Seiten
▼
Samstag, 10. September 2016
Die Poesie des Unendlichen
Interessant, aber arg zurückhaltend. Britisch-spröder Charme, aber wenig Herz. Von Wissenschaft fasziniert, doch selber nur oberflächlich vorgehend: Das dramatische Biopic Die Poesie des Unendlichen des Regisseurs und Autors Matthew Brown hat seine Reize, ist insgesamt jedoch zu konventionell, zu vorsichtig, zu nichtssagend, um bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Angesichts der Person, welche im Mittelpunkt dieses im Original The Man Who Knew Infinity betitelten Spielfilms steht, eine Schande. Denn mit dem legendären Mathematiker Srinivasa Ramanujan hat sich Brown einen Protagonisten ausgesucht, mit dem sich eine Geschichte über Liebe erzählen lässt. Über Kolonialismus. Über den Zauber der Mathematik, sowie über die Tücke des wissenschaftlichen Vorgehens. Sowie über eine Männerfreundschaft, die womöglich tiefer ging, als es zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielen Menschen genehm war.
Verkörpert wird der Inder, der den mathematischen Betrieb Englands aufrüttelte, von Slumdog Millionär-Hauptdarsteller Dev Patel. Wie schon seine Paraderolle aus Danny Boyles mit acht Oscars prämierten Drama steht Srinavasa Ramanujan zu Beginn seiner Geschichte arm und ohne nennenswerte Zukunftsaussichten dar. Doch als der Büroangestellte seine Vorgesetzten mit seinen außergewöhnlichen Berechnungen und Formeln in Staunen versetzt, wagt er den Vorstoß: 1913 schreibt er dem Mathematikprofessor G. H. Hardy (Jeremy Irons), der am Trinity College in Cambridge lehrt, um ihm seine Theorien nahe zu legen. Hardy erkennt, dass in Ramanujan großes Talent schlummert und bittet ihn, nach England zu reisen. Zwar bedauert das indische Mathegenie es, seine Gattin Janaki (Devika Bhisé) zurücklassen zu müssen, dennoch tritt es die Reise an – die Reise in eine neue Kultur. Und damit sind nicht nur die Unterschiede zwischen England und Indien gemeint, sondern auch die zwischen universitären Methoden und Ramanujan.
Denn der Quereinsteiger eckt nicht bloß mit seinen nonkonformistischen Thesen an, sondern vor allem mit seiner Haltung, dass Gegenrechnungen und Beweise nur Zeitverschwendung seien. Neue Überlegungen fliegen ihm sinnbildlich gesprochen zu, während er sich schwer tut, Beweisverfahren zu erlernen. Neben Hardy hat nur dessen Kollege John Littlewood (Toby Jones) Geduld für den Inder übrig, den viele Fakultätsmitglieder am liebsten sofort zurückschicken möchten ...
Neben dem abscheulich-arroganten Elitegedanken von Hardys Kollegen und Ramanujans Problemen, sich als Vegetarier gesund zu ernähren, während der Erste Weltkrieg strenge Essensrationen mit sich bringt, wird zudem der Entzug an Geborgenheit angerissen: Ramanujans engster Vertrauter in England ist die Verkörperung britischer Steifheit und lächelt bevorzugt, wenn es keine Zeugen gibt. Ramanujans Frau derweil schreibt ihm nicht mehr, weil sie denkt, dass er sie nach seiner Abreise vergessen hat – dabei lässt seine Mutter sämtliche Briefe des Mathematikers verschwinden. Die Handlungsmotive der gluckenhaften Mutter werden nur angerissen und wirken in der beiläufigen Art eher wie erzählerischer Ballast, genauso wie Brown seine zunächst so vornehme, unaufgeregte Inszenierung punktuell durch aggressive visuelle Klischees aus dem Gleichgewicht bringt: Da kündigt sich eine schwere Erkrankung durch blutig vollgehustete Taschentücher an, und schwere Erkenntnisse werden bei heftigem Unwetter gemacht.
Der Konflikt „Eingebung gegen Beweisführung“ geht wegen der faktenorientierten, dramatischen Verschlechterung von Ramanujans Zustand gen Schluss verloren, allerdings führt ihn Brown bis dahin kurzweilig vor: Patel legt Ramanujan eingangs vielleicht zu weitäugig und begriffsstutzig an, dennoch taugt er als scheuer Mensch mit hell leuchtendem Geist als Sympathieträger, ebenso wie Jeremy Irons mit verknöchertem Starrsinn und elegant-verbittertem Äußeren einmal mehr den strengen, doch insgeheim begeisterungsfähigen Briten mimt. Ihre verbalen Auseinandersetzungen stellen die Vor- und Nachteile beider Sichtweisen heraus und sind zudem mit staubtrockenem Witz versehen, so dass ihre gemeinsamen Szenen klar die Höhepunkte des Dramas darstellen.
Ramanujans Anpassungsschwierigkeiten außerhalb des mathematischen Betriebs werden dagegen zu unspezifisch angepackt. Hardys beiläufige, zurückhaltende Anmerkung, dass er für seinen Schützling womöglich mehr als Freundschaft empfunden hat, ist wiederum in ihrer Nebensächlichkeit zwar charaktergetreu, dennoch fehlt es ihr selbst an der subtilsten inhaltlichen Stützte – es ist fast so, als hätte sich Brown durchweg in Hardys Methodik geübt, um für wenige Sekunden auf Ramanujans Verzicht der Beweisführung auszuweichen.
Fazit: Im Subgenre der Biopics über mit Zahlen mühelos hantierenden Genies ist Die Poesie des Unendlichen weit von der Klasse eines The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben, A Beautiful Mind oder Die Entdeckung der Unendlichkeit entfernt. Mit Jeremy Irons‘ sprödem Charme kann sich das Werk aber trotz mancher erzählerischer Makel auf ein duldbares Niveau retten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen