Home“-Rubriken fortführen, weiterspinnen und noch populärer machen. Diese drehten sich vor allem um Wettbewerbsmentalität: In „Aushalten“ (oder auch: „Bis einer heult“) und „Wenn ich du wäre“ geht es darum, wer eine nervende, eklige oder riskante Challenge länger erduldet beziehungsweise bei einem gemeinsamen öffentlichen Auftritt zuerst abbricht, weil ihm die von seinem Kollegen gestellten Miniaufgaben zu peinlich werden.

Bei diesen Aktionen wurden auch einige der Joko-und-Klaas-Insider geboren – wie der Ausruf „Alabama!“, der als Safeword funktioniert und einen sofortigen Abbruch einfordert. Oder auch „privat schlecht drauf“, womit ein gereizter Part des Duos seinem Kollegen und der restlichen Crew signalisiert: „Ich meckere gerade nicht so laut und aggressiv, weil ich eine Show abliefern will – ich nehme euch das gerade wirklich übel! Packt also endlich die Samthandschuhe aus, sonst wird das nach dem Dreh unangenehm!“

Bei der „neoParadise“-Nachfolgeshow „Circus HalliGalli“ wurden die Aktionen von Joko und Klaas einerseits immer aufwändiger (das Ziel, seinem Moderationspartner den schlimmsten Tag seines Lebens zu bescheren, wurde mal mit Helikopterflügen und mehreren Komplizen, die ein doppeltes Spiel spielen, verfolgt), andererseits aber auch erwachsener. Oder sagen wir: Weniger pubertär.

Während sich Joko und Klaas auf MTV (zu immenser Freude der damaligen Fanbase) gegenseitig Pornotitel vorgelesen haben, um sich zum Lachen zu bringen, wurde bei der von 2013 bis 2017 gezeigten ProSieben-Show „Aushalten: Nicht lachen“ zum Fanliebling. Dort sitzen sich Joko und Klaas gegenüber und versuchen, einander mit Witzen und Sketchen (mitunter unterstützt von Leuten wie Nora Tschirner oder Matthias „Matze“ Schweighöfer) Lacher zu entlocken. Wer häufiger lacht, verliert. So simpel, aber so effektiv.

Die Unterüberschrift hat die Deadline verpasst

Simpel, einfach, reduziert, auf das Wesentliche konzentriert – all diese Termini sagen letztlich Ähnliches aus; und fassen eines der wohl wichtigsten Geheimrezepte für den Erfolg diverser Joko-und-Klaas-Formate zusammen. Die Anstrengungen, die das Moderatorenduo seit 2009 unternimmt, um das Publikum zufriedenzustellen, sind zwar mit den Jahren spektakulärer geworden („Wenn ich du wäre“ macht Platz für „Das Duell um die Welt“). Aber: Wenn Joko und Klaas eine Sendung machen, so lässt sie sich doch stets leicht zusammenfassen. Ganz egal, wie viele Eigenheiten, Besonderheiten und Verrücktheiten noch dazukommen, der Kern eines jeden Formats ist sehr zugänglich und verständlich.

Und auch die Dynamik zwischen den Entertainern mag insgesamt komplexer sein (dazu später mehr), aber zunächst gilt ganz einfach: Prallen die gegensätzlichen Mentalitäten der Zwei aufeinander, sind die daraus entstehenden Reibereien fast wie von alleine lustig. Jokos Humor ist schräger und spritziger als Klaas' Sarkasmus und Trockenheit. Joko geht auf ihm fremde Menschen sofort zu, Klaas geht zunächst auf Abstand. Joko hat Höhenangst, Klaas nicht. Man ist unterschiedlich genug, dass es zu Funken kommt, aber ähnlich genug, dass man gut zusammenpasst. Da ist es egal, ob das in einem Kölner, Münchener oder Berliner Fernsehstudio geschieht. Oder im fernen Nepal, wo Klaas mit Joko, der nach dem Genuss eines ganz besonderen Honigs völlig am Rad dreht, eine Reisedoku drehen soll.

Dass man es aber nicht einfach auf „Die Zwei kabbeln sich, das reicht für eine Show“ beruhen lässt, sondern erstens so schräge Ideen wie besagte „Reisedoku in Nepal auf Honigdroge“ verfolgt, und zweitens große wie kleine Einfälle denkwürdig umsetzt, führt uns zur nächsten Geheimzutat von Joko und Klaas: Es ist der Ehrgeiz der Florida Entertainment GmbH, ebenjener TV-Firma, die Joko und Klaas 2011 in Kooperation mit Endemol gründeten, um ihre TV-Formate fortan selbst zu produzieren, und 2019 zu einer eigenständigen Produktionsschmiede formten.

Das kurz Florida TV genannte Haus verantwortete von 2012 bis heute unter anderem solche Entertainment-Flaggschiffe wie „Das Duell um die Welt“, „Die beste Show der Welt“ (Joko und Klaas duellieren sich darin, wer die bessere Fernsehshow erfindet) oder „Joko & Klaas gegen ProSieben“. Außerdem entstanden Sendungen für Palina (in „Inside – Unterwegs mit Palina“ muss sie die Essenz einer fremden Großstadt erfassen – komplett ohne Reise-Taschengeld) und weitere prominente Freund:innen der Firma (in „In the Box“ fühlte sich zunächst Olli Schulz in fremde Lebensrealitäten ein, später waren es wechselnde Stars).

Neben wiederkehrenden Konzepten (beispielsweise wurde die „Circus HalliGalli“-Rubrik „Mein bester Feind“, in der Freunde Freunde für waghalsige Stunts anmelden, zwischenzeitlich zur eigenen Primetimeshow) und einer enormen Wahrscheinlichkeit, dass Joko und/oder Klaas in der Sendung eine Rolle spielen, gibt es bei der Florida auch weitere Konstanten. Florida-Formate sind mit großem Aufwand produziert (so wurde es in der TV-Branche zum Running Gag, dass Leute aus so manch anderen Häusern die Florida schockiert fragen: „Wieso macht ihr es euch so schwer?“), verkneifen sich nur selten eine gezielt gesetzte Film- oder Serienreferenz, und sowohl Selbstironie als auch Metahumor sind häufig genutzte Werkzeuge im stilistischen Werkzeugkasten dieser Entertainmentschmiede.


Das erweiterte Joko-und-Klaas-Universum

Diese Konstanz im Output der Florida ist auch dem zu verdanken, dass es hinter den Kulissen eine nennenswerte Kontinuität gibt. Und während es einst allein eingeschworene Fans waren, die sich über jeden Randauftritt von Leuten wie Tonmann „Frank Tonmann“ oder „Gäste-Bookerin Katha“ freuten (oder darüber augenzwinkernd ärgerten), haben es mittlerweile zwei alteingesessene „Florida-Nasen“ zu einer breiteren öffentlichen Wahrnehmung gebracht: Autor, „Late Night Berlin“-Sidekick (und „Bandleader“) sowie Produzent Jakob Lundt und Florida-Geschäftsführer, Technikfreak, Filmfan, Regisseur und Schlauchbootbesitzer Thomas Schmitt.

Die Zwei sind gemeinsam mit ihrem langjährigen Weggefährten Klaas Bestandteil des erfolgreichen Podcasts „Baywatch Berlin“. Was Ende 2019 als eine Art akustisches „Late Night Berlin“-Begleitmagazin begann, hat sich längst als eigenständiges Audio-Comedyformat etabliert und wurde beispielsweise von Comedyautor Micky Beisenherz als die aktuell beste Unterhaltungsproduktion Deutschlands bezeichnet.

In „Baywatch Berlin“ werden Anekdoten aus der gemeinsamen Karriere der Drei besprochen (von „Wie cool war bitte dieser Hollywood-Star drauf?“ bis „Wir wurden dank einer logistisch katastrophalen Sendungsaufzeichnung, bei der Teile Crew vor Drehschluss übermüdet nach Hause gegangen sind, zum Gespött der Branche!“). Es werden die Vor- und Nachteile des Prominentseins beleuchtet, private Freuden und Ärgernisse breitgetreten und aktuelle Ereignisse kommentiert. Und das auf so lustige, sympathische Weise, dass mittlerweile „Late Night Berlin“ mitunter Bezug auf „Baywatch Berlin“ nimmt – und nicht umgekehrt.

