Donnerstag, 24. Dezember 2020
Die schlechtesten Filme des Jahres 2020
Mittwoch, 16. Dezember 2020
Musikalisches Immergrün – Die besten Disney-Songs der Dekade (Teil XV)
Platz 5: Mann oder ein Muppet ("Man or Muppet") aus Die Muppets
Musik und Text von Bret McKenzie (dt. Fassung von Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)
Am 26. Februar 2012 war es endlich so weit. Die Muppets, die wohl musikalischste Schauspiel- und Comedy-Truppe des Film- und Fernsehgeschäfts, haben ihren ersten Academy Award für den besten Song gewonnen. Zweimal waren sie zuvor nominiert aber "aller guten Dinge sind drei". Darüber hinaus hat Walt Disney Pictures bei den 84. Academy Awards endlich das Dutzend voll gemacht und sich zum zwölften Mal einen Song-Oscar eingesackt. Komponist und Songtexter Bret McKenzie gab sich bereits nach der Nominierung bescheiden und betonte, niemals damit gerechnet zu haben.
McKenzie nahm sich vor, mit Mann oder ein Muppet ein Lied zu schreiben, das "urkomisch und wunderschön" ist, sowie gleichzeitig "ehrlich wie albern" wirkt. Das ist ihm vollauf gelungen, weshalb Mann oder ein Muppet ein verdienter erster (und hoffentlich nicht finaler) Muppet-Oscar-Gewinner ist. Denn dieses Lied trifft die Herzlichkeit der Muppets ebenso sehr wie ihre Überzogenheit. Denn Mann oder ein Muppet ist ein aus ganzem Herzen kommendes Lied über Sinnsuche, das Zweifeln an seiner Identität sowie ein Ausdruck dessen, endlich sich selbst erkennen und für den richtigen Weg entscheiden zu können. Bloß, dass das Dilemma der beiden singenden Figuren, Walter und Gary, lautet, nicht zu wissen, ob sie (im Inneren) Muppet oder Mensch sind, was sie mit überaus dick aufgetragenem Kummer herausschmettern.
Trotz allem Humor in der Umsetzung ist es (dank McKenzies schön strukturierter Melodieführung und der emotionalen gesanglichen Darbietung) aber noch immer eine gelungene, ehrliche Form der Sinnkrisenbewältigung via Gesang. Powerballade auf Muppet-Art. Ich lieb's!
Platz 4: Alles ist grandios ("Life's a Happy Song") aus Die Muppets
Musik und Text von Bret McKenzie (dt. Fassung von Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)
Richtig gesehen: Die Muppets aus dem Jahr 2011 hat es sich sogleich zwei Mal in meinen Top 5 der besten Disney-Lieder der 2010er-Jahre bequem gemacht! Während Bret McKenzie mit Mann oder ein Muppet eine gefühlvoll-lustige Selbstfindungs-Powerballade geschaffen hat, ist dieser Eröffnungssong des formidablen Muppet-Quasi-Comebacks (sie waren ja nicht richtig weg, aber zweifelsohne ein paar Jahre nicht in Form und außerhalb der Aufmerksamkeit des Mainstreams) eine muppettastische Quintessenz des Happy Village-Song-Archetyps, der mich allein schon durch seine songschreiberische Dramaturgie gewinnt. Ich kann mir nicht helfen, aber ich bekomme allein schon dadurch eine Gänsehaut, wann im letzten Viertel des Songs wie eine Marschkapelle einsetzt und so das finale Gute-Laune-Crescendo dieser Nummer einleitet!
