Egal, wie zynisch man an den heutigen Stand des Kinos geht: Jahr für Jahr bekommen wir neue Beispiele für hervorragende Kameraarbeit zu sehen. Sei es aufgrund der Einstellungsgröße, Kameraführung oder Ausleuchtung, sei es auf Zelluloid oder in digitaler Form. Auch 2016 stapelten sich die preiswürdigen Leistungen. Entsprechend knifflig fällt die Aufgabe aus, die möglichen Oscar-Nominierungen vorherzusagen.
Ein großer Anhaltspunkt ist allerdings der Preis der Kamera-Gewerkschaft American Society of Cinematographers. In den vergangenen Jahren wurden üblicherweise vier der Gewerkschaftsnominierungen auch beim Academy Award ausgesprochen. Die fünf ASC-Anwärter sind dieses Mal:
- Arrival, Bradford Young
- Lion, Grieg Fraser
- Moonlight, James Laxton
- Silence, Rodrigo Prieto
- La La Land, Linus Landgren
Drei dieser Filme halte ich für garantierte Oscar-Kandidaten: Der visuell so clever konstruierte, atemberaubend schöne und dennoch distanziert-kühle Arrival mit Stanley-Kubrick-Gedenklook. Den Topfavoriten auf den Hauptpreis, La La Land, der nicht nur gut aussieht, sondern als Musical eh eine historisch betrachtet gute Chance auf Kamera-Nominierungen hat. Und Moonlight, den bildgewaltigen zweiten Topanwärter auf den Hauptpreis.
Damit wären drei "Frischlinge" (zumindest im Hinblick auf ihre Oscar-Vergangenheit) sicher im Rennen. Da die Academy in dieser Kategorie gemeinhin auf alte Bekannte setzt, ist Rodrigo Prieto (schon einmal nominiert) für den nebligen Scorsese-Film Silence ebenfalls ein guter Tipp. Im ASC-Feld erscheint mir Oscar-Jungfrau Grieg Fraser für die sonnig-stickigen Landschaften in Lion der schwächste Kandidat für eine Oscar-Nominierung zu sein - auch deshalb, weil sein Film keinerlei Awardsbuzz aufbaut, obwohl er vorab hoch gehandelt wurde.
Um abzuwägen, ob ich in meiner Prognose auf Prieto, Fraser oder beide verzichten sollte, lohnt es sich, die weiteren Kameraleistungen, die Teil des Awardsaison-Gesprächs sind, kurz zu überblicken:
"Oscar-Veteranen"
- Nocturnal Animals, Seamus McGarvey (zweifach nominiert, nach Vorabhype und Mini-Backlash nach Start gewinnt Tom Fords zweite Regiearbeit an Buzz. Ich finde es eine von McGarveys schwächeren Arbeiten, aber dass er hübsche Menschen in eindrucksvollen Kostümen, Kulissen und Landstrichen abfilmt, könnte ihm helfen)
- Live by Night, Robert Richardson (neun Nominierungen und drei Oscar-Siege, der Film hat eher negativen Buzz, doch die farbintensiven Nachtbilder hinterlassen Eindruck)
- Hail, Caesar!, Roger Deakins (13-fach nominiert, perfekt imitierende, elegante Old-Hollywood-Hommage)
- Regeln spielen keine Rolle, Caleb Deschanel (5-fach nominiert, Warren Beattys den Filmtitel wortwörtlich nehmender Kassenflop hat einen speziellen Look - sollten einige wagemutigere Kameraleute diesen Film gesehen und gemocht haben, wer weiß ..?)
"Oscar-Frischlinge" mit dem "richtigen" Film
- Hell or High Water, Giles Nuttgens (routinierte Wüstenbilder, die BAFTA-nominiert sind)
- Jackie, Stéphane Fontaine (stimmungsvoll-atmosphärische, grieselige Aufnahmen in einem smarten Biopic)
- Captain Fantastic, Stéphane Fontaine (hübsche, mit Lichtbrechungen spielende Waldaufnahmen im ersten Akt)
- American Honey, Robbie Ryan (honigfarbene, stimmige 4:3-Impressionen der mittleren USA)
- Manchester by the Sea, Jody Lee Lipes (über die Bildsprache dieses starken Dramas wird kaum ein Wort verloren, aber wenn die Kameraleute den Film wirklich mögen ..?)
Wer weiß?
- Die Taschendiebin, Chung Chung-hoon (viel besprochener, stilvoll gefilmter nicht-englischsprachiger Film. Das klappt dann und wann mit der Oscar-Nominierung!)
- The Light Between Oceans, Adam Arkapaw (stark gefilmt, malerischer Look, doch der Film ging unter wie eine Bleiente)
- The Witch, Jarin Blaschke (kalt, nass-grau, rudimentär, viel natürliches Licht, von Kritikern gehypter, doch Oscar-unfreundlicher Film)
- The Neon Demon, Natasha Braier (wenn Refns Drive schon nicht nominiert wurde, dann garantiert auch nicht dieser Film, selbst wenn es völlig verdient wäre)
- BFG, Janusz Kaminski (Oscar-Veteran mit einem hässlichen, untergegangenen Film)
Aus dem obigen Pool gebe ich Hell or High Water, Jackie, Live by Night und Nocturnal Animals die größten Chancen. Bei Live by Night stellt sich die Frage, ob Richardsons Name und Arbeit den bleischweren Antihype des Films überkommen kann, bei Jackie, wie viele sich auf den Film eingelassen haben.
Langer Rede, folgender Sinn: Ich sehe Oscar-Nominierungen voraus für:
- Arrival, Bradford Young
- Hell or High Water, Giles Nuttgens
- Jackie, Stéphane Fontaine
- Moonlight, James Laxton
- La La Land, Linus Landgren
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