Wie Gore sind die Pirates of the Caribbean?
Alle, die diesen Blog schon etwas länger verfolgen, werden es bereits wissen: In meinen Augen ist Gore Verbinski sowohl einer der besten als auch einer der unterschätzesten Regisseure unserer Zeit. Der frühere Punkrocker und Filmwissenschaftler hat eine markante, dennoch flexible Handschrift und kann daher in einer Vielzahl von Genre(-Mixturen) arbeiten und trotzdem jedem seiner Filme deutlich seinen Stil mitgeben.
Kein Wunder, dass ausgerechnet so jemand, der zudem stolz darauf ist, wenn er Studiobosse nervös macht, das Disney-Label über seinen Schatten springen ließ und unter der vermeintlich ach-so-sicheren Flagge eine der verrücktesten Mainstream-Filmreihen der Hollywood-Geschichte startete. So zumindest meine Meinung.
Als ich kürzlich anlässlich der A Cure for Wellness-Interviews in Berlin mit einigen deutschen Filmjournalistenkollegen sprach, meinten manche, dass sie Gore Verbinskis kleinere Filme bevorzugen würden, weil sie eher den Freigeist Verbinski spürbach machen würden. Also habe ich mich gefragt: Okay, wie können wir das untersuchen?
Eine streng wissenschaftliche Methode gibt es dafür wohl kaum, allerdings halte ich folgende Herangehensweise zumindest für einen guten Diskussionsmotor: Ich gehe sämtliche von Verbinskis Regiearbeiten durch, und klopfe sie danach ab, ob sie wiederkehrende Aspekte seiner Arbeit beinhalten.
Für mich definiert sich Gore Verbinskis Arbeit, abgesehen von der detailreichen, oft im Weitwinkel eingefangenen, atemberaubenden Kameraarbeit abgesehen, dadurch, dass er bevorzugt Genres vermengt und seine Filme oft nach einer Traumlogik operieren. Durch viele seiner Regiearbeiten zieht sich je ein markanter Soundeffekt, er kritisiert wiederholt Kapitalismus respektive Materialismus und er sinniert über den Preis, für seine Aufgabe seine Familie hinter sich lassen zu müssen. Mehrfach spielen sich wichtige Szenen im oder auf dem Wasser ab, respektive nutzt er Wasser für einprägsame, symbolisch aufgeladene Bilder - was auf Verbinskis Chinatown-Obsession zurückführen ließe.
Wo ein Gore Verbinski ist, ist Hans Zimmer nicht weit, und wie Ted Elliott und Terry Rossio einst erläuterten, liebt der Regisseur es, Szenerien durch ein ausschöpfendes Maß an Details zu vitalisieren - und sei es, dass Tiere herangeschafft werden müssen. Ziegen vor allem. Und Gore scheint zudem ein barock/gotisches Verständnis von Romantik für besonders filmisch zu halten, genauso, wie er mehrmals zu Protokoll gab, dass sein Hintergrund als Musiker seine Art, Geschichten zu erzählen, beeinflusst habe.
Ganz davon zu schweigen, dass Gore es bevorzugt, wenn Mythologien oder Hintergrundgeschichten fragmentartig und durch teils uninformierte Figuren sogar mitunter widersprüchlich aufbereitet werden - statt durch eine allwissende Expositionsfigur. Und eine graue Moral sei laut Gore stets spannender als eine klare Abgrenzung Gut gegen Böse - was erklären könnte, weshalb seine Filme oft härter sind als vergleichbare Produktionen. Dessen ungeachtet zeigen viele seiner (oft recht langen) Filme, wie die vermeintliche Unschuld lernt, mal so richtig auszuteilen. Klar soweit?
Mäusejagd (1997)
Genremix: Slapstickkomödie / Schwarze Komödie / Realfilmcartoon
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ja, das ist die Story des Ganzen!
Ziegen: Keine
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Nur, wenn man in vollem "Überinterpretationsmodus" ist ...
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Kein Thema.
Schwarzromantik: Kommt nicht vor.Traumlogik: Nein, aber der Film ist verflixt anachronistisch in seinem Setting.
Hans Zimmer: Nein, Alan Silvestri.
Musikalische Narrative: Nein.
Graue Moral: Ja. Auf wessen Seite sollen wir hier bitte sein? AUF WESSEN SEITE!?!
Derbheitsgrad: Für eine vermeintliche Familienkomödie recht hoch.
Fragmentierte Erklärungen: Nein.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Aber sowas von!
