Mittwoch, 3. August 2016

Die wichtigste Filmszene 2016

Dieser Artikel enthält keine handlungsrelevanten Ghostbusters-Remake-Spoiler, verrät aber sehr wohl den Ablauf einer Szene im dritten Akt. Je nach eurer Befindlichkeit in solchen Sachen empfehle ich daher, zunächst den Film zu gucken, und dann erst hier weiterzulesen.

Allein schon die Kombination aus der Überschrift "Die wichtigste Filmszene 2016" und einem animierten Ghostbusters-Szenenbild dürfte bereits einige Gemüter zum Kochen bringen. Und ich fürchte, die nachfolgende Beteuerung wird es nicht besser machen: Wir müssen die Szene, über die ich nun schreibe, nicht genau so betiteln. Ich hatte für diesen Artikel diverse alternative Titelideen. "Der filmische Schlüsselmoment 2016". "Der cineastische Wendepunkt, der Ghostbusters zu einem der wichtigsten Filme dieses Jahrzehnts machen könnte". Und andere Formulierungen, die den Bodensatz des Internets gewiss nicht erfreuen dürften. Also kann ich auch direkt die knackigste Variante wählen.

All jenen, die nicht bereits in die Kommentarsektion gespurtet sind, sondern tatsächlich wissen wollen, worum es mir geht, möchte ich versichern: Keine Sorge. Ich bin niemand, der Sonys Big-Budget-Komödie aus Prinzip über den grünen Klee lobt und so tut, als sei er aufgrund seiner Besetzung über jeden Zweifel erhaben. Das wäre auch gar nicht im Sinne dieses Films. Denn Ghostbusters setzt sich über den (zu seiner Zeit begründeten) Parolenfeminismus vergangener Jahrzehnte hinweg und ist voll und ganz im "Leb damit!"-Zeitalter angekommen. Er schwafelt nicht darüber, dass Frauen die gleichen Fähigkeiten wie Männer haben. Er zeigt es einfach. Statt zu theorisieren, lebt er es vor. Und so selbstverständlich, wie Ghostbusters mit seinem Cast und seinen Figuren umgeht, ist es auch gestattet, ihn für seine Mängel zu kritisieren, ohne dadurch seine positive Vorbildfunktion zu untergraben.

Erfreulicherweise gibt es, in meinen Augen, nicht all zu viele Mängel. Ganz gleich, wie viele Menschen es aufgrund ihrer geringschätzigen Betrachtungsweise auf Frauen oder ihrer nostalgischen Verklärung des Originals nicht sehen werden. Paul Feigs Ghostbusters-Remake (oder -Reboot, wie auch immer es euch beliebt) ist ein kurzweiliger Blockbuster-Komödienspaß. Große Gesten, markige Figuren. In Anbetracht von Paul Feigs Tendenz, auszuschweifen, ziemlich knackig erzählt. Manche Gags schaffen es nicht, das Timing astrein abzustimmen, so dass sie zwischen "endet, wenn es witzig ist" und "läuft so lange, dass es erst unlustig wird, und dann wieder lustig" landen. Der Antagonist ist humorig und ein interessant eingesetzter Archetyp, wird aber als Figur nicht greifbar, wodurch das volle Potential seiner Metaphorik verloren geht. Immerhin erinnert er an die sozial gekränkten, einsamen, weißen Buben, die durchticken und zu Einzeltätern werden – was aber nur zwischen den Zeilen rüberkommt.

Davon abgesehen hat Ghostbusters allerhand Qualitäten aufzuweisen. Eine tolle Dynamik zwischen den Darstellern etwa. Eine komplett neue Figurenriege mit eigenen Persönlichkeiten, statt der bei Remakes oft üblichen, nur partiell gegenüber dem Original veränderten Rollen. Zahlreiche spaßige Dialoge. Toll aussehende Geister. Chris Hemsworth als perfekte Parodie des dummen Blondchens. Und: Kate McKinnon alias Dr. Jillian Holtzmann. Die quirligste, unterhaltsamste Leinwandschöpfung seit vielen, langen Jahren.

All das sorgte dafür, dass ich mich im Kino während der Pressevorführung sehr gut unterhalten gefühlt habe. Rundes, angenehmes Entertainment mit rezitierbaren Sprüchen, bei dem ich persönlich die kleineren Längen verzeihen kann. Wahrlich kein Meisterwerk, doch ein außerordentlich gelungener Launenheber.