Joko Winterscheidt hat mit „Baywatch Berlin“ derweil eigentlich nichts zu tun – es sei denn, er ist mal als (Überraschungs-)Gast anwesend oder Gesprächsthema –, sondern betreibt schon seit 2017 zusammen mit Freund und Fotograf Paul Ripke seine eigene Audioshow „Alle Wege führen nach Ruhm“. Der „Karrierepodcast für Berufsjugendliche“ gehört ebenfalls zu den erfolgreichsten Podcasts Deutschlands und reicht thematisch von Alltagsanekdoten und Behind-the-Scenes-Erzählungen bis hin zu ihren gemeinsamen Interessen Radsport, Ernährung und Start-ups. Die getrennten Podcasts sind nur konsequent: Mit dem Ende von „Circus HalliGalli“ kam es auch zu einer Zäsur in der gemeinsamen Karriere von Joko und Klaas.

Nun, ohne wöchentliche, gemeinsame Show, begrenzen sie ihre gemeinsame Arbeit vor den Kameras im Regelfall auf große Primetime-Events, und führen öfter solo durch Unterhaltungssendungen. Während Klaas wöchentlich „Late Night Berlin“ moderiert, hielt Joko den alleinigen Moderatorenposten in der sportlichen Wettbewerbsshow „Beginner gegen Gewinner“ sowie der Musikshow „Win your Song“ inne. Wichtiger noch: Sei Anfang 2021 beweist er mit „Wer stiehlt mir die Show?“, wie viel Entertainment in ein Quizformat passt. Und er stellt einmal mehr seinen großen Teamgeist unter Beweis, gibt er doch Staffel für Staffel anderen Namen eine Bühne, um ihm kräftig die Show zu stehlen. Mit sehr, sehr kurzweiligem Ergebnis.

Apropos Teamgeist: „Die hassen sich ...“

Bereits als sich Joko und Klaas zeitweise in nahezu jeder Ausgabe ihrer verschiedenen Sendungen gegenseitig in die Pfanne hauten, nahm die Presse das zum Anlass, immer und immer wieder darüber zu spekulieren, dass die Zwei bloß eine berufliche Zweckbeziehung haben. „Die hassen sich wirklich“, so das Mantra, das respektvollere Publikationen in Interviews und Features hinterfragt und boulevardeske Portale stets mit großem Anlauf verfolgt und nachgeplappert haben.

Und spätestens, seit „Circus HalliGalli“ beendet wurde, ist es nur schlimmer geworden. Da können sich Joko und Klaas noch so oft in „Joko & Klaas gegen ProSieben“ umarmen oder gar aneinander kuscheln. Und dass Klaas einmal mit einem Besen auf Joko und die wunderbar schlagfertige Moderatorin Jeannine Michaelsen losging, um sie in einem Moment der kollegialen Innigkeit zu trennen, fiel auch nur Hardcore-Fans auf (die wiederum dafür sorgen, dass das nie, nie, niemals in Vergessenheit gerät).

Es bringt einfach zu viele Klicks, auf ein weit über seine Zielgruppe hinaus bekanntes Duo zu zeigen, und zu behaupten: „Die finden das gar nicht schön, zusammen zu arbeiten!“ Da werden dann auch liebend gerne Interviewaussagen aus dem Kontext gerissen oder um ihre deutliche Ironie erleichtert. Eine neue Welle an „In Wirklichkeit hassen sich Joko und Klaas“-Berichten wurde losgetreten, als die Zwei im Sommer 2020 in Frank Elstners Netflix-Show „Wetten, dass war’s..!?“ (in getrennten Ausgaben) über ihr privates Verhältnis sprachen. Aus der Nacherzählung, dass man sich während der „HalliGalli“-Ära nicht mehr sonntags privat treffen und ausgiebig unterhalten konnte oder wollte, weil man sich beruflich eh montags bis samstags sprach, wurde der „Beweis“ gesponnen: „Die können sich nicht mehr ab“.

Dabei war es bloß als Beweis dafür gemeint, dass zwangsläufig auch bei Joko und Klaas die Entwicklung eintrat, die immer eintritt, wenn man einen Großteil seines Lebens gemeinsam verbringt: Der Gesprächsstoff geht aus, und manche Macken hat man vorerst über. Manche werden das bedauerlich finden. Was jedoch auf überraschende Weise charmant ist: Selbst nach vielen Jahren im Rampenlicht sind Joko und Klaas noch immer ehrlich erstaunt, welche Wellen ihre Aussagen schlagen.

Von Florida-Geschäftsführer „Schmitti“ in „Baywatch Berlin“ mahnend angesprochen, man müsse endlich aufpassen, was man wie in Interviews sagt, weil sonst die Gerüchteküche überkocht, reagierte Klaas völlig verdattert und betonte (mit liebevoller Neckerei in der Stimme), dass Joko doch für ihn der „Bruder, den er nie wollte“ sei. Bei seinem „Baywatch Berlin“-Gastauftritt wurde dieser Nichtwunschbruder dann für Klaas spontan zum „Wintermausimann“. (Hier darf man sich beliebig viele Herzchen vorstellen, die Klaas stimmlich in das Wort gelegt hat.) Und auch Joko hält mit seiner Sympathie für Klaas – sowohl vor als auch hinter der Kamera – nie hinterm Berg.

Doch bei aller Liebe füreinander, müsste man ja nicht aufeinander hocken und die Zugkraft gemeinsamer Auftritte überreizen, wenn man sich doch einzeln entfalten und die weiterhin absolvierten Zusammenarbeiten wieder stärker auskosten kann. „Gesund“ nannte Frank Elstner, der anders als zahlreiche Berichterstatter:innen bei Jokos und Klaas' Aussagen hingehört hat, diese Fähigkeit zur Selbstreflexion.

„Ziemlich beste Feinde“ nennen wir Joko und Klaas daher mit floridaesker Irreverenz und freundlicher Ironie in unserer Überschrift. Dabei ist es doch eigentlich ein Widerspruch in sich, einen solch negativen Begriff wie „Feind“ mit einem positiven Adjektiv zu belegen. Im Falle von Joko und Klaas stimmt es aber. Denn die freundschaftlich-feindselige Interaktion, die die Beiden insbesondere bei Wettkampfformaten (egal, ob sie gegeneinander kämpfen oder sich bei Kooperationen necken) an den Tag legen, ist eben nur deshalb so erfolgreich und stark (= lustig), weil die beiden Moderatoren ihr Gegenüber genau kennen.

Beide nutzen gezielt die Schwächen (und Stärken) des jeweils Anderen aus, um etwa bei „Das Duell um die Welt“ gegenseitig das Optimum an amüsanter Reaktion aus sich herauszukitzeln. Wer ist der Beste (oder nun: Wer ist der Beste und hat zudem das beste Team?) und darf daher den Anderen in der nächsten Ausgabe mit einem prahlerischen Weltmeister-Studioeinmarsch in Staunen versetzen?

Geadelt von ihrem Idol

Wie schon angedeutet: Dieses Prinzip funktioniert auch, wenn die Zwei vor der Kamera an einem Strang ziehen. Seit 2019 duellieren sich Joko und Klaas mit dem übermächtigen Gegner ProSieben, verkörpert von diversen Freund:innen des Hauses. Unter der Führung von Moderationsallrounder Steven Gätjen, der in „Joko & Klaas gegen ProSieben“ seine schnippische Seite Galopp laufen lässt, packen die Zwei ihren Wettkampfeifer zusammen, um einer Strafe ihres Heimatsenders zu entgehen und 15 nach eigener Laune gestaltete Livesendeminuten zu gewinnen. Dieser Kampf „Entertainer gegen Sender“ mündet in viel Harmonie, aber auch in brüderlich geäußerten Frust – je nach Ablauf der Spiele und letztlich der Show.

Und so herrlich-bescheuert es ist, wenn sich erwachsene Männer verstecken, anbrüllen, dämlich verkleiden oder Fans vermeidend durch Berlin manövrieren: „Joko & Klaas gegen ProSieben“ wurde schon mehrfach Sprungbrett für die verantwortungsvolle, sozial engagierte Seite des Duos, das sich beispielsweise schon in „Circus HalliGalli“ einander küssend gegen Homophobie stark machte.

Zwar nutzen Joko und Klaas etwaig gewonnene 15 Liveminuten auch ab und zu für anarchischen Quatsch wie einen Audiokommentar des RTL-Programms oder den Museumsbesuch eines Schweins. Denn ein Schuss Unberechenbarkeit muss sein, damit die Masse neugierig einschaltet. Vermehrt nutzen sie die 15 Minuten der freien Sendegestaltung allerdings für etwas Wichtigeres: Um auf Missstände aufmerksam zu machen. Und das auf dem besten Programmplatz, den der Privatsender ProSieben zu bieten hat.