Laufzeit über 120 Minuten: Nein, 99 Minuten.
Wasser: Nicht in dem Maße, dass ich es als Markenzeichen bezeichnen würde
Mexican (2001)
Genremix: Romantikkomödie, Gangster-Roadtrip, Neo-Western
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ja.
Ziegen: Ja.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Rudimentär
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Nein.
Schwarzromantik: Ja.Traumlogik: Ja, aber subtil.
Hans Zimmer: Nein, Alan Silvestri.
Musikalische Narrative: Nein.
Graue Moral: Ja.
Derbheitsgrad: Für eine Romantikkomödie hoch, für einen Gangsterfilm hingegen recht zahm.
Fragmentierte Erklärungen: Ja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 123 Minuten.
Wasser: spielt keine besondere Rolle.
Ring (2002)
Genremix: Horrorfilm, Journalismuskrimi
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ein durchgedrehtes Pferd auf einer Fähre!
Ziegen: Keine.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Keine.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Ja, Naomi Watts' Figur hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihren Sohn vernachlässigt hat
Schwarzromantik: Eher nicht.Traumlogik: Ja.
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Eher nicht, auch wenn Zimmers Musik den Film stark beeinflusst.
Graue Moral: Ja, vor allem gen Ende.
Derbheitsgrad: Der Film ist in den USA PG-13, und, verflixt, so wirkt er nicht!
Fragmentierte Erklärungen: Ohja!
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Nein, 115 Minuten
Wasser: Ohja!
Fluch der Karibik (2003)
Genremix: Fantasy-Piratenabenteuer-Actionkomödie
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Mehrfach!
Ziegen: Viele, unter anderem in winzig kleinen Booten mitten im Hafen von Port Royal!
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Nein, wollen wir mal nicht übertreiben.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Nein.
Schwarzromantik: Nein.Traumlogik: Nein.
Hans Zimmer: Ja, er schrieb die meisten der Leitthemen und gab Ratschläge bezüglich weiterer Stücke, den Credit für die Schwerstarbeit erhielt aber Klaus Badelt.
Musikalische Narrative: Durchaus: Es sind Bruckheimer-Actionfilm-Rockpiraten, und diese Attitüde wird durch die Musik eingeführt, zudem besteht eine Korrespondenz zwischen Innenleben der Figuren und dem Score. Laut Verbinski ist die Musik das, was sich Käpt'n Jack Sparrow von sich vorstellt.
Graue Moral: Die Navy macht einfach ihren Job, doch wir wollen das nicht, Käpt'n Jack Sparrow ist ein netter Pirat, der von der Sehnsucht nach Blutrache getrieben wird, Barbossa und seine Crew sind widerliche, ruchlose Piraten, die aber Spaß machen und deren Hauptmotivation die Aufhebung eines sie betreffenden Fluchs ist. Ja. Ja, das ist eine komplexe Moral, wenn man genauer drüber nachdenkt.
Derbheitsgrad: Der Film brachte den Disney-Konzern dazu, sein firmeninternes Markenstatement für den Namen Disney abzuändern. Na, hallo!
Fragmentierte Erklärungen: Ja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 143 Minuten.
Wasser: Zwangsweise, da es ein Piratenfilm ist, aber Gore macht nicht mehr daraus.
Weather Man (2005)
Genremix: Dramödie, was eher konventionell ist und daher nicht so recht zählt.
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Nein, von einem Kamelfuß-Insert abgesehen
Ziegen: Nein.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Nein.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Ja, zweifelsohne.
Schwarzromantik: Nein.Traumlogik: Eher nicht.
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Nein.
Graue Moral: Ja.
Derbheitsgrad: Hat für eine mittelgroße bis kleine Dramödie schon ein paar herbe Spitzen.
Fragmentierte Erklärungen: Nein.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Nein, 102 Minuten.
Wasser: Nein, aber Milkshakes.
Die Truhe des Todes (2006)
Genremix: Fortsetzungen dekonstruierendes Piratenactionabenteuerfantasykomödienepos mit Westerneinflüssen
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ja, schon wieder diese ganzen Ziegen!
Ziegen: Wie gesagt: Ja!
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: In schlichter Form, aber: Ja.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Ein wenig, in Form des Fährenmanns zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten sowie des aufgrund seines hohen Arbeitsethos gefallenen Norrington
Schwarzromantik: Ja, als Backstory.Traumlogik: Eher impressionistisch, aber wenn man großzügig ist ...
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Es ist eine ausgewachsene Piraten-Rockoper!