Doch dann kam dieser Moment, in dem Ghostbusters einen gewaltigen Satz nach vorne macht. Es ist keine Sequenz, die diesem Film streng nach Lehrbuch einen Freifahrtschein für seine schwächeren Elemente verleiht. Wohl aber eine Szene, die mich voll und ganz gepackt hat. Ich vergaß die Leute um mich herum, ich vergaß den Kinosaal. Ich fühlte mich wie in die Filmwelt gesogen, um dort als staunender Beobachter diesen Augenblick zu verinnerlichen. Es war eine dieser Szenen, nach denen ich spüre, wie mein Filmliebhaberhherz vor Freude in die Lüfte springt und so schnell damit nicht mehr aufhören will.


Die Szene, die ich meine, spielt sich während des großen Finales ab. Drei der vier Ghostbuster hatten bereits ihren heroischen, kämpferischen Solomoment, wobei dieser stets eine kleine bis größere Pointe beinhaltete. Plötzlich schrecke ich in Gedanken auf, leicht quengelig, und frage mich, wieso meine Lieblingsfigur bisher übergangen wurde: "Aber was ist mit Holtzmann?!"

Kaum habe ich meine Frage zu Ende gedacht, stampft Holtzmann entschlossen auf die Leinwand und registriert, welche Heerschar an Geistern sich um sie herum versammelt hat. Die orchestrale Musik des Komponisten Theodore Shapiro gönnt sich eine kurze Verschnaufpause, Holtzmann merkt staubtrocken an, dass sie ja die neusten Babys in ihrem Waffenarsenal vergessen hat, rüstet auf ...

Und ZACK! Begleitet von der bombastischsten, coolsten, rockigsten, markigsten Variation des Ghostbusters-Titelthemas, die jemals auf diesem Erdenrund gespielt wurde, schlägt und schießt und wirbelt sich Holtzmann durch eine Parade stylischer Geister, während um sie herum ein reiner Farborgasmus die Leinwand erfüllt. Mein Atem stockt, ich bekomme Gänsehaut und denke nach dieser makellosen Kampfchoreografie, von mentalem Applaus begleitet: "Ich muss den Film so bald wie möglich nochmal sehen. Das. War. Cool."

Nachdem der Film zu Ende ging und im Kinosaal wieder das Licht angeknipst wurde, dachte ich lange und intensiv über diese Szene nach. Ich wollte rausfinden, weshalb sie bei mir eine solch starke Reaktion ausgelöst hat. Ja, sie ist gut gefilmt, hat eine fürs heutige Blockbusterkino außergewöhnliche Farbästhetik und die Musik ist sehr treffend auf die Bewegungen abgestimmt. Dennoch: Eigentlich nur eine gute Actionszene. Keine cineastische Revolution. Muss wohl einfach daran liegen, dass meine Lieblingsfigur dieses Films sie bekommen hat. Und am Timing, kam die Szene doch genau dann, als ich sie mir herbeigewünscht habe.

Im Anschluss an den Kinobesuch habe ich mit mehreren Menschen über den Film gesprochen. Unter anderem mit einem guten Freund, den ich als Begleitung mitnehmen durfte. Ich sprach auch mit meiner hochgeschätzten Kollegin Antje, die den Film wenige Tage zuvor in einer anderen PV gesehen hat, und ebenfalls sehr genoss. Jeder hatte seine persönlichen Highlights. Aber niemand erwähnte diese Szene. Antjes Höhepunkt etwa lag ganz woanders im Film: In einem originell-dummen Satz von Chris Hemsworth. Okay. Lag wohl wirklich ganz allein an mir, zuckte ich mit den Schultern.

Aber diese Szene ließ mich partout nicht los. In den Folgetagen spielte ich sie immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Ich suchte bei Spotify den Soundtrack nach der Begleitmusik dieser Sequenz ab. Kaufte mir den Score letztlich. Ich durchstöberte das Netz nach GIFs und schwärmte jedem, der es hören wollte, von der Szene vor.


Und dann stieß ich via Twitter über einen fantastischen Artikel bezüglich Ghostbusters. Erin Ramsey schreibt darin, wie sie als kleines Mädchen auf dem Spielplatz immer nur eine bessere Statistenrolle ausführen durfte, wenn sie mit Jungs herumtobte. Sie stellte das nie in Frage. 2016 jedoch sitzt sie im Kino und wird von besagter Szene überwältigt. Eine Heldin macht Geistern den Garaus. In einem zu großen Overall. Mit wuseligem Haar und zerknautschten Gesichtsausdrücken. Niemand lobt sie, weil sie gut aussieht. Sie wird von der Kamera kein Stück weit sexualisiert. Sie ist einfach nur verdammt cool, ohne sich über ihr Aussehen Gedanken zu machen. Sie ist das Vorbild, von dem Erin in genau dieser Sekunde bemerkt, dass sie es als Siebenjährige hätte haben wollen, hätte sie gewusst, dass sie sich sowas wünschen kann.