Vielleicht liegt es an der Attitüde, mit der McKenzie diesen Song geschrieben hat: Gegenüber der 'Los Angeles Times' erklärte er, dass Alles ist grandios als waschechte Musicalnummer aufblühen sollte, aber zugleich die Mechanismen einer Parodie haben müsse. Das Lied sollte, je nach Blickwinkel Gute-Laune-Eröffnungsnummern durch den Kakao ziehen oder einfach nur eine ernstzunehmende Gute-Laune-Eröffnungsnummer sein, die in die Vollen geht. Das passt nicht nur gut zu den Muppets generell und dem Film Die Muppets im Speziellen, sondern stützt auch wundervoll die Ausgangslage von Walter und Gary zu Beginn des Films:
Der völlig verblendete, nicht erwachsen gewordene Walter und der nur minimal gefestigtere Gary denken, ihr Leben sei superfröhlich, leichtfüßig und perfekt, während es an Mary nagt, dass Gary nicht einmal erkennt, dass er erwachsenere Verpflichtungen und Bindungen eingehen sollte. Geschweige denn, dass er fähig wäre, sie einzugehen. Dafür lebt er zu sehr in einer Traumwelt. Alles ist grandios kann also wahlweise eine Spur drüber sein und sich neckisch über Garys und Walters Heile-Muppet-Kuschelherz-Welt erheben oder aber mit flauschiger Begeisterung ein Loblied auf diese heile, funktionierende Welt sein, die in den folgenden Minuten zerstört wird, wenn Walter erfährt, dass die Muppets, nunja, mehr als nur ein simples Karrieretief durchmachen. Doch für die finalen Takte von Alles ist grandios ... ist alles grandios!
Platz 3: Lass jetzt los ("Let it Go") aus Die Eiskönigin
Musik und Text: Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez (dt. Fassung von Thomas Amper)
Was ist eine musikalische Disney-Hitliste in der Post-Eiskönigin-Ära ohne Lass jetzt los? Elsas große Powerballade hat die Welt im Eissturm erobert und hat sich innerhalb kurzer Zeit unwiderruflich an das "Disney-Erlebnis" festgeeist. Seit Beendigung der Eiskönigin-Kinoauswertung hatte ich keinen Disney-Parkbesuch mehr, ohne dass mir das Lied begegnet ist. Kaum eine Parade verzichtet auf diese Nummer, selbiges gilt für Disney-Lichterspektakel oder Eiskunstlauf-Tourneen. Geschweige denn für Disney in Concert-Veranstaltungen. Lass jetzt los hat sich zu einer disneykulturellen Stellung katapultiert, die Zip-a-dee-doo-dah Konkurrenz macht (und die Distanz zwischen den beiden Titeln wird nur noch wachsen), nunmehr über Hakuna Matata liegt, und nur von historisch gewachsenen, völligen Ausnahmetiteln wie Wenn ein Stern in finstr'er Nacht überschattet wird.
Und was soll ich sagen? Ich versteh's. Total. Mein Genöle über Die Eiskönigin als filmisches Gesamtwerk habe ich schon oft genug vom Stapel gelassen, dennoch bleibt Elsa eine hervorragende Figur und ihr großer Glanzlichtmoment bleibt für mich glasklar Lass jetzt los. Dass der Song gleichermaßen den Film vorwärtsbringt, wie er auch für sich stehend aufgeht, ist sicher Teil seines Erfolgsrezepts. Die Power-Performance der zahlreichen offiziellen Elsa-Stimmen weltweit und die kraftvolle Songdramaturgie, die die Stärken aus Musical und Pop vereint (als Inspirationen dienten gleichermaßen Menkens Nummern aus der Disney-Renaissance und Stücke aus Sweeney Todd wie die Stilistiken von Adele, Aimee Mann, Avril Lavigne, Lady Gaga und Carole King), runden dieses Paket formidabel ab.
Bekanntlich hatte Lass jetzt los ja sogar die Kraft, den ganzen Film zu verändern: Bevor das Lied geschrieben wurde, war Elsa noch schurkischer angelegt. Doch weil Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez Elsa als verschreckte, junge Frau sahen, die ihre Gabe weder zu kontrollieren, noch zu schätzen weiß, und während dieses Liedes all ihr Zaudern sich selbst gegenüber aufgibt, und dieses Lied einfach so kräftig und mitreißend war, musste halt der Film neue Wege einschlagen. Und auf diesen versuchen, qualitativ mit dem Song mitzuhalten. (Hier dürft ihr euch nun eure eigenen Gedanken machen, ob das aufging.)