Am 13. Mai 2020 etwa überließen sie Sophie Passmann, Palina Rojinski, Katrin Bauerfeind, Jeannine Michaelsen, Visa Vie, Stefanie Giesinger und Collien Ulmen-Fernandes die Bühne, damit sie das TV-Publikum mit den Auswirkungen von Sexismus konfrontieren. Am 31. März 2021 wiederum wurde die gesamte Schicht einer Pflegekraft des Universitätsklinikums Münster ausgestrahlt. Es ist die andere Seite von Joko und Klaas sowie der Florida Entertainment GmbH, die sich immer dann politisch positionieren, wenn es notwendig ist. Statt erwartbarer Blödelei tragen Joko und Klaas plötzlich mit derselben Aufrichtigkeit wichtige weltpolitische Anliegen nach draußen. Und vielleicht ist das das ultimative Geheimnis des Duos.

Denn manch ein Projekt mag hinsichtlich der Einschaltquoten enttäuscht haben, und der Pressekonsens fluktuiert ständig, ob Joko und Klaas (selbst im Alter von bald/über 40 Jahren) „die jungen Wilden“ der TV-Branche sind, ihr Untergang oder ihre letzte Rettung. Sind sie Blödelheinis oder Qualitätsgaranten, die für Anspruch und Herz im Deppengewand sorgen? Oder alles zugleich? Doch es muss ja einen Grund haben, dass Thomas Gottschalk die Beiden in jüngeren Jahren in zunehmen kleineren Abständen als lobenswerten Teil der TV-Speerspitze adelte, sowohl in ihrem Entertainment als in ihrer Haltung. Was für eine unerwartete Ehre für Joko und Klaas, die wiederholt erklärten, dass er das Moderationsidol ihrer Kindheit war! Und diese Ehre wird er sich nicht an den Locken herbeigezogen haben: Ein Thomas Gottschalk verstellt sich nicht, der ist, wie er ist – im Schlechten wie im Guten. Und auch bei Joko und Klaas lautet das Zauberwort konsequenterweise: Aufrichtigkeit.

Alles, was Joko, Klaas und ihre im Hintergrund agierenden Mitarbeiter:innen unternehmen, steckt voller Herzblut, Arbeit, Leidenschaft und impliziert dabei trotzdem immer wieder die Möglichkeit des Scheiterns. Als Joko Winterscheidt im Vorfeld von „Wer stiehlt mir die Show?“ zu verstehen gab, dass die Showidee, den Teilnehmenden als Preis seinen Moderatorenjob (!) zu überlassen, vielleicht „die dümmste Idee“ sei, die er je hatte, und dass der Sender sie genau deshalb angenommen hat … Dann war das kein billiger Versuch, um beschwichtigende Komplimente zu erhaschen, oder zusätzlich Aufmerksamkeit für die Show zu generieren.Es war ein weiterer Ausdruck dieser Entertainment-Gang, dass es ihr schlicht darum geht, ihren Drang zur Unterhaltung nach ganz eigener Laune und Form zu verwirklichen. Wahrlich weltmeisterliche Absichten ... 

Das Duell um die Welt – Team Joko gegen Team Klaas“ startet am Samstag, 4. Dezember 2021 um 20:15 Uhr, live auf ProSieben und auf Joyn in die neue Staffel.

Dieser Artikel ist eine aktualisierte Neuveröffentlichung eines Beitrags für ein mittlerweile eingestelltes Onlineportal. Er wurde zusammen mit Antje Wessels erfasst, die aber nicht mit in der Autorenzeile genannt werden konnte, weil das System davon überfordert war. Dafür bekommt sie eine frühe, als Bildunterschrift dienende sowie diese späte, aber dafür hoffentlich in Erinnerung bleibende, kursiv geschriebene Nennung. So als Ausgleich. Keine Sorge, wir haben das abgesprochen. Sie wird also nicht privat schlecht drauf sein.

Samstag, 20. November 2021

Ein Loblied auf den "neuen" Phantomias

Ein Zeitreisender will eine zahlreiche Menschenleben kostende Explosion abwenden, doch die Polizisten der Zeitbehörde möchten nicht, dass dieses vorbestimmte Ereignis verhindert wird. Egal, wie schrecklich es ist. Ein idealistischer, aber kompromissfeindlicher Wissenschaftler will die zugebaute Westküste eines Kontinents zerstören, um unberührtes Land freizulegen und der Menschheit einen ökologischen Neustart zu schenken. Selbst, wenn dabei Millionen sterben werden … Wer setzt sich mit diesen Dilemmata auseinander? Donald Duck.

Eine Rasse Außerirdischer, die die Emotionen und Lebensenergie ihrer Opfer aussaugt, nimmt die Erde als nächstes Ziel ins Visier – und das Militär kooperiert willentlich mit ihnen. Zu den wenigen Widerstandskämpfern gehört … Donald Duck. Eine Androidin verliert den Lebenswillen und stürzt sich in den Tod. Als sich Techniker anschicken, sie zu reparieren, redet es ihnen jemand aus. Nämlich … Donald Duck.

Das klingt für Uneingeweihte womöglich wie die Zusammenfassung finsterer Fanfiction, die nichts mit echten Disney-Comics zu tun hat. Aber wer in den späten 1990ern ein bestimmtes, in Deutschland sehr nischiges monatliches Disney-Magazin gekauft hat, oder jetzt zur treuen Leserschaft des edel aufgemachten „LTB Premium“ gehört, weiß, was Sache ist. Diese dramatischen, moralisch komplexen Disney-Comicgeschichten existieren. Und sie sind außerordentlich gut.

Die Rede ist von der in Italien erfundenen Comicsaga „Paperinik New Adventures“, oder wie sie hierzulande getauft wurde: „Der neue Phantomias“.

Vom Pechvogel zum Rächer zum sanften Helden zum „neuen Phantomias“

Dass sich Donald Duck in Maske und Umhang kleidet, um als Teilzeiträcher und Superheld Phantomias durch die Nacht zu springen, ist seit 1969 Teil des Disney-Comic-Kanons aus Italien. Erdacht wurde das Alter Ego des zornigen Erpels, weil vielfach der Wunsch geäußert wurde, Donald doch mal auf der Siegerseite zu sehen. Also bekam er eine Geheimidentität, die ihm half, sich an Peinigern zu rächen oder Diebe in die Flucht zu schlagen. Phantomias erfreute sich großer Beliebtheit – bis diese Popularität in den frühen 1990er-Jahren kurzzeitig abnahm.

Bei Disney Italia erkannte man, dass die einst sehr forsche Figur zuletzt zu zahm wurde – und dachte sich daher, dass es an der Zeit sei, Phantomias endlich in eine Superwelt zu hieven, die sich neben die an Jugendliche und junge Erwachsene orientierenden Marvel- und DC-Reihen gesellen kann. Eine Truppe von italienischen Disney-Comicschaffenden, die damals als junge Wilde den Status quo hinterfragten, nahm sich diesem Gedanken an. Und so erschufen Claudio Sciarrone, Alessandro Barbucci und Silvia Ziche sowie die Autoren Tito Faraci und Francesco Artibani ein futuristisch angehauchtes Entenhausen, in dem fortlaufende Geschichten mit immensen Bedrohungen und fahrigen moralischen Dilemmata erzählt werden.

Donalds Alter Ego Phantomias tauscht in „Paperinik New Adventures“ seine wie kindische Wasserpistolen gestalteten Waffen und seine Sprungfeder-Stiefel gegen einen Transformerschild und berät sich nicht weiter mit dem kauzigen Erfinder Daniel Düsentrieb, sondern mit der Künstlichen Intelligenz Eins, die im Laufe der Saga erst noch Empathie lernen muss. Die Comics sind reich an Action, die teils ordentliche Blessuren beim Titelhelden hinterlassen, und Donald alias Phantomias ackert sich mit großem Sarkasmus und viel Galgenhumor durch die vielen Situationen, die weit schwerwiegender sind als alles, was er von früher gewohnt ist.

Dieser Humor ist sehr schnippisch geschrieben – und lässt zugleich weiter durchschimmern, dass sich hier ein Pechvogel und Faulpelz in Kämpfe stürzt, die er lieber Anderen überlassen würde. Würden sich doch nur Andere finden, die diese Kämpfe zu schlagen wüssten. Doch weil es halt sonst niemand übernimmt, löffelt halt Donald Duck ebenso emsig wie augenrollend für uns alle die Suppe aus.