Graue Moral: So, so viel mehr als im ersten Teil!
Derbheitsgrad: Ausgerechnet dieser harte Film diente als Debüt des modernen Disney-Logos. Wie herrlich subversiv.
Fragmentierte Erklärungen: Ohja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ohja!
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 150 Minuten.
Wasser: Ja, mehr als in einem Piratenfilm nötig. Wasser dient hier mehrmals als Stimmungsbarometer der Beziehung zwischen Will und Elizabeth.
Am Ende der Welt (2007)
Genremix: Humoriges Piratenactionabenteuer-Spaghettiwestern-Fantasyepos
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ja.
Ziegen: Ja.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Ja.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Ja, frag mal Will.
Schwarzromantik: Ja.Traumlogik: Ja.
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Es ist eine angerockte, opernhafte Piraten-Ballade.
Graue Moral: Ja.
Derbheitsgrad:
Fragmentierte Erklärungen: Ja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 168 Minuten.
Wasser: Ja.
Rango (2011)
Genremix: Neo-Western-Actionkomödie
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Ja.
Ziegen: Wundersamerweise: Nein.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Ja.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Nein.
Schwarzromantik: Nein.Traumlogik: Ja.
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Die Erzähler sind eine Eulen-Mariachiband!
Graue Moral: Abgesehen vom bewusst unsympathischen Protagonisten eher nicht.
Derbheitsgrad: Hoch!
Fragmentierte Erklärungen: Ja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Nein, 107 Minuten.
Wasser: Storyrelevant!
Lone Ranger (2013)
Genremix: Sämtliche Formen des Westernkinos, die es gibt!
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Als Randgag und als metaphorischer roter Faden. Und als modisches Statement.
Ziegen: Eine Ziege in einem Bordell ...
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Ja.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Nein.
Schwarzromantik: Nein.Traumlogik: Ja. Respektive: Die Logik eines traumatisierten, eventuell gar dementen Erzählers.
Hans Zimmer: Ja.
Musikalische Narrative: Nicht so recht, aber der Schlussakt ist perfekt auf Rossellini abgestimmt.
Graue Moral: Wie gesetzesgetreu ist Gerechtigkeit?
Derbheitsgrad: Erneut ein Film, der die Grenzen des Disney-Namens auslotet!
Fragmentierte Erklärungen: Ja.
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja.
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 149 Minuten.
Wasser: Nicht in einem "Das lässt eine Handschrift durchklingen"-Ausmaße
A Cure For Wellness (2017)
Genremix: 70er-Jahre-artiger Psychothriller mit Kubrick-Tempo und Hammer-Studios-Mumm sowie den dunkelromantischen Anklängen des Horrorkinos der 20er bis frühen 40er.
Tiere treiben sich wo rum, wo sie nicht hingehören: Verflucht noch eins, ja!
Ziegen: Ich glaube, in einem Büro sieht man im Hintergrund einen Ziegenkopf als Jagdtrophäe, aber ich bin mir nicht sicher. Im Kino kann man schlecht auf "Pause" drücken.
Kapitalismuskritik / Materialismuskritik: Ja.
Der hohe Preis des Jobs / der Berufung: Der Film bezeichnet beruflichen Ehrgeiz als die Krankheit unserer Zeit, also: Ja!
Schwarzromantik: Und wie!Traumlogik: Und wie!
Hans Zimmer: Ein Zimmer-Musikstück, der Rest ist von seinem Schüler Benjamin Wallfisch
Musikalische Narrative: Der Film entfaltet sich wie eine gotische, bittersüße Sinfonie
Graue Moral: Ja.
Derbheitsgrad: Moderne Studio-Horrorfilme gehen ungern die Wege, die Gore hier beschreitet.
Fragmentierte Erklärungen: Japp!
Die Unschuld lernt, auszuteilen: Ja, wenngleich nur am Rande.
Laufzeit über 120 Minuten: Ja, 146 Minuten.
Wasser: Aber hallo!
Kurzum: Die Pirates-Filme sind schon sehr verbinskihaft. Wobei diese Checkliste nicht zwingend repräsentativ sein muss. Ich finde, dass sich Weather Man enorm wie ein waschechter Gore-Verbinski-Film anfühlt, deutlich mehr als Mexican, der für mich eher "Verbinski light" ist. Das machen diese Kategorien nicht so recht spürbar. Aber als Diskussonsgrundlage und grobe Orientierungshilfe finde ich sie ganz fesch. Und ihr?
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