Geht es um wenig bekannte, atypische Disney-Kurzfilme, wird liebend gern auf die Weltkriegs-Propagandafilme wie Reason and Emotion verwiesen, oder aber auf The Story of Menstruation. Noch obskurer dürfte aber ein Film aus dem Jahr 2014 sein: Lucid Dreams of Gabriel. Dieser experimentelle Realkurzfilm erzählt auf surreale und non-lineare Weise die Geschichte einer Mutter, die einen Weg sucht, ihrem Sohn nahe zu sein.
Lucid Dreams of Gabriel behandelt den Übergang vom Leben ins Jenseits und spielt sich auf mehreren Ebenen ab: In der realen Gegenwart, der Welt des Übernatürlichen und einem luziden Traum, der Erinnerungen und Wunschvorstellungen vereint.
Geschrieben und in der Schweiz gedreht von Sasha A. Schriber, dient Lucid Dreams of Gabriel primär einem Zweck: Der Erforschung der erzählerischen Möglichkeiten einer höheren Bildrate. Während die Realweltszenen mit 24 Bildern pro Sekunde gefilmt wurden, wurde der Rest des Films mit 48 Bildern die Sekunde gedreht. Man versuchte also, so etwas herzustellen wie in Tron: Legacy oder Coraline, wo die reale Welt und die digitale / magische Welt durch 2D und 3D getrennt werden. Darüber hinaus ist Lucid Dreams of Gabriel ein frühes Exempel für High Dynamic Range, also eine besondere, brillante Farbdarstellung. Außerdem werden einzelne Pixel manipuliert, um einen "Zeitverlaufeffekt" zu erzielen.
Der Kurzfilm ist eine Arbeit der Züricher Disney-Rechercheabteilung, die sich insbesondere in Computeranimationstechnologien ihren Ruhm erarbeitet hat. Vor diesem Hintergrund muss Lucid Dreams of Gabriel auch dringend betrachtet werden: Die Absicht hinter dem Film war es, unterschiedliche Gruppen innerhalb Disney Research Zurich zusammenzubringen, indem sie an einem gemeinsamen Ziel arbeiten, den Nachforschungsgruppen vorzuführen, wie schwierig selbst die Produktion eines Kurzfilms sein kann, und schlussendlich, wie schon erwähnt, sowie vor allem, um Vorführmaterial für das Potential von 48 fps zu haben. Es ist kein klassischer Disney-Kurzfilm.
Diese Ausgabe von Musikalisches Immergrün ist voll mit Spoilern für Teen Beach 2, Rapunzel - Die Serie, Once Upon a Time in Hollywood undRyan Murphys Netflix-Serie Hollywood. Ihr seid gewarnt!
Platz 30: What's My Name aus Descendants 2
Musik: Tom Sturges und Adam Schmalholz, Text: Antonina Armato, Tim James, Thomas Sturges, und Adam Schmalhol
Unter anderem produziert von Rock Mafia, dem Produktions-Duo, das unter anderem mit Eminem, Gwen Stefani, Green Day, Mariah Carey, Justin Bieber, Flo Rida, Ellie Goulding und Tokio Hotel zusammengearbeitet hat und sich in jüngeren Jahren dem Disney Channel und seinen Stars öffnete, präsentiert sich dieser Schurkinnensong als eine wuchtige Mischung aus Electrohop und Pop-Rap. Tja, es ist halt ein modernes Disney-Channel-Musical. Da sind solche Stilmischungen an der Tagesordnung. Und da China Anne McClain alias Ursulas Tochter Uma eine ziemlich voluminöse Stimme mitbringt, die an den ganzen Beats und Soundeffekten vorbeischmettern kann, ist dieser Egoboost-Fieslingssong auch schön kraftvoll geraten. Macht Spaß!
Platz 29: Ich bin Tex Richman ("Let's Talk About Me") aus Die Muppets
Musik: Bret McKenzie, Text: Ali Dee Theodore (dt. Text von Christine Roche & Klaus-Rüdiger Paulus)
Einst produzierte Disney einen Film über eine Gruppe filzig-haariger, musikalischer Gestalten, die sich nach einer langen, gefeierten Karriere zerstritten haben. Nun will ein raffgieriger Geldhai die letzte Gedenkstätte an ihr Vermächtnis zerstören. Und zwar aus Gier. Und aus Rache daran, dass sie (in seinen Augen) einst daran Schuld getragen haben, dass er blamiert wurde. Aber genug von Die Country Bears. Lasst uns über Die Muppets reden.