Anfangs ordentlich am Markt vorbei gebrettert

In Deutschland startete der Verlag Ehapa 1996, nur kurze Zeit nach dem Debüt in Italien, den ersten Versuch, diese Comicreihe ans Publikum heranzutragen. Als monatliche Heftreihe in etwas edlerer Aufmachung, aber ähnlichem Format wie das altbekannte „Micky Maus Magazin“, bekam es eine Aufmachung verpasst, die wie ein Hybrid aus klassischen Disney-Heftchen und den Superheldenheften von DC und Marvel anmutete. So weit, so gut. Aber die Saga startete in Deutschland direkt mit einem gigantischen Problem:

Die allererste Geschichte, die erklärt, weshalb Donald Duck nun in einem 151 Stockwerke hohen Wolkenkratzer lebt, mit einer Künstlichen Intelligenz befreundet ist, keinen Kontakt mehr zu seinen Neffen und alten Weggefährten hat, und in der Gestalt von Phantomias nicht etwa Diebe, sondern Killer-Aliens und Diebe aus der Zukunft jagt, wurde ausgelassen. Anspielungen auf „kürzliche Ereignisse“ wirkten nicht wie ausgereifte, innere Kontinuität, sondern wie schlechtes Geschichtenerzählen.

Jahre später wurden „lizenzrechtliche Schwierigkeiten“ als Grund dafür öffentlich gemacht, der Schaden ließ sich aber nicht rückgängig machen: Im deutschen Disney-Comicmarkt, der sich Mitte der 1990er-Jahre noch weniger um Erwachsene bemühte als heute, und für den „PkNA“ somit eh ein schwer zu positionierendes Projekt darstellte, wurde diese Reihe so gestartet, dass sich beim Publikum die Fragezeichen nur so stapelten. Nach bloß neun Heften gab der Verlag die Reihe auf. Vorerst.

1999 folgte ein zweiter Anlauf – mit weniger Inhalt pro Ausgabe, aber zu einem höheren Preis. Die Ursprungsgeschichte der Saga wurde streng limitiert nachgereicht. In Schwarz und Weiß. Und nicht etwa zu Beginn dieses erneuten Versuchs, sondern zu einem späteren Zeitpunkt. Wer braucht schon eine chronologische Veröffentlichung bei einer kontinuierlich erzählten, eng verwobenen Geschichte? Mehr Leute, als dem Verlag damals wohl lieb war: Erneut spielten nur wenige Menschen dieses Spiel mit – nach insgesamt 15 Bänden war mangels Erfolg Schluss.

Das Taschenbuch-Format bringt die späte Rettung

Am 1. März 2012 gelang es dem futuristischen, verwegenen Phantomias endlich, seine Pechsträhne in Deutschland zu überwinden: Unter dem Titel „Der neue Phantomias“ wurde ihm der zweite Band der hochpreisigen, gezielt an ältere Disney-Fans vermarkteten Reihe „LTB Premium“ gewidmet. Darin wurden erneut die Geschichten abgedruckt, die den Grundstein dieser Saga darstellen und die relevantesten Gegner sowie Unterstützer des Helden im Cape einführen – inklusive des zuvor so sagenumwobenen, erst ausgelassenen, dann limitierten „Band 0“. Dieses Mal sogar in Farbe!

Seither sind die „PkNA“-Chroniken fester Bestandteil der Premium-Reihe unter dem „Lustiges Taschenbuch“-Banner. Die Bände vier und sieben folgten mit einer Kombination aus chronologischen Nachdrucken bereits veröffentlichter Hauptgeschichten und deutschen Erstveröffentlichungen pointierter Kurzgeschichten, die die Nebenfiguren der Saga vertiefen. „LTB Premium 9“ belohnte im Oktober 2015 geduldige Fans des neuen Phantomias endlich mit seit vielen Jahren herbei ersehnten, deutschen Erstveröffentlichungen langer Geschichten aus dem zentralen Handlungsstrang. In den „LTB Premium“-Ausgaben elf, 14, 16, 18, 20, 23 und 25 ging die Saga auf zunehmend komplexere Weise weiter, mit lang im Voraus geleistetem Foreshadowing, weit zurückreichenden Kontinuitätsrückgriffen und einer steigenden Schlagzahl an Comics, die entweder sehr actionreich sind oder sehr dramatische, verschachtelte Plots erzählen.

Donald alias Phantomias stellt sich Robo-Auftragskillern, begegnet Aliensöldnern und entwickelt ein ihn immens beißendes, schlechtes Gewissen für Dinge, die er seit Jahrzehnten in seinen klassischen Spaßgeschichten tut. Die Zeitreisegeschichten werden immer verzahnter – und nach dem tragischen Ausgang der Reise einer peppigen Nebenfigur sowie nach einer „Predator“-Parodie findet die Sage in Band 25 einen esoterischen Quasi-Abschluss.

Quasi-Abschluss daher, weil „PkNA“ in Italien so beliebt und erfolgreich war, dass die dortige Disney-Dependence die Reihe fortführte – erst mit einer 18-teiligen Comicsaga, die unmittelbar nach den „PkNA“-Comics spielt, aber zunehmend auf Mystery, charakterbezogene Dramatik und grau-graue Moralität, statt auf Action setzt. Diese Sequel-Saga feierte in Deutschland im August 2020 in „LTB Premium 27“, 19 Jahre nach ihrem Debüt in Italien, ihre Premiere und hat ihre Geheimnisse mittlerweile auch vor dem hiesigen Publikum vollständig enthüllen dürfen. 

Es ist noch lange nicht Schluss!

Mit Witz, Emotion, Action und Dramatik sind die „PkNA“-Geschichte richtige Juwelen im Disney-Comictresor, und da die Ursprungssaga in Deutschland nach all den Fehlstarts letztlich doch komplett erschienen ist, können sich alle Neugierigen endlich ohne Sorge, etwas zu versäumen, in sie hineinzustürzen. Beim „Binge Reading“ entwickelt die Reihe eine noch größere Sogkraft als bei einer über viele, viele Monate hinweg erfolgten Veröffentlichung, werden so durch die Charakterbögen erst richtig deutlich.

Und es ist schon für viel, viel Nachschub gesorgt. Eine alternative Dimension rund um einen ähnlichen, aber nicht exakt gleichen neuen Phantomias spaltete einst die italienischen Fans und hält nun Einzug ins Premium. Aber die „PkNA“-Kontinuität schlägt zurück: In Italien wurde vor wenigen Jahren ein neuer Handlungsstrang rund um den schnippische Sprüche klopfenden, sich durch explosive Auseinandersetzungen wuselnden Erpel mit Maske aufgenommen. Während Comic-Deutschland sich also gerade in die dramatische Zwischenphase des neuen Phantomias begeben hat, arbeitet Italien munter weiter an der Zukunft des futuristischen Phantomias. Wenn ihr mich fragt: Immer nur her damit!

Mittwoch, 3. November 2021

Eternals

 


Regisseurin/Autorin Chloé Zhao ist bislang vornehmlich für ihre leisen Arbeiten bekannt, die sich im semi-dokumentarischen Stil zwischenmenschlichen Dynamiken nähern. Songs My Brothers Taught Me widmet sich einem Sioux-Geschwisterpaar. The Rider ist ein beeindruckendes Porträt eines Rodeo-Reiters, der bei einem schweren Unfall enorme Verletzungen davongetragen hat und sich dennoch wieder in den Sattel schwingen will - und Zhao fängt seinen Antrieb ebenso akribisch ein wie die Reaktionen seines überforderten, hin- und hergerissenen Umfelds. Und Nomadland widmet sich im selben Tonfall der bittersüßen Poesie darin, wie wacker sich von der rücksichtslosen Wirtschaft abgehängte "Jobnomaden" ein Leben in Würde erkämpfen, wo das System keine Würde mehr vorgesehen hat.

Es ist nur konsequent für eine Filmemacherin, die große Passion für die dornige Komplexität von Situationen und Gefühlslagen aufbringt, dass sich auch Chloé Zhao nicht einfach in eine einzelne Schublade stecken lässt. Denn selbst wenn ihre ersten drei Regiearbeiten zweifelsohne aus demselben Holz geschnitzt sind, so sind Zhaos Interessen breiter gefächert als "unmittelbar aus dem Leben gerissene, leise Schicksalsgeschichten". Die unter anderem von Spike Lee unterrichtete Verehrerin der Arbeiten von Werner Herzog, Ang Lee, Wong Kar-wai und Terence Malick ist auch comicvernarrt, inniger Sci-Fi-Fan, fieberte daher beispielsweise Denis Villeneuves Dune entgegen (und war letztlich überaus begeistert vom Endergebnis), schwärmt von James Camerons Terminator und hat einen weiterhin aktiven Fanfiction-Account (den sie jedoch nicht offenlegen will). Es war also nur eine Frage der Zeit, bis Zhao sich in die Genrewelten des Fantastischen bewegt.

