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Montag, 7. Dezember 2020

Soul


Joe Gardner ist ein frustrierter Musiklehrer, der von Größerem träumt: Mit einer Jazzlegende auf der Bühne stehen und eine Profikarriere beginnen. Genau dieser Traum scheint sich ihm nun zu erfüllen. Doch dann kommt ihm etwas dazwischen: Der Tod. Nicht willens, ins Jenseits zu fahren, büxt Joes Seele aus und landet im Great Before, an dem Ort, an dem Seelen geformt werden, ehe sie ihre irdische Hülle erhalten. Dort lernt Joe 22 kennen, eine sture Seele, die auf gar keinen Fall ein Leben haben möchte. Ausgerechnet durch 22 könnte Joe seinem Ziel, wieder lebendig zu werden, näher kommen ... 


Als bekannt wurde, dass die Pixar Animation Studios mit Soul einen Film planen, in dem die Seele eines Toten abspenstig wird, hatte ich sofort zwei Gedanken: "Natürlich ist das der neue Film von Alles steht Kopf-Regisseur Pete Docter!" und "Oh, ist das Pixars Irrtum im Jenseits?" Denn die wegweisende Komödie von Michael Powell und Emeric Pressburger aus dem Jahr 1946 handelt immerhin von einem Flieger, der nach einem Absturz aufgrund eines flüchtigen Zählfehlers nicht direkt ins Jenseits fährt und nun darum bangt, vollauf offiziell weiterleben zu dürfen. 


Powell und Pressburger nutzen, wie zuvor Der Zauberer von Oz, sowohl Schwarz-Weiß-Fotografie als auch Technicolor, um ihre Geschichte zu erzählen und eine deutliche visuelle Grenze zwischen den Reichen zu ziehen. Doch anders als das legendäre Judy-Garland-Filmmusical zeigt A Matter of Life and Death (wie der deutlich treffendere Originaltitel von Irrtum im Jenseits lautet) unsere Welt in Farbe und die fiktive Spielwiese in Schwarz und Weiß. Erklärt wurde dies seitens des Filmemacher-Duos damit, dass es doch irrsinnig sei, die Welt, die wir alle in Farbe kennen, durch eine monochrome Ästhetik zu verzerren. 



Hinzu kommt für mich aber auch folgender Reiz: Durch das Zeigen der Realität in glorreichem Technicolor und dem Leben danach in öde gehaltenem Schwarz und Weiß wird eine emotionale Distinktion getroffen. Das Hier ist vielseitig, einladend und voller Reize, das Da nicht. So wird das Leben schöner und (so simpel kann es sein:) lebenswerter gezeigt, was generell eine positive Grundhaltung ist und zweitens der Geschichte entgegen kommt - während in den Jahrzehnten danach ja so manche Filme über ein Jenseits den Weg gegangen sind, den Himmel bunter, fantasievoller und toller als die Wirklichkeit darzustellen. Was gelinde gesagt einen fragwürdigen Beigeschmack haben kann ... 


Pixars Soul trennt das Leben und die von den Filmschaffenden gesponnenen Welten nicht 1:1 so wie zuvor Powell und Pressburger. Doch ich glaube, einen Einfluss von Irrtum im Jenseits zu erkennen. Oder zumindest eine vergleichbare Denkweise: Joes Wirklichkeit, namentlich New York City, wird auf eine Weise gezeigt, die ich als "Pixars Haus-Stil" bezeichnen würde:


Das Trickstudio aus Emeryville hat ein hervorragendes Händchen dafür entwickelt, Landschaften und die Elemente naturalistisch abzubilden. So detailgetreu, dass sie im ersten Augenblick täuschend echt wirken, doch schaut man genauer hin, sind sie dezent stilisiert, zumeist, um schöner als echt zu sein, quasi ein Idealbild dessen zu werden, wie es in echt aussehen sollte. Lebewesen wiederum sind bei Pixar karikiert, was uns die sogenannte Uncanny Valley erspart (den Effekt, das etwas sehr echt, aber nicht überzeugend genug, und daher abschreckend aussieht), und zudem die Persönlichkeit der Trickfiguren greifbarer macht und ihnen mehr Ausdruck verleiht. Und so, wie in Ratatouille Paris nicht wie das echte Paris, sondern der Traum vom echten Paris erscheint, ist Souls New York City die Idealversion von New York (inklusive aller Macken, die New Yorks Bevölkerung aber zu lieben gelernt hat). 


Die Fantasiewelten von Soul dagegen sind neue Design-Meisterleistungen Pixars. Die Kunstschaffenden aus dem Trickhaus haben sich richtig ausgetobt und Wesen geschaffen, die an Drahtskulpturen erinnern, sowie Aerogel-Bäuschen und Monsterchen aus schwarzblauem Glitzersand. Die bildästhetische Verspieltheit von Alles steht Kopf geht hier munter weiter - aber auch mit einem klaren Konzept: Alle Winkel der nicht irdischen Welten sind in sich sehr reduziert - sie haben in sich harmonische, aber auch stark begrenzte Farbspektren und auch hinsichtlich der Texturen besteht nur wenig Varianz. Es ist für die Laufzeit des Films eine Wonne, sich diese Designeinfälle anzuschauen - aber es lädt nicht gerade dazu ein, darin ein Leben zu verbringen. Da ist die Erde, wie Pixar sie zeigt, mit ihren mannigfaltigen Reizen und faszinierenden Imperfektionen wesentlich einladender. 


Das spielt nicht nur dem in die Karten, was hier als Joes Ziel skizziert wird. Es ist auch auf beiläufige, zugleich konstante Weise wundervoll lebensbejahend. Soul ist, und das ohne verkrampft geschriebene, kitschig vermittelte Moral-Monologe, ein erhellender, gutherziger, rührender Film darüber, wie sehr wir das Leben genießen sollten. Docter und seine Crew reden nichts schön, dies ist kein Film darüber, dass man sich etwas nur genug wünschen muss, und es geht in Erfüllung. Stattdessen dreht sich Soul darüber, dass es auch mal dreckig und schwierig und frustrierend und einsam werden kann - nur dass die Gesamtheit des Lebens eben doch zu wertvoll ist, um sich davon dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen. 


Ich wünschte, ich hätte Soul im Kino sehen können, statt ihn als Presse-Screener mit riesigem Wasserzeichen im Bild zu sehen. Und doch habe ich mehrmals Tränchen verdrückt, einfach, weil Soul gestalterisch wunderschön ist und ebenso wunderschön erzählt wird. Das dürfte euch einen Eindruck verschaffen, wie sehr mich das Storytelling dieses Films gepackt hat. Denn zusätzlich zur bereits erwähnten visuellen Gestaltung und dem sehr effektiven Score von Trent Reznor & Atticus Ross (machen den warmen, ätherischen Score für das Nicht-Diesseits) und Jon Batiste (verantwortlich für die beseelten Jazz-Passagen) hat mich auch die Figurenzeichnung begeistert.


Joe ist so genau geschrieben, dass er als Figur vollauf glaubwürdig und echt wirkt, aber auch so allgemein gehalten, dass er als Identifikations-Spiegel funktioniert, und 22 ist ein liebenswert-schrulliger Dickschädel. Das führt zwangsweise zu sehr viel Dialoghumor und Situationskomik - und die vielen, vielen, nie aufgesetzt wirkenden Lacher machen diese nachdenklich stimmende, rührende Geschichte nicht bloß verdaulicher. Sie sind essentiell, um diese positive Story authentisch zu vermitteln. Denn ein nachdenkliches, rührseliges Drama darüber, wie schön das Leben allen Hürden zum Trotz ist, trägt nahezu zwangsweise das Päckchen mit, so zu wirken, als würde es sich verstellen, damit man es ernst nimmt. Soul dagegen ist, wie es ist.


Soul ist ab dem 25. Dezember 2020 auf Disney+ abrufbar.

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