Donnerstag, 21. September 2017
Girl on the Train
Die sündige Freude am Voyeurismus und ihre Wechselwirkung mit den erschütternden Selbsterkenntnissen, die der Blick auf die Leben Anderer provoziert: Dies sind die Elemente, die Paula Hawkins im verlässlich ruckelnden Takt eines Regionalzuges auf ihre Leserschaft loslässt, die sich auf eine Pendelfahrt in die Psyche dreier gänzlich unterschiedlicher, doch schicksalhaft verbundener Frauen eingelassen hat. Angesichts dessen, wie Hawkins in ihrem Thrillerroman Girl on the Train familiäre Situationen, abgrundtiefe psychologische Einblicke und raue Eskalationen an einem vorbeirattern lässt, verwundert es nicht, dass der Schmöker zu einem weltweiten Bestseller wurde.
Dass die Pendlerin-gerät-durch-ihre-Beobachtungen-in-eine-ihr-Wesen-aufrüttelnde-Ermittlung-Kriminalgeschichte bereits ein Jahr nach ihrer Erstveröffentlichung auf die Leinwand kam, ist Verdienst der Materialsucher bei DreamWorks Pictures: Noch bevor Girl on the Train überhaupt in die Bücherregale gelangte, befand sich dank ihnen das Manuskript bereits in den Händen des Filmproduzenten Marc Platt. Der Into the Woods-Produzent sah großes Potential in Hawkins‘ Material und bereitete die Leinwandadaption vor, ehe auch nur ein einziger Normalsterblicher den Pendelweg mit der Titelfigur bestreiten konnte. Am Tag des Verkaufsstarts fand die Verfilmung in Erin Cressida Wilson (#Zeitgeist) ihre Drehbuchautorin. Als die Marke von elf Millionen verkauften Buchexemplaren passiert wurde, standen die weiblichen Hauptdarstellerinnen fest. Und rund ein halbes Jahr nach Verkaufsstart der deutschen Übersetzung waren die Dreharbeiten schon beendet.
Durch dieses vorausschauende Handeln gelang es den Filmverantwortlichen, gewissermaßen vorzeitig auf den Erfolgszug aufzuspringen – und sich nun von der Antriebskraft der populären Romanvorlage ziehen zu lassen. Bedauerlicherweise spiegelt sich die Zügigkeit, mit der Girl on the Train fürs Kino entstanden ist, in der Erzählweise der Bestsellerverfilmung wider: Wilson und Regisseur Tate Taylor (The Help) brettern durch sämtliche relevanten Haltepunkte der ursprünglichen Geschichte, wodurch es ihnen zwar gelingt, die Bestsellerstory auf weniger als zwei Filmstunden zu kondensieren, ohne dabei narrativ unerlässliche Abschnitte zu opfern. Was ihnen jedoch abhanden kommt, sind die bedeutsamen Aspekte Atmosphäre und Suspense sowie die Feinheiten der handelnden Rollen.
Die wichtigste dieser Figuren ist Titelheldin Rachel, gespielt von einer völlig in ihrer Darbietung verschwindenden Emily Blunt: Die geschiedene Alkoholikerin verlor vor einiger Zeit ihren Job, gaukelt ihrer Freundin und WG-Mitbewohnerin Cathy (Laura Prepon in einer unauffälligen Rolle) jedoch vor, weiterhin berufstätig zu sein, indem sie täglich in die New Yorker Innenstadt pendelt. Auf ihrem vermeintlichen Arbeitsweg kommt Rachel stets an ihrem früheren Wohnviertel vorbei, das unmittelbar hinter der Bahnstrecke liegt. Aufgrund einer Baustelle hält der Zug verlässlich an diesem Streckenabschnitt, so dass Rachel die Nachbarn ihres Ex-Mannes Tom (Justin Theroux) beobachten kann: Ein junges Pärchen, auf das Rachel ihre Sehnsüchte projiziert. Für sie sind Scott (Luke Evans) und Megan Hipwell (Haley Bennett) das perfekte, sinnliche, leidenschaftliche junge Paar. Sie leben das Glück, das Rachel von der Maklerin Anna Boyd (Rebecca Ferguson) genommen wurde, als sie ihr ihren Gatten ausgespannt hat. Diese lebt nun als eifrig ihr Revier verteidigende Mutter in dem Haus, das Rachel einst liebevoll eingerichtet hat.
Als sie eines Tages beobachtet, wie sich Megan auf ihrer Veranda in die Arme eines anderen Mannes als Scott begibt, bricht für Rachel nun auch ihre Traumwelt zusammen. Wenig später ist Megan spurlos verschwunden, es steht die Theorie im Raum, dass sie ermordet wurde – und Rachel ist im Gedanken festgefahren, dass Megan aufgrund ihrer augenscheinlichen Affäre das Zeitliche segnen musste. Oder steigert sich Rachel nur in diesen Fall hinein, um den in ihr schlummernden Verdacht zu verdrängen, sie habe Megan im Rausch zu Tode geschlagen?