Platz 2: Wo noch niemand war ("Into the Unknown") aus Die Eiskönigin II
Musik und Text: Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez (dt. Fassung von Thomas Amper)
Disney und die Popsong-Versionen seiner Filmsongs ... es ist ein ewiges Leid. In fast allen Fällen finde ich die Abspann-Cover der Filmlieder schwach oder gar zum Davonlaufen. Die Filmversionen sind einfach schöner, haben mehr Charakter und sind daher emotionaler. Aber es gibt sie, die berühmten Ausnahmen von der Regel. Elton Johns Can You Feel the Love Tonight schwebt meines Erachtens nach meilenweit über der Filmfassung des Der König der Löwen-Liebeslieds. Und auch wenn Wo noch niemand war in Die Eiskönigin II für mich zu den gelungensten Szenen gehört (egal ob in deutscher oder englischer Fassung), so gefällt mir das Lied nochmal um Längen besser, wenn nicht Elsa, sondern Panic! At the Disco es schmettert.
Das Arrangement von Into the Unknown im Abspann hat mit dem prägnanten Bläser-Einsatz und der poppig-rockig-opernhaften Dramaturgie (Wikipedia ordnet das Genre dieses Covers bezeichnenderweise als Pop-Rock, Showtune & Operatic Pop ein) glatt das Zeug dazu, in einem alternativen Universum das Titellied eines James-Bond-Films zu sein. Bevorzugt des ersten James-Bond-Films innerhalb eines Reboots. Das passt doch wie die Faust aufs Auge! Der Prolog ist zu Ende, der 007-Darsteller (oder die Darstellerin! Emily Blunt for Jane Bond, folks!) ist enthüllt, der erste Akkord von Into the Unknown ertönt und wir stürzen hinaus in eine bisher unerforschte, aufregende Bond-Welt!
Ich kann mir die dazugehörige Sequenz und glatt die ganze Tonalität des Bond-Films, der diesem Titelsong gebühren würde, förmlich vor dem inneren Auge ausmalen. Und das kommt wohl nicht von ungefähr. Denn: Der Text von Into the Unknown ist spezifisch genug, dass er ein detailliertes Kopfkino gestattet, hat man sich erst für ein Bild entschieden, das man mit den Lyrics und der klanglichen Attitüde der Nummer füllen möchte. Aber er ist vage genug, um vielfältige Deutungen zuzulassen. Das gibt dem Song ein großes Identifikationspotential und funktioniert auf filmischer Ebene als Wendepunkt, von dem aus der eigentliche Plot von Die Eiskönigin II ins Rollen kommt, ausgezeichnet. Es ist der Funken, der ein Abenteuer entfacht, und zugleich Inspirationsquelle für eine metaphorische Lesart von Elsas Reise.
Dass man sich im Hause Disney ziemlich uneinig war, wofür Elsas Reise steht, kann man in der herausragenden Dokumentarserie Into the Unknown auf Disney+ nachschauen, die auch zeigt, wie der Song (inklusive der Szene) Show Yourself (dt.: Zeige dich) im Produktionsprozess zum Stein des Anstoßes für ausführliche Debatten und Anreger von massig Arbeitsstress wird. Aber Into the Unknown, der die Story und die Parabel nicht auflösen muss, sondern sie nur in die Wege leitet, kann das völlig egal sein. Geht es um Abenteuerlust? Geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit einem Familiengeheimnis oder gar mit den Privilegien der eigenen Herkunft? Ist es Elsas "Wage ich es, mich mit meiner Sexualität auseinanderzusetzen und letztlich gegenüber meinen Liebsten – oder einfach nur ohne weitere Ausflüchte und Abwiegelungen, sondern in voller Klarheit mir selbst gegenüber – ein Coming Out in Erwägung zu ziehen?"-Song, in dem die Elsa lockende Frauenstimme wortwörtlich eine sie anziehende Frauenstimme ist, weshalb sie gedanklich ausdiskutiert, ob es den bedauerlichen, potentiellen gesellschaftlichen Gegenwind wert ist, und dieser Sehnsucht zu folgen, indem sie das ihr bisher Unbekannte zu erkunden wagt?