Mit ihrem vierten Film ist es nun so weit: Bereits nach The Rider ging Zhao mit einer umfangreichen Präsentation bewaffnet auf die Marvel Studios zu - sowie mit der Bitte, ein Projekt zu übernehmen. Sie war daher sowohl für Black Widow als auch für Eternals im Gespräch. Sie erhielt für den Letztgenannten den Zuschlag und entwickelte ihn während ihrer Arbeit an Nomadland. Wir werden wohl nie erfahren, wie Zhaos Black Widow geworden wäre, aber ich kann mir schwer vorstellen, dass der Agentinnen-Actioner eine bessere Wahl für Zhao dargestellt hätte: Zwar ist einer der Schwerpunkte des Auftaktfilms der Phase IV im Marvel Cinematic Universe die diffizile Familiendynamik, in der sich Natasha Romanoff befindet, allerdings bietet Eternals Zhao eine viel breitere Spielwiese, um ihren Stil und ihre schreiberischen Sensibilitäten in fabulöse Welten zu übertragen.

Eternals handelt von einer zehnköpfigen Gruppe nahezu unsterblicher Personen, den Eternals. Ihnen wurde von den gottgleichen Wesen namens Celestials der Auftrag gegeben, sich auf der Erde unter die Menschen zu mischen und sie vor blutrünstigen Monstern namens Deviants zu beschützen. Aber auch nur vor ihnen. Vor Jahrhunderten schienen sie alle Deviants bezwungen zu haben, doch nach den Ereignissen aus Avengers || Endgame tauchen die drahtig-muskulösen Viecher wieder auf. Also müssen sich die über den ganzen Globus verteilten Heldinnen und Helden sammeln. Doch frühere Konflikte und jahrtausendelang verschleppte Gewissensbisse erschweren die Mission ... 

Zhao und die ebenfalls für das Drehbuch verantwortlichen Patrick Burleigh, Ryan Firpo & Kaz Firpo überfrachten ihr Publikum im Prolog mit mythologischen Begrifflichkeiten, Erklärungen und Andeutungen. Nach diesem etwas erzählerisch holprigen Einstieg breiten sie allerdings eine ruhig, doch konzentriert aufgezäumte Geschichte vor ihrem Publikum aus, in dem sich nahezu unsterbliche, menschenähnliche Wesen mit massiven Kräften von einer Zwickmühle in die nächste begeben. Diese sind interpersoneller Natur, kämpferischer Art oder betreffen ethische/philosophische Fragen.

Vor allem letzter Aspekt ist von Interesse: Zhao macht in Eternals nämlich das, was sich im Superheldenkino aufgrund der dort agierenden, mächtigen Figuren nahezu aufdrängt, abseits ihr jedoch nur Zack Snyder mit Man of Steel im Mainstream auf auffällige Weise tat. Sie widmet sich dem Dilemma, wie denn als gütig behauptete und überaus mächtig geschilderte Figuren Leid zulassen können - geht also einer vercomicten Version der Theodizeefrage nach. Bedenkt man, dass Snyders "Superman kann ja auch nicht andauernd alle retten"-Film mein klarer Favorit unter seinen DC-Filmen ist, damals jedoch auch viel Schelte abbekommen hat, kommt mit angesichts der bisherigen Eternals-Reaktionen prompt ein Déjà-vu ... 

Mit Man of Steel teilt sich Eternals auch die zwischen Zeitebenen springende Erzählweise, wobei Zhao in den Rückblenden durch die Menschheitsgeschichte düst und dies gleichermaßen für Kostüm- und Kulissenprunk nutzt wie für das sehr beiläufige Säen von Zwietracht, Misstrauen, Zuneigung und Vertrauen innerhalb der titelgebenden Truppe. Beispielsweise wird der von Kumail Nanjiani mit viel Witz verkörperte, jedoch auf's Kämpfen spezialisierte Kingo als jemand gezeigt, der im privaten Umfeld ein lockeres Mundwerk hat und neidisch auf die Gabe von Sprite (Lia McHugh) ist, die lebensechte Projektionen erzeugen kann und diese in ruhigen Momenten nutzt, um die Sterblichen zu unterhalten. Dass Kingo in der Gegenwart der Handlung als seit Jahrzehnten tätiger Bollywood-Star aufkreuzt, der nach all der Zeit im Showbiz noch vorlauter und schnippischer ist und mehr flotte Sprüche raushaut als zuvor, ist eine fast schon erschreckend schlüssige Begründung Zhaos, mit Kingos Wiedereingreifen in die Handlung ein Comic Relief einzuführen.

Nicht alle Eternals bekommen gleich viel erzählerische Aufmerksamkeit, der koreanische Filmstar Don Lee etwa fällt mit seiner Rolle nahezu unter den Tisch, wohingegen beispielsweise die taube Lauren Ridloff ihrer Heldin in ihren wenigen Szenen eine fesselnde Energie verleihen kann und McHugh als Sprite überzeugend zwischen ewig-jugendlicher Frische und jahrtausendealtem Frust balanciert. Gemma Chans Sersi dient mehr oder minder als Protagonistin, hält sich jedoch zurück, statt dem Film mit Nachdruck ihren Stempel aufzudrücken. Das reibt sich mit den MCU-Sehgewohnheiten, sind die Filme der Marvel Studios, klammert man Black Panther und Chadwick Bosemans sehr stark die Bälle zum Nebencast passende Performance aus, ja gemeinhin stark auf ihren zentralen Star ausgerichtet. Trotzdem (oder gerade deshalb) sollte man Chans Leistung in Eternals nicht unterschätzen - wenn ich schauspielerisch was zu mäkeln habe, trifft das viel mehr Kit Harrington als Sersis Love Interest und Richard Madden als ihr Ex und Eternal-Kollege zu. Beide ackern sich für meinen Begriff zu steif durch ihre Szenen, wobei Ramin Djawadis urig-epochaler Soundtrack durchaus die eine oder andere Szene ordentlich vorantreibt und dabei auch das Spiel der beiden Herren im besten Sinne zu übertönen versteht.

Visuell ist Eternals die Handschrift Zhaos noch stärker anzumerken als darin, in welchem Duktus sie die Dialogpassagen taktet. Kameramann Ben Davis schafft allerhand hübsche Panoramen, und die digitalen Trickeffekte sind nach den in ihren schwächeren Momenten etwas angestaubt wirkenden Black Widow und Shang-Chi eine echte Wonne. Wenn manche dieser digital getricksten Elemente mit mahnender Schwere im Bild stehen bleiben, darf sogar Gänsehaut aufkommen - vorausgesetzt, man ist zu diesem Zeitpunkt noch emotional und gedanklich in das Geschehen involviert.

Die durchwachsenen Vorabkritiken zu Eternals machen mir deutlich, dass das längst nicht auf alle zutreffen wird, ich aber würde nur den Einstieg des Films etwas begradigen und beim nahezu obligatorischen Actionfinale (das sich allerdings viel organischer entwickelt und zügiger abspielt als bei den vergangenen zwei Phase-IV-Filmen) ein paar Minuten stutzen. Sonst bin ich echt angetan vom Film und bin gespannt, ob (und wenn ja: wie) Zhaos nachdenklich-kurzweilige Sci-Fi-Vision weitergeht. Vielleicht werden wir bei ihrer achten Regiearbeit schlauer sein?

Fazit: Eternals gut. Gerne mehr. Weitere große Worte überlasse ich den zehn Eternals.

Sonntag, 31. Oktober 2021

Last Night in Soho

Edgar Wrights neuster Film fühlt sich durch und durch nach Edgar Wright an. Die dynamische Kamera, der intensive, gekonnte Einsatz alter Gassenhauer, die große Masse an filmischen Referenzen. Und gleichzeitig fühlt er sich innerhalb seines Schaffens am wenigsten nach Edgar Wright an. Allein schon, dass sich das von Krysty Wilson-Cairns und ihm verfasste Drehbuch um eine weibliche Figur dreht, macht sich bemerkbar: Wrights Filme nahmen bisher den Fokus von männlichen Losern und Tunnelblick-Typen ein.

