Der Kritikerdiskurs rund um Timur Bekmambetovs Ben Hur ist ein Diskurs voller Missverständnisse. Unentwegt wird das Sandalenepos wenig schmeichelhaft mit dem „Original von 1959“ verglichen. Dass William Wylers mit elf Academy Awards prämierter Monumentalfilm kein Leinwandstoff ist, der ohne jegliche Vorlage vom Himmel fiel, wird nur gelegentlich angerissen. Alles führt auf den in rauen Mengen verkauften Roman Ben Hur zurück, den der Politiker Lew Wallace 1880 veröffentlichte. 1907 wurde er lose als fünfzehnminütiger Stummfilm adaptiert, 1925 folgte ein 142-minütiger Film, der teils in Schwarzweiß, teils in Farbe gedreht wurde. Je nach Standpunkt ist das vermeintliche Original also entweder die dritte Hollywood-Verfilmung eines monströsen Bestsellers oder das Remake eines Remakes einer Romanverfilmung.
Zumindest ein Filmhistoriker, der sich etwas darauf einbildet, filmische Meilensteine möglichst unantastbar darzustellen, dürfte im Falle des Charlton-Heston-Klassikers erstere Beschreibung bevorzugen. In dem Fall ist es aber nur fair und konsequent, auch Timur Bekmambetovs Abenteuerepos nicht als Remake zu beschreiben. Geschweige denn als Remake eines Remakes eines Remakes eines Remakes einer Bestsellerverfilmung (schließlich gibt es ja noch eine internationale Fernsehadaption von 2010). Und ganz gleich, ob nun der Begriff Neuverfilmung oder Remake angebrachter erscheint: Bei einem innerhalb von 109 Jahren insgesamt fünf Mal als Realfilm adaptieren Stoff ernsthaft entnervt ein „schon wieder“ dahinzustöhnen oder wutentbrannt niederzuschreiben, wie absurd diese Menge an Ben Hur-Filmen sei, grenzt an Lächerlichkeit. Erst recht angesichts dessen, wie häufig andere Werke neu interpretiert werden. Allein seit 2002 wurde die Filmwelt mit drei Realfilmvarianten des Marvel-Helden Spider-Man bedacht, während es unter anderem Charles Dickens Weihnachtsgeschichte und Die drei Musketiere auf Dutzende Umsetzungen bringen.
Abenteuerzentrischer Ansatz mit charakterbasiertem Leerlauf
Kurzum: So sehr es sich anbietet, Paramounts 100-Millionen-Dollar-Produktion mit dem einflussreichen Kassenschlager von 1959 zu vergleichen, muss der Ben Hur des Jahres 2016 noch immer an seinen eigenen Aspekten beurteilt werden. Und ist der große, harsche, aber wenig gehaltvolle Kritikpunkt „Aus Prinzip!“ erst einmal aus dem Weg geschafft, bleibt … Noch immer eine unausgegorene Materialschlacht über. In ihren gelungeneren Momenten ist diese jedoch so gekonnt umgesetzt ist, dass die Frage gerechtfertigt ist: „Weshalb stellen sich denn alle so dermaßen an?“ Denn zwischen einem mauen Film und einer hassenswerten Vollkatastrophe bestehen ja noch immer Unterschiede …
Wanted-Regisseur Timur Bekmambetov eröffnet seine Ben Hur-Variante mit einem Vorgeschmack auf das turbulente Finale: Die Adoptivbrüder Judah Ben Hur (Jack Houston), ein jüdischer Adliger, und Messala Severus (Toby Kebbell), ein römischer Waise, treten bei einem Wagenrennen an – und hassen sich bis aufs Blut. Kaum sind Judah und Messala sowie die weiteren Rennteilnehmer aus den Startboxen, springt Bekmambetov um acht Jahre zurück: Die beiden leben friedlich miteinander in Jerusalem, einer der Kronjuwelen des römischen Reiches, auch wenn Pontius Pilatus‘ (Pilou Asbæk) strenge Herrschaft nicht unumstritten ist. Um sich einen eigenen Namen zu machen, verlässt Messala seine wohlsituierte Adoptivfamilie, um für Rom in den Krieg zu ziehen. Als sich die Brüder drei Jahre später wiedersehen, ist die Freude nur kurzer Dauer, da sie sich über das Schicksal eines jungen Zeloten (Moisés Arias) in die Haare kriegen: Judah nimmt den frenetischen Kritiker des Römischen Reichs bei sich auf, was Messala nicht nachvollziehen kann. Als der Zelot von Judahs Anwesen aus Pilatus attackiert, wird Judah – auch aufgrund von Messalas mangelnder Hilfsbereitschaft – dazu verurteilt, als Galeerenskalve zu dienen. Fünf Jahre später erhält Judah die Gelegenheit, sein Leben wieder in eigene Hände zu nehmen. Doch Judahs Vorhaben ist lebensgefährlich …
Die Drehbuchautoren Keith Clarke und John Ridley kondensieren die umfangreiche Geschichte zweier Brüder aus unterschiedlichen Kulturen auf rund zwei Stunden, in denen die weiteren Nebenfiguren nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dabei gelingt ihnen nicht durchweg eine zufriedenstellende Balance: Judahs leibliche Familie erhält so viel Leinwandzeit, dass das Verhältnis des Protagonisten zu ihr als relevanter Aspekt erscheint. Jedoch werden die gelegentlichen, dafür ausführlichen Momente, in denen dieses Element der Story beleuchtet wird, mittels seichter, zugleich zäher Dialoge abgehakt. Auch der erst spät im Film auftauchende, Judah im Wagenrennen trainierende Scheich Ilderim (Morgan Freeman) ist kaum mehr als ein Dreadlocks tragender Erklärbär. Die einzigen Figurendynamiken, die gut ausgebaut werden, sind die zwischen Judah und seiner Ehefrau Esther (Nazanin Boniadi) und zwischen dem Titelhelden und seinem Bruder.