Wenige Tage später stieß ich auf eine weitere Lobeshymne auf diese Szene, dieses Mal von einer Erynn Brook. Sie jubelt: Ein Film mit mehreren Frauen, die gut miteinander klar kommen. Keine Lovestory. Aber gute Actionmomente. Komplett ohne sexy Kostüme. Ohne Kommentare anderer Figuren, wie heiß diese Damen doch alle sind. Sie erleiden keine narrativen, ironischen Seitenhiebe. Sie scheitern in einem normalen Maße und kommen da ohne männliche Hilfe wieder raus. Und dann rockt Holtzmann das Haus! Sie ist eine brillante, fesselnde Verkörperung eines Rollentypus, den sonst nur Männer besetzen. Sie ist ein kompetenter Irrer.

Ja. Ripley ist eine starke Leinwandheldin. Ja, die Russos und Joss Whedon haben Black Widow weit über ihren Status aus Iron Man 2 emporgehoben. Die Braut aus Kill Bill hat's voll drauf. Furiosa in Mad Max: Fury Road ebenfalls. Und dennoch: Hier ist der Kontext nochmal anders. Und Holtzmanns Kostüm nochmal eine gute Spur unglamouröser. McKinnons Performance deutlich non-chalanter, selbstbewusster und daher desinteressierter daran, wie Holtzmann auf ihr direktes Umfeld wirken könnte. Sie ist eine herausragende Identifikationsfigur, ohne sich anzubiedern. Oder optische Erwartungen zu setzen. Oder ein positives Rollenmodell irgendwie mit jedweder romantischer Fußnote zu versehen. Sie ist irre, aber das ist für sie und ihre Gefährten selbstredend. Ich will keineswegs sagen, dass Holtzmann die beste weibliche Leinwandfigur ist, die es je gegeben hat. Gute Güte. Aber sie punktet den ganzen Film über und rockt insbesondere diesen einen Moment. So, wie Holtzmann die Geister zerfetzt, metzelt sich diese Szene durch all die schlechten Actionmomente, in denen Frauen dumm dastehen.

Nun, wie ich wohl nicht betonen muss: Ich bin ein Mann. Also will ich mich nicht anmaßen und sagen: Ich hatte genau dasselbe Erlebnis wie die Autorinnen der obig verlinkten Beiträge. Und dennoch erklären ihre Reaktionen auch meine Reaktion.
Ich habe bereits Hunderte, ach was, sicher Tausende Filme in meinem Leben gesehen. Ich bin für jedes Genre offen. Bin anders, als manch desillusionierte Kollegen, noch immer empfänglich für gute Action und launiges, so genanntes Popcornkino. Und dann kommt da Ghostbusters an. Ein Remake! Oder Reboot, wie auch immer ... Und liefert mir etwas Frisches und Unverbrauchtes. Diese Szene verschafft mir ein neues, oder zumindest rares, Seherlebnis. Und das gepaart mit einer kaum geahnten Selbstverständlichkeit. Was sie, leider, filmhistorisch überaus relevant macht.

Diese Szene, in der Holtzmann ihre Gadgets erfolgreich austestet, ist bei Weitem nicht die erste gute Actionszene mit einer Frau im Mittelpunkt. Und doch strahlt sie etwas aus, was ich nie zuvor von einer Filmszene über eine weibliche Rolle vermittelt bekommen habe. Es geht nicht um Liebe. Oder um Muttergefühle. Oder um eine Vergewaltigungsmetapher. Oder eine Rachefantasie. Oder darum, wie gut Frauen aussehen können, wenn sie einen Männerjob erledigen. Es geht ebenso wenig darum, dass Frauen mit Männern mithalten können. Es geht um absolut gar nichts. Es ist einfach nur eine verflixt coole Szene ohne jeglichen Fetischismus und ohne jegliche Aussagekraft. Und gerade daher ist diese Szene so sexy und so bedeutsam. Die Frau ist hier für einen kurzen, atemberaubenden Moment im Hollywood-Entertainment mit dem Mann gleichgezogen. Ohne Parolen. Ohne Erklärung oder Rechtfertigung, geschweige denn Relativierung. Wenigstens für diesen einen Augenblick. Es ist somit eine Szene, die das große Spektakelkino nahezu gar nicht kennt. Sie ist ein Novum. Und ich hoffe, sie wird massenhaft kopiert.

Nicht, weil es keine Heldinnen und Helden mehr geben soll, die was fürs Auge bieten. Sondern, weil es bei Helden alle Varianten gibt: Vom Adonis über den Spinner hin zum Jedermann. Wieso sollten wir nicht auch drei Spielweisen der Heldin bekommen? Die schöne Helena. Die Normale. Und die Holtzmann.

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