Der Großteil der Handlung wird streng aus Rachels Sicht erzählt, inklusive alkoholinduzierter Blackouts, verwaschenen Erinnerungen und einem von Danny Elfmans eisiger, disharmonischer Musikuntermalung (im Stile der Gone Girl-Komponisten Trent Reznor & Atticus Ross) und einer herbstlich-nassen Bildsprache verstärkten Gefühl der Paranoia. Rachel lebt in einer hilflosen Situation in einer trostlosen Welt, illustriert durch Charlotte Bruus Christensens Kinematografie, die in matschigen Grau-, Grün- und Brauntönen sowie mit verschwommenem Fokus daher kommt. Von dieser Grundstimmung angetrieben gibt Blunt eine emotional aufgekratzte Performance ab: Die Sicario-Hauptdarstellerin wechselt mit faszinierender Intensität zwischen versoffen-aggressiv, trunken durch Selbstmitleid (und einem Übermaß an Alkohol) und verbissen an sich sowie dem ihr aufdrängenden Kriminalfall arbeitend. Blunt formt Rachel zu einer mehrfach gebrochenen Persönlichkeit, die in dem einen Moment Mitleid erweckt und im anderen durch ihre Manie abstößt.
Weitere Sequenzen werden, wie schon im Buch, aus der Sicht Megans und Annas erzählt, wobei Wilson und Taylor die Handlungsfäden rund um Megans Sinnsuche und Annas Verteidigung ihres gemachten Nests so arg auf reine Funktionalität runterkürzen, dass es kaum möglich wird, ein umfassendes Gefühl für diese Figuren zu bekommen. Hardcore-Grazie Haley Bennett erhält zumindest die Möglichkeit, Megan als verträumte, etwas weltferne unruhige Frau zu skizzieren, die mit ihrer Umtriebigkeit ein bitteres Trauma verbirgt. Doch das Skript lässt dieser Figur kaum Zeit zum Atmen. Somit stellt Megan lediglich eine Figur der extremen Emotionen dar, deren Persönlichkeit hinter diesen Launen nicht rüberkommt.
Rebecca Ferguson (Mission: Impossible – Rogue Nation) letztlich wird als Anna sträflich unterfordert und mimt praktisch nur die besorgte Ehefrau und Mutter – dass sie trotzdem als Dreh- und Angelpunkt einiger Sequenzen auftritt, ist bloß ein Relikt aus der Romanvorlage. Es scheint ein Versuch der Filmemacher zu sein, Buchszenen, in denen Anna die Handlung vorantreibende Entdeckungen macht, vorlagengetreu auf die Leinwand zu retten. Dabei missachten sie den neu erschaffenen Filmkontext: Der Girl on the Train-Film ist stärker auf Rachel zentriert als der Roman, die eine verdrossene Stimmung aufbauenden, storytechnisch verzichtbaren Anna-Szenen sind der Schere zum Opfer gefallen. Dennoch für kurze, nun mehr losgelöst dastehende Momente Anna in den Fokus zu rücken, nimmt dem Film an narrativer Schärfe.
Aber selbst die Sequenzen rund um Rachel leiden darunter, dass sie mit großer Anstrengung auf die entscheidenden, den Plot vorwärtstreibenden Schlagmomente reduziert sind. Tate Taylor lässt Blunts nervliches Wrack kaum ruhen, verwechselt dabei aber eine brutal verdichtete Story mit einer den Atem raubenden Dramaturgie. Ohne Momente des Innehaltens, des Alltags oder des sich schleichend zeigenden Wandels in Rachels Persönlichkeit wird aus einer Erzählung eine Zusammenfassung: Fast jede Szene bringt Girl on the Train näher an die grafische Auflösung des großen Rätsels, während die Befindlichkeit der Protagonistin, ihr Kampf mit sich selbst und ihrem Umfeld nur nebensächlich sind.
Dies zeigt sich am stärksten dadurch, dass die Figuren von Justin Theroux und Luke Evans fast nur Fußnoten darstellen. Weshalb Rachel ihrem Ex nachtrauert? Was macht ein Verbalangriff Scotts mit ihr? Daran rauscht Girl on the Train vorbei – es reicht, diese Situationen zu adressieren, weil sie unvermeidliche Etappen auf dem Weg zum Ende darstellen. Da die Cutter Michael McCusker (Todeszug nach Yuma) und Andrew Buckland (Wolverine: Weg des Kriegers) nur gelegentlich die Wechsel zwischen Erzählsträngen und Zeitebenen klar markieren, gerät die Narrative des Films letztlich so verkürzt, dass die gewaltige Informationsdichte das Spannungspotential der Geschichte völlig überrollt: Es passiert stets etwas, Blunt reagiert darauf erschütternd, aber die Handlung erwacht nicht zum Leben, die Figuren zeigen nur ihre Persönlichkeit, statt sich dem Publikum gänzlich zu offenbaren. Die Konsequenz dessen: Wenn dieser Filmzug seine Endstation erreicht, sind zwei Stunden vergangen und die Geschichte hat sich zügig von A nach B bewegt. Eine erfüllende, stimmige und bewegende Reise stellte diese Hatz allerdings nicht dar.
Fazit: Eine auf den Inhalt gut abgestimmte, atmosphärische Optik und eine starke zentrale Performance sind manchmal einfach nicht genug: Girl on the Train ist ein so rastlos funktional erzählter Thriller, dass die Emotionen der Geschichte zum Erliegen kommen.
Diese Kritik erschien zuerst bei Quotenmeter.de
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