Dass wir hier der Geister sehenden, von den Londoner "Swinging Sixties" besessenen, anstrebenden Modedesignerin Eloise "Ellie" Turner folgen, und ihren Erfahrungen damit, wie es ist, eine schüchterne, junge Frau in einem exzentrischen Metier zu sein ... noch dazu in einer brisanten Großstadt ... hebt Last Night in Soho enorm von Wrights bisheriger Vita ab. Es ist eine erfrischende Perspektive, und die einzige, mit der sich dieser Stoff so nachhallend erzählen lässt.

Und selbst wenn es einige Momente der Situationskomik und peppiger Dialogwitze gibt, so ist Last Night in Soho der Wright-Kinofilm mit der bislang geringsten Gagdichte. Es ist eine in Giallo-Farben getauchte Verneigung vor Filmen wie Wenn die Gondeln Trauer tragen und Ekel, versetzt mit einer dornigen Auseinandersetzung mit blinder Nostalgie. Denn wie Ellie sehr zügig herausfinden muss, ist das London, das sie nie erlebt hat, aber stets erleben wollte, gar kein bezaubernder Ort. Insbesondere für Frauen.

Wrights Nostalgie-Abrechnung und feministische Botschaft operieren auf einem schwungvollen "Keine Zurückhaltung!"-Level, die Seitenhiebe und bissigen Kommentare werden mit dem Messerhieb abgeliefert, der bei einem Film in Suspiria-Ästhetik zu erwarten steht. Thomasin McKenzie glänzt in der Hauptrolle, lässt uns mit dieser stilisierten Geschichte mitfiebern, weil sie Ellie in all ihren Höhen und Tiefen fabelhaft zur Schau stellt. Anya Taylor-Joy als Ellies 60er-Ikone Sandy spielt campig auf, was spürbar Wrights Absicht ist, aber bei ihr leider in vielen Szenen etwas zu hölzern rüberkommt. 

Dafür ist das Sixties-Flair, in der verklärten wie in der verstörten Version, bestechend und die Kameraführung von Chung-hoon Chung (Ich und Earl und das Mädchen) genauso galant wie der Schnitt von Gravity-Cutter Paul Machliss. Ein böser Filmgenuss.

Last Night in Soho ist ab dem 11. November 2021 in deutschen Kinos zu sehen.

Montag, 18. Oktober 2021

Wieder entflammte Liebe: The French Dispatch

Ich bin großer Fan von Wes Anderson. Oder sollte ich lieber sagen: "Ich war es"? 
Dieser Gedanke plagte mich die vergangenen paar Jahre. Denn obwohl Die Royal Tenenbaums und Moonrise Kingdom zu meinen absoluten Lieblingsfilmen zählen und ich auch Durchgeknallt, Die Tiefseetaucher sowie Darjeeling Limited sehr liebe (und nach anfänglichen Problemchen Rushmore ebenfalls ins Herz geschlossen habe), ließ mich Grand Budapest Hotel 2014 äußerst enttäuscht zurück. 2018 konnte ich Wes Andersons zweitem Stop-Motion-Film, Isle of Dogs, noch weniger abgewinnen als dem charmanten und gewitzten, mich aber kalt lassenden Der fantastische Mr. Fox. Obwohl ich es nicht wollte, lastete letztlich auf The French Dispatch eine große Bürde: Kann Anderson mit seinem neusten puppenhäuschenhaft ausstaffiertem Film mein Herz zurückgewinnen, oder drängt sich der Gedanke auf, dass ich mit seinen neueren Werken einfach nicht auf einer Wellenlänge liege?

Wie die Überschrift euch bereits verraten hat: Ersteres trat ein, glücklicherweise! Das Thema und Setting von The French Dispatch hat sicherlich seinen Beitrag dazu geleistet: Andersons neuster Film ist ein cineastischer Liebesbrief an den kauzig-intellektuellen Journalismus, wie ihn The New Yorker leistet und in seiner Blütezeit förmlich lebte und atmete. Das ist ein Metier, mit dem man unmittelbar mein Interesse erhascht, und wie Anderson in seinem Filmuniversum daraus das exzentrische, anspruchsvolle französische Ablegerformat einer US-amerikanischen Kleinstadtzeitung macht, hat für mich immensen Charme - ebenso wie die verschachtelte, dreckige, gleichwohl pittoreske Stadt, in der das titelgebende Druckerzeugnis angesiedelt ist.

Außerdem nähert sich Wes Anderson dem Journalismus, wie ihn The New Yorker-Gründer Harold Ross vorlebte, mit einer Art kritischer Nostalgie: Die ebenso aufgeladene wie beschauliche Ästhetik, in der Andersons dem Auge schmeichelnde Symmetrieliebe und ein das Auge überforderndes Maß an markanten Details aufeinandertreffen, strahlt große Passion aus. Und sowohl Erzählstimme wie auch Erzählhaltung zeigen genauso sehr innige Begeisterung für diese Figuren und ihre Arbeit. Gleichwohl ist The French Dispatch kein kantenloses Fest der Verklärung. Sei es der Running Gag (oder eher: die herumlungernde Pointe) eines Redakteurs, der noch nie einen Artikel fertiggestellt hat, und trotzdem in den Redaktionsräumen herumsteht, oder eine Parade an Seitenhieben auf dramaturgische Freiheiten in der Berichterstattung sowie die journalistische Beobachterposition verlassende Reportagen. Seien es bewusst große Text/Bild-Scheren oder das Mantra des von Bill Murray verkörperten Chefredakteurs, laut dem man Fehler, Patzer und ähnliches einfach wie Absicht darstellen sollte: Anderson liebt alles, was er hier zeigt, weil er die Inspiration verehrt - doch er verleugnet nie, dass sich Kritikpunkte aufzeigen ließen.

Und so hatte The French Dispatch fast schon eine versehentliche, auf mich zugeschnittene Metaebene: Der Film schien mit mir über Wes Andersons Stärken und Passionen zu sprechen und sich für meine Antipathie gegenüber den vergangenen zwei Filmen entschuldigen zu wollen. Dass darüber hinaus dieser berückend schön gefilmte, von Alexandre Desplat musikalisch amüsiert untermalte, fabelhaft ausgestattete Film viel mehr Fokus auf das Charisma und den Witz seines Stoffes legt, und nicht wie Grand Budapest Hotel versucht, den flach skizzierten Figuren noch Pathos und Dramatik zu entlocken, macht ihn für mich zu einer viel runderen Angelegenheit.

Die Royal Tenenbaums und Moonrise Kingdom sind in meinen Augen unerreicht, dort entwickelt Anderson in seiner Ästhetik zudem noch runde, komplexe, mich bewegende Figuren. The French Dispatch ist dagegen das Partnerstück zu Grand Budapest Hotel: Nostalgie und visueller Prunk haben Vorrang. Bloß, dass der Neuere für mich abgerundeter und seine Tonalität besser einschätzender wirkt und mich von der Thematik her einfach deutlich mehr anspricht. 108 Minuten glückseliges Lächeln vor der Kinoleinwand!

Dienstag, 5. Oktober 2021

Titane

Julia Ducournau hat sich in kurzer Zeit zu einer Regisseurin entwickelt, der ich bis auf weiteres vertraue. Ihr Debüt-Kurzfilm, die empathische Pubertätsgeschichte mit Bodyhorrorelement Junior, ist echt clever. Ihr Kino-Langfilmdebüt Raw, eine mit viel Blutlust versetzte Spätpubertäts- und Coming-of-Sexual-Age-Geschichte, war einer meiner Top-20-Filme seines Jahrgangs. Als ihr zweiter Kino-Langfilm Titane im Sommer 2021 auf den Filmfestspielen von Cannes mit der Palme d'Or ausgezeichnet wurde und sich die Festivalpresse mit Superlativen des Schocks, begeisterten Ekels und der Verblüffung überschlug, war ich unfassbar heiß auf den Film. Und ... zumindest qualitativ wurde ich nicht enttäuscht.

Allerdings düste Titane inhaltlich meilenweit an meinen Erwartungen vorbei, was dem Tenor der frühen Kritiken und unmittelbar nach der Weltpremiere ins Netz geschleuderten Presse- und Publikumsreaktionen in die Schuhe zu schieben ist. Denn im Gegensatz zu den international näher an den jeweiligen, regulären Kinostarts verfassten Rezensionen, die Titane stärker aus dem Blickwinkel "Gewinnerfilm bei einem der, wahrscheinlich sogar dem prestigeträchtigsten Festivals der Welt" heraus behandeln, gingen die volles Rohr in Sachen "Titane, Tabubrecher!". "Most fucked up movie", Berichte über zahlreiche Leute, die während der Premiere den Saal verließen (es ist nicht Cannes ohne sowas), "schockierendster Film des Jahres", sowas halt.

