Wann immer Leute rummaulen, Popcorn-Kassenschlager wie Avengers || Endgame würden das Kino zerstören, kriege ich einen inneren Schreikrampf. Denn diese Statements zeigen sich vollkommen ignorant gegenüber der Realität des Standorts Kino: In einer Ära, in der sich Millionen und Abermillionen von Menschen einreden, Filme seien umsonst, wenn sie als Teil einer monatlichen Flatrate angeboten werden, wurde der "Dafür gehe ich ins Kino"-Impuls zahlreicher Personen nun einmal kleiner. Das ist eine Entwicklung, die schon vor dem Aufkommen des Marvel Cinematic Universe begonnen hat. Man schaue sich bloß einmal die sinkende Erfolgskurve von Dramen und Komödien mittleren Budgets in den USA an, wo Kabelfernsehen und Netflix deutlich früher und stärker Einfluss auf das Kinokonsumverhalten hatten als in Westeuropa.
Filme wie Avengers || Endgame sind nicht der Untergang des Kinos, sondern deren Notnagel, den es benötigt, solange Otto und Anna Durchschnittskonsum denken "Ach, ich hab keine Lust, Geld auszugeben und vor die Tür zu gehen, ich schau was auf Netflix". Und ein Umdenken wird angesichts der Nachrichtenlage 2020 so rasch nicht eintreten. Aber es gibt noch einen Grund, weshalb das MCU nicht den Untergang des Kinos bedeutet: Zahlreiche "Verbrecher" nehmen die Gage für ihren "Verrat an der Kunst", um Filme zu finanzieren, die sonst nicht gemacht worden wären oder zumindest weniger Verbreitung gefunden hätten. So haben die Brüder Joe & Anthony Russo ihre satten Marvel-Gehälter genommen, um AGBO zu gründen, ein Label, das seither unter anderem die großartige Gesellschaftssatire Assassination Nation vertrieben hat und (gemeinsam mit Jake Gyllenhaal) Relic mitfinanzierte, das feinfühlige, gefühlvoll-schaurige Regie- und Drehbuch-Langfilmdebüt von Natalie Erika James.
Und als sensible Grusel-Auseinandersetzung mit Mutter-Tochter/Enkelin-Mutter-Großmutter-Dynamiken, in denen Verständnis und Einfühlungsvermögen bedeutendere Komponenten sind als Terror, Twists, Schrecken und blutige Konflikte ist Relic kein Stoff, der mal eben finanziell gestemmt, umgesetzt und der Masse zugänglich gemacht wird, noch dazu auf diesem Niveau.
Als Kay (Emily Mortimer) von den Nachbarn ihrer Mutter Edna (Robyn Nevin) besorgniserregende Nachrichten erhält, fährt sie prompt mit ihrer Tochter Sam (Bella Heathcote) in ihr altes Elternhaus: Edna sei nicht mehr ganz sie selbst. Nachdem sie vor wenigen Monaten beinahe einen fatalen Haushaltsunfall hatte, sei es kürzlich zudem zu einem weiteren schrägen Vorfall gekommen. Und nun ist sie auch noch spurlos verschwunden. Kay und Sam gehen schon vom Schlimmsten aus, als sie im Haus mitten im Wald ankommen. Tatsächlich finden sie es leer vor, Wände und Lebensmittel sind bereits von Schimmel befallen. Überall sind Notizzettel, teils mit simplen Alltagserinnerungen, teils mit ominösen Anweisungen. Als Edna plötzlich wieder auftaucht, voller blauer Flecken, von denen sie selber nichts zu wissen behauptet, überkommen Kay und Sam große Sorgen: Geht hier mehr vor als Demenz? Sie wissen nur eines: Edna braucht ihre Familie. Und zwar jetzt! Aber kann Edna das akzeptieren ..?
Wer bei Relic den Psychoterror von Hereditary erwartet oder geisterhaften Grusel, der nebenher auch das Thema Demenz behandelt, ist bei Relic an der falschen Stelle. Natalie Erika James verzichtet vollkommen auf Jumpscares, nennenswerte Gewaltausbrüche oder eine verschachtelte Mythologie. Es gilt keinen Fluch zu entschlüsseln, einen übernatürlichen Schurken zu bezwingen oder durch literweise Ekeleffekte zu waten. James stellt ihr Publikum nicht einmal vor ein verschachteltes Rätsel, sondern legt schon früh im Film inszenatorisch die Karten auf den Tisch: Ihr Film ist eine einzige, große (genreesk überspitzte) Analogie auf das Gefühl, seine (Groß-)Eltern beim Älterwerden zu erleben, und auf alle Gedanken und Gefühle, die damit einhergehen.
Dadurch, dass James sämtlichen Plotmechanismen, die mit einer verkopften Verarbeitung dieses Themenkomplexes einhergehen würden, gar nicht erst anpackt, sondern früh und zielstrebig den Pfad einschlägt, assoziativ ihre Emotionen in bewegte Bilde zu kanalisieren, gibt es keine Nüsse zu knacken. Keine Ebenen kaputt zu analysieren, um Relic erst einmal auf den Grund zu gehen. So deutlich, wie Ednas Kondition ist, ist auch die Frage, worauf Relic hinausläuft. Und das ist hier durch und durch positiv gemeint. Es bahnt den Weg für eine herzlichere Geschichte. Und tiefer verborgene, existenziellere Befürchtungen.
James kreiert mit Relic eine sehr kunstvolle, berührende filmische Konfrontation mit dem Gespenst namens Altern, und die nachtschwarz-melancholische Weise, wie sie damit verbundene Ängste in Filmbilder und unerklärliche Geschehnisse überträgt, bohrt tiefere Löcher in die Seele als es die meisten Fließband-Geisterschocker tun. Zumal James die unmissverständliche Parabel, die sie erzählt, damit ausschmückt, dass sie den Grusel emotional nuanciert verankert.
Kay und Sam durchlaufen sowohl Ängste um Edna ("Was, wenn ihr was passiert?"), als auch Ängste vor Edna ("Was macht sie da nur?") und um/vor sich selbst ("Was, wenn ich auch so werde ... oder schon bin?"), die Emily Mortimer und Bella Heathcote gleichermaßen genregemäß (was diesem einfühlsamen Horrorfilm weiterhin eine beklemmende Grundstimmung verleiht) wie berührend-feingliedrig zur Schau stellen. James derweil beweist in Sachen Bildgestaltung, Kameraführung und (vor allem im Finale) zusammen mit ihrem Editing-Duo Denise Haratzis & Sean Lahiff im Schnitt schon bei ihrem Langfilmdebüt großes atmosphärisches Verständnis des Mediums, indem sie ein "irrationale Wahrheiten" visualisiert, also das Innenleben unmittelbar nach außen kehrende Bilder schafft.
Fazit: Relic ist waschechter Old-School-Grusel nach Schule des frühen, dunkelemotionalen Schauerkinos. Nichts für Fans des schnellen Schocks - und zugleich einer der betrüblich-schönsten Filme des Jahres.