Gerade letztere Interpretation wird in der vom Film losgelösten, hymnenhafteren Pop-Rock-Version mit operettenhafter Schmetterqualität befeuert: Elsa wurde sowieso schon nach Teil eins von vielen Fans als Lesbe gelesen, und Lyrics wie "There's a thousand reasons / I should go about my day / And ignore your whispers", "I'm sorry, secret siren / but I'm blocking out your calls [...] I don't need something new / I'm afraid of what I'm risking if I follow you" und "Or are you someone out there / Who's a little bit like me? / Who knows deep down / I'm not where I'm meant to be?" sowie "are you out there? / do you know me?/ can you feel me? / can you show me?" fügen sich formidabel in solch eine queere Interpretation des Songs. Dass ein offener Pansexueller die Popvariante von Into the Unknown performt, schnürt das queere Päckchen noch hübsch zusammen.
Clark Spencer, Präsident der Walt Disney Animation Studios, fasste Into the Unknown in der 'Los Angeles Times' allerdings allgemeiner zusammen: Es ist seiner Ansicht nach ein Lied darüber, den Ruf der Bestimmung zu hören. Elsa zaudert zunächst, doch im Laufe dieses dramaturgisch mitreißenden, packend komponierten Songs überzeugt sie sich, keine Scheu mehr zu zeigen. Und egal, wie ich über den Film insgesamt denke: Dieser Song lässt mich Elsa gehörig anfeuern! Stürz dich ins Unbekannte, gute Frau!
Platz 1: Endlich sehe ich das Licht ("I See the Light") aus Rapunzel
Musik von Alan Menken, Text von Glenn Slater (dt. Fassung von Thomas Amper)
Vergleichsweise kurz nach Beginn der 2010er-Jahre hat sich Endlich sehe ich das Licht auf die Spitzenposition meiner liebsten neuen Disney-Lieder seit Veröffentlichung meiner ersten Musikalisches Immergrün-Reihe gesetzt. Und seither verharrt diese Pop-Ballade mit Folkrockeinflüssen auf dem Spitzenrang. Dieses Lied ist einfach wunderschön: Rapunzel und Eugene alias Flynn Rider singen hier nicht einfach bloß ein romantisches Duett - wenngleich Endlich sehe ich das Licht durchaus, zweifelsohne ein herrliches, emotionales Liebesduett ist. Aber zugleich ist diese herrliche Komposition von Alan Menken (und Texter-Spitzenleistung von Glenn Slater) auch ein introspektives, zerbrechlich-feinfühliges Lied über Wunscherfüllung, Selbsterkenntnis, Verletzlichkeit und diesen zarten, flüchtigen Augenblick, wenn man bereit ist, sich seinem bedeutsamen Gegenüber erstmals tiefgreifend zu öffnen.
Rapunzel und Eugene führen während Endlich sehe ich das Licht innere, gesungene Monologe darüber, etwas zu erreichen, das sie bis dahin für unerreichbar hielten - und nicht nur durch die dazugehörige Szene und ihre Umsetzung, auch schon dadurch, wie sie stimmlich ihre Zeilen betonen und verstärken, verändert sich im Laufe dieses Liedes die Bedeutung dessen. Der Schwerpunkt verlagert sich, von einem in sich geschlossenen, völlig insularen Wunsch zu einem geteilten Glück, was Endlich sehe ich das Licht so unfassbar romantisch macht: Es ist ein Liebeslied, das die einzelne Erfahrung der beiden Liebenden und das gemeinsame Erlebnis zugleich behandelt und ineinander verflechtet (womit der alberne US-Filmtitel Tangled fast beinahe ansatzweise rehabilitiert wäre).
Ursprünglich plante Menken eine kräftigere Komposition, eine Art Hymne, jedoch wurde Endlich sehe ich das Licht im Verlauf der Produktion von Rapunzel sanfter und "folkiger", was eigentlich nicht meine präferierte Rock-Subrichtung ist. Jedoch ist Endlich sehe ich das Licht in dieser Version so harmonisch und flüchtig-hübsch, dass es perfekt zum Text und dem Kontext der Szene sowie der Charakterisierung der Figuren passt, dass ich mir den Song gar nicht mehr als Powerhymne vorstellen mag. Ein Jammer, dass dieses Lied um den wohl verdienten Oscar als bester Song beraubt wurde. Aber dafür ist es die Nummer eins in dieser Hitliste. Ein schwacher Trost? Womöglich, aber ein unschlagbarer Abschluss für diesen ausgedehnten Countdown!