Und dahingehend ist es von äußerster Bedeutung, in welches Publikum man sich eher gesellt. Wer primär das ruhig-nachdenkliche Nachmittagsprogramm im Programmkino besucht, wo so manche Festivaltitel laufen, wird von Titane sicher nachhaltig durchgerüttelt und verschreckt. Wer dagegen dauerhaft beim Fantasy Filmfest und anderen Feierlichkeiten des Abseitigen abhängt, dürfte sich fragen: "Äh ... ne?!"

Daher: Bei Titane gilt noch stärker als sowieso schon im Kino - bitte nicht den Film danach bewerten, wie sehr er den Ton anstimmt, den man sich durch vorherige Berichterstattung ausgemalt hat. Dieses Metall scheppert in seinem eigenen Takt!

Darum geht's

Seit einem Unfall in ihrer Kindheit trägt Erotiktänzerin Alexia (Agathe Rousselle) eine Titanplatte im Kopf. Als die emotional instabile, impulsiv-gewalttätige Frau eines Tages untertauchen muss, beschließt sie kurzerhand, sich als nach vielen Jahren der verzweifelten Suche wieder aufgetauchter Sohn des Feuerwehrmannes Vincent (Vincent Lindon) auszugeben. Der ist dermaßen gerührt von der Wiedervereinigung mit seinem Spross Adrien, dass er die wacklige Maskerade nicht durchschaut. Die neue, geborgene Heimat Alexias steht allerdings auf der Kippe, denn sie ist schwanger. Wie lange also wird sie noch als schüchterner junger Mann durchgehen ..?

So weit zumindest der grobe Plot von Titane. Wovon Julia Ducournau auf thematischer Ebene handelt, ist deutlich komplexer und selbstbewusst-wild durchgemischt. Während die Filmemacherin in Junior und Raw ihrer Beimischung von Horrorelementen zum Trotz recht stringent vorgeht, ist Titane ein passioniert um sich schlagender Film. Nicht umsonst bezeichnete sie sich, ihren Film, ihre Figuren und ihr Team in Cannes als "Monster", und bekundete ihre Dankbarkeit, dass diese Monster in den Reihen des Prestigefestivals willkommen geheißen wurden. Gezügelt ist an Titane kaum etwas.

In Titane geht es, das sind die Offensichtlichkeiten an diesem 108-minütigen Werk, unter anderem um die Suche nach Geborgenheit und emotionale Bindung. Vincents fast aufopferungsvolle, von stillem Schmerz verzehrte Sehnsucht nach seinem Sohn kommt da in den Sinn, die Lindon mit weichen, kummervollen Zügen in einem rauen Gesicht und zarten Gesten seines trainierten, kantigen Körpers ausdrückt. Und natürlich auch Alexias innere Zerrissenheit, dass sie sich bei Vincent wohler und angekommener fühlt als zuvor - wobei nicht eine Sekunde lang die Angst, ertappt und rausgeworfen oder bestraft oder sonstwie falsch behandelt zu werden, aus ihren Augen weicht.

Agathe Rousselles Darbietung als Alexia ist zudem voller Code Switching, so sehr, dass es zu einer Triebfeder des Films wird, weit über das Handlungselement "Flüchtige Person gibt sich als Mensch eines anderen Genders aus und will nicht entdeckt werden" hinaus, das andere Filmschaffende als Julia Ducournau schon deutlich konventioneller angepackt haben und auch wieder anpacken werden. Zugleich äußerst nuanciert, da voller filigraner Macken, Gesten und mimischen Angewohnheiten, und wild, aus sich herausgehend und wuchtig, lässt uns Rousselle an Alexia in vielen Positionen und Rollen teilhaben:

Als brutaler, orientierungsloser und ungezügelter Privatmensch. Als das selbstbewusst performende Stück Fleisch, das bei Erotikshows begafft werden will. Alexia als aufgepeitschte, zurecht von übergriffigen Fans angewiderte Post-Show-Privatperson im Gewand ihrer Bühnenpersona. Alexia als sexuell umtriebig-ungelenke Eroberin. Als cholerischer Nimmersatt. Alexia, unwohl darin, Adrien zu spielen. Alexia, komfortabel darin, Adrien zu spielen. Alexia als Adrien, der sich in femininem Selbstausdruck versucht. Alexia, so tief in der Rolle des Adrien angelangt, dass beidseitige Vater-Sohn-Gefühle zwischen ihr und Vincent aufkommen. Und so weiter, und so weiter. Eine echte schauspielerische Wucht, die dem Film konstant mit sanftem, allerdings klar die Richtung vorgebendem Nachdruck das Thema "Genderidentität" vorgibt. Ducournau hält auch nicht damit hinterm Berg, dass die nicht-binäre, wenngleich weibliche Pronomen verwendende Rousselle ab ihrem Vorsprechen deutlichen Einfluss auf Titane hatte.

Titanplatte im Kopf, Fremdkörper im Film

Man spürt einen persönlichen, sensiblen Touch in diesem Film, der mit Metaphern, grotesken Genreeinflüssen sowie wild durchgewürfelten, authentischen Beobachtungen aus höchst unterschiedlichen Alltagen um sich schleudert, so dass er eine faszinierend allgemeine, weltferne Erfahrung wird. So, wie Alexias Titanplatte zwar ein Fremdkörper, aber doch ein Teil von ihr ist, so ist Titane ein Ungetüm aus zu einer Einheit zusammengesetzten Fremdkörpern. Auf Storyebene, tonal und ästhetisch. Es ist ein Film über gefundene Familie, aber auch über Genderausdruck, Ruhefindung, toxische Maskulinität, eine Frau mit Blut an ihren Händen, unmögliche Schwangerschaft sowie Übergänge, womöglich auch in ein robusteres Morgen.

Titane riskiert, mit diesem rauen Gemisch, seinem nach dem ersten Drittel stark nachlassenden Gewaltgrad, seiner emotionalen Verletzlichkeit und für Unnahbarkeit sorgenden, grotesken Genreeinschlag, für Ratlosigkeit zu sorgen. Oder gar für schädliche Deutungen - Indiewire etwa nannte ihn kürzlich transphob, was eine Interpretation ist, auf die ich nie gekommen wäre und eine Absicht darstellen würde, die ich Ducournau niemals zutrauen würde. Es ist allerdings eine, bei der ich sehe, wo sie herkommt, denn anders als Junior und Raw kaut Titane seinem Publikum viel weniger vor. Was paradox ist, denn gleichzeitig ist es der unsubtilere Film, da schrillere, aufgedrehtere, entfesseltere in diesem Bunde.

Filme, die derart paradox sind, können in die Leitplanke krachen und darüber hinaus krachen. Oder sie haben mit diesem Schneid den Zunder, den es braucht, um mit Extrawumms über die Zielgerade zu brettern. Was darüber entscheidet, was geschieht, sind manchmal Millisekunden. Bei mir kam Titane bei Zweiterem aus, ich habe noch vor der Titeleinblendung zu ihm gefunden und mich an dieser verworrenen Reise ergötzen, während ihr mitfiebern und mitleiden können. Titane landet mit Sicherheit in meinen Tops des Jahres und ich kann allen, die nach diesen Zeilen neugierig geworden sind, nur raten, ihr Glück ebenfalls zu versuchen. Egal, ob ihr ihn lieben oder hassen werdet, der Film wird euch kaum egal sein.

Und wer nach dieser Kritik erstmal noch ratlos ist: Am 14. Oktober besprechen und interpretieren ihn Antje und ich bei Filmgedacht. Vielleicht können wir euch dann Lust auf den Kinobesuch machen. Oder aber ihr erkennt, dass euch der Film so unangenehm berühren wird wie ein Autounfall, der eine OP nach sich ziehen müsste, bei dem ihr eine Titanplatte eingesetzt bekommen würdet. Dann verzichtet lieber, das gönnt man doch niemandem ...

Titane ist ab dem 7. Oktober 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

Dienstag, 10. August 2021

Die Big-Budget-Überraschung des Kinojahres: Free Guy

Nach zahlreichen Verschiebungen kommt am 12. August 2021 die neue Ryan-Reynolds-Komödie Free Guy in die Kinos. Ein Film auf den ich aufgrund seiner Marketingkampagne wenig bis gar keine Lust hatte. Die Poster sahen generisch aus, die zahlreichen Trailer haben mir bestenfalls ein Schmunzeln entlockt und mich schlimmstenfalls genervt. Offenbar ging es vielen so. Und es wäre verdammt schade, sollte der Film daher auf die Nase fallen. Denn Free Guy ist eine Big-Budget-Komödie, die High Concept mit viel Herz und großem Spaß vereint – gemessen an meiner Erwartungshaltung eine waschechte, vergnügliche Überraschung.