Die Parallelen zwischen den beiden Disney-Musikkomödien mit genialen Puppentricks, die entweder aus Jim Hensons Puppenschmiede stammen oder einst aus ihr stammten, sind frappierend. Auch wenn Die Muppets eine Parallele aus dem Film gekürzt hat: Ursprünglich sollte Tex Richmans albern-selbstsicherer, prahlerischer Song auch von seiner peinlichen Muppet-Begegnung handeln. Das ist im Bonusmaterial der Blu-ray und auf dem Soundtrackalbum noch zu hören. Aber auch in der gestutzten Filmfassung ist diese wunderbar-dämliche Nummer ein großes Vergnügen.
Platz 28: Es ist vorbei ("Crossing the Line") aus Rapunzel - Die Serie
Musik: Alan Menken, Text: Glenn Slater (dt. Text von?)
Rapunzel - Die Serie ist ein wichtiger Baustein in dem Gebilde, das ich "Das neue Goldene Zeitalter der Disney-Serien" nennen möchte. Denn neben den neuen DuckTales, Willkommen in Gravity Falls, Die Legende der Drei Caballeros und Tron - Der Aufstand setzt auch Rapunzel - Die Serie auf eine bestechende Balance zwischen "Jede Episode steht dank eines Gimmicks oder eines klaren, abgeschlossenen Storybogens für sich" und einer horizontalen Erzählweise. Darüber hinaus vertieft die Rapunzel-Serie die Figuren aus dem Originalfilm, statt sie abzuflachen - das ist wahrlich nicht jeder Disney-Trickserie, die auf einem abendfüllenden Trickfilm basiert, vergönnt gewesen. Auch die neuen Figuren sind komplex - mit einer erstaunlichen/verwunderlichen Tendenz dazu, ins Machtgeile zu verfallen. Es ist vorbei ist eine echt starke, mit gesundem Pathos versehene Nummer, die Cassandras Wandlung fesselnd zur Schau stellt.
Platz 27: That's How We Do aus Teen Beach
2
Musik und Text: Mitch Allan, Dan Book und Nikki Leonti
Es ist drehbuch- und songschreiberisch eine nicht genügend gewürdigte Leistung von Teen Beach 2, dass der Film einen schönen erzählerischen Bogen schlägt: Jeffrey Hornadays Musicalkomödie eröffnet mit einem Song, der gleichzeitig als Opener für Teen Beach 2 funktioniert als auch als Schlusssong des Films-im-Film Wet Side Story glaubwürdig ist. Zum Abschluss von Teen Beach 2 erklingt derweil ein Lied, das sowohl die perfekte Finalnummer dieses Films ist wie auch eine sehr plausible Eröffnungsnummer für den Film-im-Film. Aber damit noch nicht genug, denn Hornaday und die Teen Beach 2-Autoren Matt & Billy Eddy haben sich 2015 mit diesem Disney-Channel-Original-Movie-Streich in filmhistorischem Revisionismus geübt, bevor Quentin Tarantino und Ryan Murphy dafür gesorgt haben, dass es en vogue ist.
Denn dieses ach-so-seicht-wirkende, sommerliche Disney-Channel-Musical haut einen exquisiten, aussagekräftigen Twist heraus, dessen Botschaft zwar bereits 2015 vollauf angebracht war, jedoch erst wenige Jahre später zu einem thematischen Dauerthema im leichtgängigen US-Filmoutput werden sollte: Nachdem die Hauptfiguren des kitschig-stereotypen, aber auch sehr charmanten 1960er-Strandmusicals Wet Side Story einige Zeit in der realen Gegenwart verbracht haben, müssen sie zum Wohle der Existenz ihrer zurückgelassenen Freunde in die moralisch überholten und beengenden Begrenzungen ihres heimeligen Films zurückkehren. So fürchten sie jedenfalls. Aber: In einem sich einen feuchten Kehricht über "So waren solche Filme damals halt!"-Argumentationen kümmernden Twist, bekommt die in Wet Side Story bloß als rebellisch-hübsche, sich dennoch als Grazie in Nähe ihres vom System angestammten Platz fügende Lela, die den sozialen Fortschritt lieben gelernt hat, eine Botschaft von unserer dieserweltlichen Protagonistin Mack gesteckt: "Mach die Geschichte zu deiner eigenen!"
