Die Langzeitwirkung von Fluch der Karibik
„Wieso sind Filme mittlerweile immer so lang?“ – Diese Frage kommt mir regelmäßig zu Ohren. Von Freunden. Von Kollegen. Von Fremden, wenn ich in der Kinoschlange oder in der Bahn deren Gespräche mitbekomme. Früher, so jedenfalls die gefühlte Wahrheit, dauerten Kinoproduktionen im Schnitt nicht so lange wie in der Jetztzeit, also in der Ära von 150-Millionen-Dollar-aufwärts-Projekten, Superhelden und PG-13-Actionspektakeln.
Auch unter Disney-Liebhabern bekomme ich diese Reaktion auf heutige Filmlaufzeiten gelegentlich mit. Aber eine gefühlte Wahrheit ist, wenn überhaupt, nur die halbe Miete. Obgleich der aktuelle Politzirkus anderes suggeriert, so sind Fakten noch immer deutlich mehr wert. Deswegen habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, dieses Gefühl, Disney hätte seine Tendenz zu kürzeren Filmen aufgegeben, zu hinterfragen.
Genauer gesagt wollte ich zwei Dinge wissen:
1) Sind Disney-Filme im Schnitt tatsächlich länger geworden?
2) Wenn ja, wann fing diese Entwicklung an?
Ich hatte auch direkt ein Gefühl, wann die Kehrtwende begonnen haben könnte: Mit Gore Verbinskis Fluch der Karibik, dem ersten unter dem Disney-Markennamen veröffentlichten Film, der in den USA eine PG-13-Freigabe erhalten hat. Zugleich ist es auch der Film, der das Disney-Studio stärker in die Welt des Blockbusters geschoben hat, die nun den Output Disneys bestimmt.
Daher habe ich beschlossen, die durchschnittliche Laufzeit der Disney-Filme von 1993 bis jetzt zu errechnen. Somit hätte ich eine ausreichende Vorlaufzeit bis Fluch der Karibik betrachtet, um den alten Status Quo zu überblicken - sowie einen ausführlichen Zeitraum, der die potentiellen Nachwirkungen von Fluch der Karibik auf den Disney-Durchschnitt in Betracht zieht.
Wie jede Statistik, so muss auch diese einigen Regeln folgen. Ich entschied mich für folgende:
- In Betracht wurden nur fiktionale Filme gezogen, keine Dokumentationen!
- Ich habe, selbstredend, nur Langfilme berücksichtigt, keine Kurzfilme wie Get a Horse!
- Als Disney-Film gelten nur Produktionen, die unter dem Disney-Markennamen veröffentlicht wurden. Also keine Werke von Touchstone, Hollywood Pictures, Miramax, Lucasfilm oder Marvel!
- Ich habe nur reguläre Kinostarts berücksichtigt, also weder die Alibi-Kinoauswertungen der ersten drei TinkerBell-Filme, noch den IMAX-Exklusivfilm Der schwarze Hengst - Wie alles begann oder ähnliche Ausnahmefälle!
- 3D-Wiederaufführungen habe ich ebenfalls rausgenommen, da der betroffene Film ja für eine Erstauswertung in einem anderen Jahr gestaltet wurde!
- Ich habe mich nach US-Filmen orientiert, Produktionen von Walt Disney India sowie die Hexe Lili-Filme aus Deutschland haben ja keine direkte Bindung zur Studiopolitik in den USA, außerdem würden die indischen Filme die Frage "Gehen Disney-Produktionen heute länger?" sonst eh mit "Ja!" beantworten lassen!
Unter Berücksichtigung dieser Regeln habe ich Jahr für Jahr die Laufzeit sämtlicher Disney-Kinofilme zusammengerechnet und dann eine durchschnittliche Länge errechnet. Dabei kam folgendes heraus:
Durchschnittliche Laufzeit aller fiktionalen Disney-Kinofilme von 1993 bis 2016
Das Ergebnis des Ganzen: Von 1993 bis 2002 gab es nur ein Jahr, in dem die durchschnittliche Laufzeit bei über 100 Minuten lag - nämlich 1994. Ab 2003 wurde neun Mal eine durchschnittliche Laufzeit von über 100 Minuten generiert. 2013 war mit einem Schnitt von 117 Minuten mit Abstand das längste Filmjahr für Disney-Fans.
Der längste Animationsfilm in diesem Zeitraum erschien übrigens im Jahr 2006, und zwar mit Cars. Die Jahre 1993 bis 2002 kommen auf einen Durchschnitt von rund 95 Minuten, die Jahre ab 2003 auf etwa 104 Minuten. Einfach, um ein vollständiges Bild zu haben, habe ich das ganze Spiel auch nochmal ohne Animationsfilme gespielt:
Durchschnittliche Laufzeit aller fiktionalen, ins Kino entlassenen Disney-Realfilme von 1993 bis 2016
Hier ist das Königsjahr ebenfalls 2013, als Die fantastische Welt von Oz, Lone Ranger und Saving Mr. Banks einen Schnitt von annähernd 135 Minuten verursachten. Mit knackigen 91 Minuten und 30 Sekunden ist 1999 wiederum in Sachen durchschnittlicher Laufzeit die Schlussleuchte. Der längste Film im Beobachtungszeitraum erschien 2007: Pirates of the Caribbean - Am Ende der Welt mit 168 Minuten. Generell erschienen zehn Filme mit mindestens 130 Minuten Laufzeit, sie alle kamen ab 2003 heraus - zuvor liefen aber immerhin zwei Filme mit rund 128 Minuten Laufzeit an.
Vor 2003 erreichte Disney einmal einen Schnitt von mindestens 105 Minuten Laufzeit, ab 2003 wurde dies nur ein einziges Mal unterboten. Die Ära 1993 bis 2002 bringt es auf etwas mehr als 99 Minuten Laufzeit als Jahresschnitt, die Post-Fluch der Karibik-Ära auf über 113 Minuten.
Kurzum: Ja, Disney-Filme sind länger geworden, und ja, Fluch der Karibik war dafür die Initialzündung. Das Piraten-Abenteuer hat mit seinem Kassenerfolg bewiesen, dass Disney auf ein älteres Publikum mit größerem Sitzfleisch abzielen kann und sich von kompakten Familienkomödien als Realfilm-Hauptgenre auf pompösere Abenteuerspektakel und ähnliche Blockbusterware verlagern kann.
Danke. Sehr interessant.
AntwortenLöschenUnd: Die größere Länge von Filmen hat durchaus auch ihr Gutes. Dahingehend, dass einzelne Momente länger wirken können. Vor einem Jahr habe ich König der Löwen in einem Studentenkino gesehen und war verwundert, wie kurz er mir vorkam. Kaum hat Nala Simba wiedergefunden, schon machen sie wieder Schluss, war mein Eindruck
AntwortenLöschenSehr schöne Analyse übrigens :)
Hypothesentests, Chi-Quadrat, ANOVA, log lineares Modelieren und was man sonst noch soalles mir R und SPSS machen kann... die Uni lässt grüßen. haha ^^
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