Diese Beziehungen etablieren Clarke und Ridley funktional: Sie gehen genügend in die Tiefe, um Judah einen plausiblen Antrieb sowie einen Gewissenskonflikt zu verleihen – soll er Vergeltung oder Nachsicht üben? Gleichwohl sind einige der Zwiegespräche Judahs und Esthers angesichts der geradlinigen, moralische Ideen theorisierenden Dialoge trockener, als der insgesamt eher auf Abenteuerflair setzende Film ertragen vermag.
Wenn’s poltert, dann richtig
Wenn Bekmambetov seine Stärken als Actionregisseur ausspielt, sind diese Schwächen jedoch vorübergehend vergessen. Die in schmutzig-blauem Licht gehaltene, von dunkler, trommellastiger Musik untermalte Sequenz auf der römischen Galeere ist ein spektakuläres Stück Abenteuerkino: Vernarbt, verschwitzt und kraftlos muss Judah wie unzählige weitere Sklaven die Ruder eines Kriegsschiffes bedienen, das in einen aussichtslosen Kampf zieht. Bekmambetov verzichtet auf Übersicht gewährende Aufnahmen der Seeschlacht, lässt das Publikum ähnlich im Unklaren wie Judah, der aufgrund der eskalierenden Lage unter Deck (Balken zerbersten, Speere zischen vorbei, brennender Teer gießt sich über den Sklaventreiber) mehr denn je um sein Leben fürchten muss. Mittels zügigem Schnitt und einem Mix aus wackligen Nahaufnahmen, die das Chaos unter Deck einfangen, und vereinzelten Aufnahmen aus Judahs Egoperspektive ist diese Passage ein herber, packender Actionritt – den Bekmambetov im Finale locker überbietet.
Das direkt zu Beginn des Films versprochene Wagenrennen ist ein einziges, nervenaufreibendes Spektakel, das Bekmambetov in aller Ausführlichkeit zeigt: Das hektische Hin-und-Her der Streckenposten und Judahs Mentor Ilderim verleiht der langen Passage einen trockenen Humor, wohingegen die erbarmungslos illustrierten Unfälle (die durch sehr clevere Verschmelzung von praktischen Effekten, digitaler Bildkomposition und CG-Trickserei umgesetzt werden) für eine große Fallhöhe sorgen. Das Bourne Ultimatum-Kameramann Oliver Wood führt die Kamera nah an die verfeindeten Adoptivbrüder heran und erzeugt eine raue Optik, allerdings nehmen Wood und Bekmambetov mehrmals sehr wohl die gesamte, aufwändig gestaltete Arena in den Fokus, wodurch das Rennen auch Grandeur aufzuweisen hat.
Generell verfügt Ben Hur in Anbetracht der detaillierten Kostüme und Requisiten über beeindruckende Schauwerte, die den Film deutlich kostspieliger aussehen lassen, als das für heutige Hollywood-Epos-Verhältnisse relativ bescheidene Budget von 100 Millionen Dollar erwarten lässt. Dass der von einem treibenden, doch zumeist uninspirierten (World War Z-Komponist Marco Beltrami) Score begleitete Film nach dem alles überschattenden, aufregenden Rennen seine bis dahin mit grau-grauer Moralität skizzierte Geschichte nicht zügig beendet, ist überaus ärgerlich. Nicht nur, weil Ben Hur nicht endet, so lange dieser Bombastfilm Schwung hat, sondern auch, weil die unangepasste „Vergeltung ist schlecht, doch sie wird immer wieder vorgenommen“-Stimmung durch einen ausführlichen Kitsch-Epilog hinfort gespült wird. Dieser ist obendrein mit seinen unfreiwillig komischen Dialogfetzen und einer pathetischen Bildsprache sehr polternd geraten.
So anstrengend und sinnlos dieses atmosphärisch nicht zum restlichen Film passende Ende sein mag, sollte Ben Hur nicht auf seine quietschige Schlussnote reduziert werden. Der Großteil ist zwar wegen durchweg annehmbarer, aber unauffälliger Schauspielleistungen und manch zäher Dialoge in den dramatischen Szenen zumeist nur ziemlich mau. Mit enormen Produktionswerten, zwei starken Actionpassagen (wobei das Wagenrennen zudem tolles 3D zu bieten hat) und einem zeitlosen, immer wieder funktionierenden Grundkonflikt ist Ben Hur trotzdem alles in allem duldbar genug, um in Anbetracht des überaus giftigen Konsens als positive Überraschung dazustehen.
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