Montag, 7. Dezember 2020
Soul
Joe Gardner ist ein frustrierter Musiklehrer, der von Größerem träumt: Mit einer Jazzlegende auf der Bühne stehen und eine Profikarriere beginnen. Genau dieser Traum scheint sich ihm nun zu erfüllen. Doch dann kommt ihm etwas dazwischen: Der Tod. Nicht willens, ins Jenseits zu fahren, büxt Joes Seele aus und landet im Great Before, an dem Ort, an dem Seelen geformt werden, ehe sie ihre irdische Hülle erhalten. Dort lernt Joe 22 kennen, eine sture Seele, die auf gar keinen Fall ein Leben haben möchte. Ausgerechnet durch 22 könnte Joe seinem Ziel, wieder lebendig zu werden, näher kommen ...
Als bekannt wurde, dass die Pixar Animation Studios mit Soul einen Film planen, in dem die Seele eines Toten abspenstig wird, hatte ich sofort zwei Gedanken: "Natürlich ist das der neue Film von Alles steht Kopf-Regisseur Pete Docter!" und "Oh, ist das Pixars Irrtum im Jenseits?" Denn die wegweisende Komödie von Michael Powell und Emeric Pressburger aus dem Jahr 1946 handelt immerhin von einem Flieger, der nach einem Absturz aufgrund eines flüchtigen Zählfehlers nicht direkt ins Jenseits fährt und nun darum bangt, vollauf offiziell weiterleben zu dürfen.
Powell und Pressburger nutzen, wie zuvor Der Zauberer von Oz, sowohl Schwarz-Weiß-Fotografie als auch Technicolor, um ihre Geschichte zu erzählen und eine deutliche visuelle Grenze zwischen den Reichen zu ziehen. Doch anders als das legendäre Judy-Garland-Filmmusical zeigt A Matter of Life and Death (wie der deutlich treffendere Originaltitel von Irrtum im Jenseits lautet) unsere Welt in Farbe und die fiktive Spielwiese in Schwarz und Weiß. Erklärt wurde dies seitens des Filmemacher-Duos damit, dass es doch irrsinnig sei, die Welt, die wir alle in Farbe kennen, durch eine monochrome Ästhetik zu verzerren.
Hinzu kommt für mich aber auch folgender Reiz: Durch das Zeigen der Realität in glorreichem Technicolor und dem Leben danach in öde gehaltenem Schwarz und Weiß wird eine emotionale Distinktion getroffen. Das Hier ist vielseitig, einladend und voller Reize, das Da nicht. So wird das Leben schöner und (so simpel kann es sein:) lebenswerter gezeigt, was generell eine positive Grundhaltung ist und zweitens der Geschichte entgegen kommt - während in den Jahrzehnten danach ja so manche Filme über ein Jenseits den Weg gegangen sind, den Himmel bunter, fantasievoller und toller als die Wirklichkeit darzustellen. Was gelinde gesagt einen fragwürdigen Beigeschmack haben kann ...
Pixars Soul trennt das Leben und die von den Filmschaffenden gesponnenen Welten nicht 1:1 so wie zuvor Powell und Pressburger. Doch ich glaube, einen Einfluss von Irrtum im Jenseits zu erkennen. Oder zumindest eine vergleichbare Denkweise: Joes Wirklichkeit, namentlich New York City, wird auf eine Weise gezeigt, die ich als "Pixars Haus-Stil" bezeichnen würde:
Das Trickstudio aus Emeryville hat ein hervorragendes Händchen dafür entwickelt, Landschaften und die Elemente naturalistisch abzubilden. So detailgetreu, dass sie im ersten Augenblick täuschend echt wirken, doch schaut man genauer hin, sind sie dezent stilisiert, zumeist, um schöner als echt zu sein, quasi ein Idealbild dessen zu werden, wie es in echt aussehen sollte. Lebewesen wiederum sind bei Pixar karikiert, was uns die sogenannte Uncanny Valley erspart (den Effekt, das etwas sehr echt, aber nicht überzeugend genug, und daher abschreckend aussieht), und zudem die Persönlichkeit der Trickfiguren greifbarer macht und ihnen mehr Ausdruck verleiht. Und so, wie in Ratatouille Paris nicht wie das echte Paris, sondern der Traum vom echten Paris erscheint, ist Souls New York City die Idealversion von New York (inklusive aller Macken, die New Yorks Bevölkerung aber zu lieben gelernt hat).