Darum geht es: Guy ist ein NPC, also ein nicht spielbarer Charakter, in einem Online-Sandbox-Spiel namens Free City, einer Art "Grand Theft Auto trifft Slaughter Race aus Chaos im Netz". Er wurde dazu programmiert, stets den gleichen Kaffee bestellend und freundlich-ratlos grinsend zu seiner Arbeit in einer Bank zu gehen, die die von Spieler:innen gesteuerten Figuren für Bonuspunkte überfallen können. Doch eines Tages wird Guy aus seiner Routine gerissen: Als er die von Indie-Programmiererin Millie gespielte Molotov Girl (Jodie Comer) kennenlernt, fühlt er sich dazu angespornt, sich nicht weiter herumschubsen zu lassen, sondern selber aktiv zu werden. Bald darauf durchschaut er den vor ihm verborgenen Fakt, dass sein ganzes Leben nur ein Spiel ist. Doch es gibt noch viel mehr zu entdecken ...

Vielleicht ist das Free Guy-Marketing genau darüber gestolpert: Einerseits ist die neue Regiearbeit von Shawn Levy (die Nachts im Museum-Trilogie, Real Steel) eine High-Concept-Komödie, also ein leicht zusammenfassender Spaß für's ganze Publikum. Videospielfigur realisiert, dass sie eine Videospiel-Randfigur ist, und möchte mehr sein. Ralph reicht's, quasi, nur nicht mit dem Gut/Böse-Ansatz, sondern einem Passiv/Aktiv-Spektrum an Bestimmung. Allerdings machen die Drehbuchautoren Matt Lieberman (The Christmas Chronicles) und Zak Penn (Marvel's The Avengers und Ready Player One) einen durchaus anders gearteten Stoff daraus, als man bei einem heutigen Big-Budget-Realfilm über Computerspiele und/oder einem ins Metafiktionale lehnenden Vehikel für Deadpool-Star Ryan Reynolds erwarten würde.


Dabei haben ja schon die Ralph reicht's-Filme vorgemacht, dass solch ein Stoff für herzliche Geschichten herhalten kann. Und Free Guy bestätigt nun, dass dies kein Kniff ist, der Animationsfilmen vorbehalten bleibt: Mit Videospiel-, Internet-, und generellen Popkultur-Referenzen bestückte Komödien über Gaming-Figuren, die über ihre vermeintliche Bestimmung hinauswachsen, können durch und durch gute Laune verbreiten und mit einem großen Herz erfreuen. Im Falle von Free Guy wird daraus fast schon etwas, das ich einen Sonntagswolldeckenkuschelfilm nenne: Mancher ironischer Spitze zum Trotz ist dies nämlich ein echter Wohlfühlfilm geworden, der zu mehr Freundlichkeit und Schöpfungsfreude inspiriert, ohne dass Skript, Schauspiel oder Regieführung je ins Moralinsaure kippen würden.

Das liegt daran, dass die Story nicht in die Richtung "Jetzt tobt sich ein NPC aus!" entwickelt, was sicher ein Gag-Schnellfeuerwerk hätte werden können, aber nicht solche emotionale Tiefe mitgebracht hätte. Stattdessen dreht sich Free Guy einerseits um Programmiererin Millie, die im echten Leben einen Kleiderschrank voller großer, weiter, richtig toll flauschig aussehender Pullis hat (sie sehen so warm und kuschelig aus!), in Free City dagegen die Identität einer britischen Killerin in Fliegerbrille, wehender weißer Bluse und Hosenträger annimmt. Sie ist auf der ständigen Suche nach Beweisen dafür, dass der geldgierige, Kreativität geringschätzende Betreiber dieses Games (ein überdrehter Taika Waititi) das Lebenswerk von Millie und ihrem besten Freund gestohlen hat. Free Guy und Tim Burtons Dumbo würden ein echt interessantes Double Feature ergeben, nur dass in dieser Kombi Dumbo wundersamerweise der zynischere, spitzere Film ist. Oder wir packen noch den Utopie-Wunschgedanken behandelnden A World Beyond hinzu und haben ein Triple an sich vergnüglich ergänzenden Filmen.

Denn Jodie Comer verleiht Free Guy in den Szenen in der realen Welt mit einer freundliche, fröhlichen, zielstrebigen Leinwandpräsenz eine gewinnende, einladende Grundstimmung. Ihre Free City-Identität ist wiederum cool, lässig, selbstsicher - und sie geht mit einem Lied auf den Lippen auf ihre Mission, durch die sie sich mit vollem Einsatz kämpft. Sie ist keine abgebrühte, makellose Killerbraut, keine Gamerin, die sich übernimmt, sondern glaubhaft Vollprofi, der gelegentlich in überfordenden Trubel versinkt.

Zudem spielen sich Comer und ihre jeweiligen Szenenpartner sehr gut die Bälle zu: Mit Ryan Reynolds ergibt sich ein sehr launiger, temporeicher Rapport, bei dem sie genauso über Guys Naivität und Optimismus staunen wie mit ihm schmunzeln darf - und sich auch immer wieder kleine Momente der Alleinunterhaltung erlaubt, wenn sie Späße macht, die über Guys Kopf hinwegfliegen. Mit Joe Keery in der Rolle ihres nun für die Konkurrenz arbeitenden, früheren Geschäftspartners Keys wiederum hat sie eine warme, natürlich wirkende Chemie: Man merkt ihren Figuren eine lang gewachsene, beruflich komplizierte, privat harmonische Dynamik an, die ihre gemeinsamen Szenen massiv aufwertet, selbst wenn sie auf Skriptebene ein paar Klischees nicht zu vermeiden wissen. Hoffentlich arbeitet Hollywood schon an einer Buddy Comedy oder RomCom mit den Beiden, denn diese Energie zwischen ihnen muss weiter ausgenutzt werden!

Der andere, im Marketing stärker betonte Storyfaden von Free Guy dreht sich um Reynolds' Guy, der seine neu entdeckte Freiheit innerhalb Free City nutzt, um mit unbändiger Fröhlichkeit und Hilfsbereitschaft das Spiel zu einem besseren Ort zu machen. Er allein kann nicht viel bewegen, aber er legt sich dennoch ins Zeug, was dank Reynolds' typischem Comedy Timing ganz fesch rüberkommt und eine hübsche Verdrehung der Deadpool-basierten Erwartungen darstellt. Guys unschuldige Verspieltheit ist geradezu ansteckend, und seine sehr kindliche, aber Grenzen beachtende Verschossenheit in Millie findet eine angenehme Balance aus Albernheit und harmloser Blauäugigkeit. 

Was richtig überraschend ist: Reynolds, Penn, Lieberman und Levy gelingt es (meistens, nicht immer) nahtlos, aus dieser freundlich, anspornend-munteren Tonalität auch schrillere Popkulturreferenzen oder auch grellere, lautere Gags rund um kuriose Anblicke, Vulgaritäten oder Kalauer-Steilvorlagen zu entwickeln. Ob derbe Wutausbrüche, pubertär handelnde Nebenfiguren, Portal-Guns, Cameos oder Verweise auf andere Filme: Im filmischen Gesamtkontext wirkte das auf mich nicht aufgesetzt, sondern organisch aus der Persönlichkeit der Figuren und der Filmwelt (und der Welt-in-der-Welt) gewonnen. Da werden Erinnerungen an The LEGO Movie wach, und das nicht nur, weil Reynolds Guy wie einen fähigeren, aber paradoxerweise wohl noch begriffsstutzigeren Emmet anlegt.

Free Guy ist alles in allem ein echtes filmisches Kuriosum: Man könnte zahlreiche Szenen aus dem Film lösen, als Promo-Clip zeigen, und es würde entweder lahm sowie das Potential der NPC-wird-selbstständig-Idee fallenlassend wirken, oder forciert, bemüht und anstrengend. Doch dadurch, wie sich die Geschichte entfaltet, mit welcher ehrlichen Begeisterung die Moral vermittelt wird, und wie sich der Cast ergänzt, funktioniert Free Guy überaus gut. Ein echt schöner, gesund-dämlicher, gutherziger Filmspaß mit wiederverwertetem Paperman-Score und Herz!