Teen Beach 2 endet damit, dass die Rückkehr der nun aufgeklärten und angespornten Wet Side Story-Nebenfigur nicht nur ihren Film veränderte, sondern somit auch die reale Welt von Teen Beach 2: Aus dem zwar liebenswerten, allerdings auch arg verstaubten und rückständigen Film Wet Side Story wurde durch Lelas neu erworbenes, feministisches Selbstbewusstsein das für seine Zeit revolutionäre Strandmusical Lela - Queen of the Beach mit einer starken, nuancierten, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmenden Protagonistin.
In der Welt von Teen Beach 2 mutierte somit Lelas Film von "einem besonders kurzweiligen von vielen Strandmusicals", das nur ein paar nostalgisch-nerdige Filmfreaks kennen, zu einem aussagekräftigen, inspirierenden Kult-Dauerbrenner der Güte eines Rocky Horror Picture Show oder gar mehr. Das wiederum führt dazu, dass Teen Beach Movie- und Teen Beach 2-Protagonistin Mack den Film nicht mehr bloß halb augenrollend, halb schmunzelnd genießt, weil sie von ihrem Freund mit aller Macht mit der Nase auf ihn gestoßen wird (und sind wir ehrlich: Viele von uns haben geliebte Menschen vehement an alte Filme herangeführt, die uns etwas bedeuten, ihnen aber nichts zu bieten haben), sondern den Film mit ganzem Herzen zelebriert. Und mit ihr feiern auch Dutzende von andere Jugendliche Lelas Leinwandabenteuer auch noch im Heute, weil dieses neue, feministische Strandmusical für die Jugend der Gegenwart mehr Identifikationspotential bietet als der nostalgische Rücksturz Wet Side Story, den wir im Teen Beach-Filmuniversum bis dahin erlebt haben.
Teen Beach 2 schreibt für sein konsequent die Bedürfnisse seiner weiblichen Figuren verfolgendes Happy End also mal eben die Regeln eines spießig-spaßigen Subgenres neu (an dem sich auch Disney-Legende Annette Funicello beteiligte) - und unser Protagonist Brady hat auch etwas davon, weil er nunmehr seine Retrofilm-Begeisterung auf Augenhöhe mit der Frau seiner Träume teilen kann. Die Aussage des Ganzen könnt ihr euch ja wohl selber zusammenreimen.
That's How We Do erzählt all dies in etwa sechs flippigen, flotten, quirligen Minuten, die gespickt sind mit keck-altmodischem 50er/60er-Jugendfilm-Jargon und einer fröhlichen Melodie, während textlich die Logik der Wet Side Story-Songs sinnvoll weitergedacht wird: Während Bradys "Das war doch voll cool, oder?"-esk an Andere herangetragener Lieblingsfilm, der sich der eigenständigen Mack nicht erschlossen hat, mit so seichten, nichts hinterfragenden oder inspirierenden Feststellungen wie Best Summer Ever aufwartet, trällert That's How We Do auf verspielte, überhaupt nicht didaktische, sondern selbstredende Art und Weise daher, dass Mann und Frau gleichermaßen den eigenen Kopf verfolgen kann, und dass etwaige Differenzen bloß zu einem vergnüglichen Miteinander führen, solange wir alle kooperativ-freundlich gestimmt sind. THAT'S How We Do!
Platz 26: Come Dream a Dream aus Disneyland Paris
Musik und Text: Joel McNeely
Im Disney-Themenpark-Sprech ist das große Nachtspektakel der Gutenachtkuss für das Publikum - denkt man das weiter, so ist Come Dream a Dream der wohl zärtlichste Kuss, den Themenpark-Disney seinen Fans je gegeben hat. Denn dieser nach einer kurzen Atempause nach dem betörend schönen Lichter-, Farb-, Musik- und Feuerwerkspektakel Disney Dreams! erklingende Song mit sanftem Gesang von Cara Dillon ist ein liebevolles, beruhigendes, leicht-melancholisches Abschiednehmen hinein in die Nacht, wie es im Buch der Träume steht. Hach.