Die Fantasiewelten von Soul dagegen sind neue Design-Meisterleistungen Pixars. Die Kunstschaffenden aus dem Trickhaus haben sich richtig ausgetobt und Wesen geschaffen, die an Drahtskulpturen erinnern, sowie Aerogel-Bäuschen und Monsterchen aus schwarzblauem Glitzersand. Die bildästhetische Verspieltheit von Alles steht Kopf geht hier munter weiter - aber auch mit einem klaren Konzept: Alle Winkel der nicht irdischen Welten sind in sich sehr reduziert - sie haben in sich harmonische, aber auch stark begrenzte Farbspektren und auch hinsichtlich der Texturen besteht nur wenig Varianz. Es ist für die Laufzeit des Films eine Wonne, sich diese Designeinfälle anzuschauen - aber es lädt nicht gerade dazu ein, darin ein Leben zu verbringen. Da ist die Erde, wie Pixar sie zeigt, mit ihren mannigfaltigen Reizen und faszinierenden Imperfektionen wesentlich einladender.
Das spielt nicht nur dem in die Karten, was hier als Joes Ziel skizziert wird. Es ist auch auf beiläufige, zugleich konstante Weise wundervoll lebensbejahend. Soul ist, und das ohne verkrampft geschriebene, kitschig vermittelte Moral-Monologe, ein erhellender, gutherziger, rührender Film darüber, wie sehr wir das Leben genießen sollten. Docter und seine Crew reden nichts schön, dies ist kein Film darüber, dass man sich etwas nur genug wünschen muss, und es geht in Erfüllung. Stattdessen dreht sich Soul darüber, dass es auch mal dreckig und schwierig und frustrierend und einsam werden kann - nur dass die Gesamtheit des Lebens eben doch zu wertvoll ist, um sich davon dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen.
Ich wünschte, ich hätte Soul im Kino sehen können, statt ihn als Presse-Screener mit riesigem Wasserzeichen im Bild zu sehen. Und doch habe ich mehrmals Tränchen verdrückt, einfach, weil Soul gestalterisch wunderschön ist und ebenso wunderschön erzählt wird. Das dürfte euch einen Eindruck verschaffen, wie sehr mich das Storytelling dieses Films gepackt hat. Denn zusätzlich zur bereits erwähnten visuellen Gestaltung und dem sehr effektiven Score von Trent Reznor & Atticus Ross (machen den warmen, ätherischen Score für das Nicht-Diesseits) und Jon Batiste (verantwortlich für die beseelten Jazz-Passagen) hat mich auch die Figurenzeichnung begeistert.
Joe ist so genau geschrieben, dass er als Figur vollauf glaubwürdig und echt wirkt, aber auch so allgemein gehalten, dass er als Identifikations-Spiegel funktioniert, und 22 ist ein liebenswert-schrulliger Dickschädel. Das führt zwangsweise zu sehr viel Dialoghumor und Situationskomik - und die vielen, vielen, nie aufgesetzt wirkenden Lacher machen diese nachdenklich stimmende, rührende Geschichte nicht bloß verdaulicher. Sie sind essentiell, um diese positive Story authentisch zu vermitteln. Denn ein nachdenkliches, rührseliges Drama darüber, wie schön das Leben allen Hürden zum Trotz ist, trägt nahezu zwangsweise das Päckchen mit, so zu wirken, als würde es sich verstellen, damit man es ernst nimmt. Soul dagegen ist, wie es ist.
Soul ist ab dem 25. Dezember 2020 auf Disney+ abrufbar.