Was passiert, wenn ein Mensch, der sich Zeit seines Lebens über seinen
Intellekt und seine faktenorientierte Analysefähigkeit definierte, im hohen
Alter den Wert der Emotionen und der Fiktion zu erkennen hat? Und das, während
allmählich die Senilität an seinen grauen Zellen nagt? Die Antwort ist: Es
entfaltet sich eine dramatische sowie rührende Geschichte – die in den Händen
des Regisseurs Bill Condon dennoch unterhält und inspiriert. Aber nicht nur die
versierte, gemächliche Inszenierung Condons lässt Mr. Holmes
über populistischen Unsinn wie Honig im Kopf hinauswachsen.
Vor allem ist es die Verquickung aus einer begnadeten Darbietung des
Schauspiel-Urgesteins Ian McKellen einerseits und einer so simplen, wie
genialen Grundidee andererseits, die diesen Film so stark machen. Denn der
titelgebende, alternde, brillante Geist, der hier mit seiner eigenen
Fehlbarkeit und Vergänglichkeit konfrontiert wird, ist niemand Geringeres als
Meisterdetektiv Sherlock Holmes – und damit geht eine enorme Fallhöhe für den
Protagonisten einher!
Das Jahr 1947, irgendwo in der saftig grünen Provinz Englands: Der
mittlerweile 93-jährige Misanthrop Sherlock Holmes fristet ein selbst gewähltes
Dasein in der Abgeschiedenheit. Zu den wenigen Kontakten, die er hegt, zählen
sein immer häufiger vorbeischauender Arzt sowie seine Haushälterin, mit der er
kaltschnäuzig interagiert. So etwas wie Sympathie hegt Holmes nur noch für
einen Menschen: Roger, den Sohn der Haushälterin, der von Holmes‘ kognitiven
Fähigkeiten und seinem umfassenden Wissen begeistert ist. Roger lässt sich
daher auch in die Geheimnisse der Holmes‘ so wichtigen Bienenzucht unterweisen
– und er schnüffelt in den Unterlagen des früheren Privatdetektives. Dieser
schreibt, in einem äußerst gemäßigten Tempo, seine Erinnerungen an einen
besonderen Fall nieder, den er vor mehreren Jahrzehnten angenommen hatte.
Dieser ereignete sich, nachdem sein Assistent Watson ein eigenes Leben begonnen
hat und konfrontierte Holmes mit dem Rätsel um eine junge Dame, die sich
zunehmend von ihrem Ehemann entfremdet ...
Da Holmes‘ Erinnerungsvermögen jedoch immer gravierendere Lücken
aufweist, muss sich Roger in vorbildlicher Geduld üben, während er auf neue
Absätze dieser Niederschrift wartet. Holmes indes nähert sich der vollkommenen
Verzweiflung: Er hat nur noch vage Erinnerungen, weshalb ihm dieser Fall
überhaupt so viel bedeutet, dass er ihn in eigenen Worten festhalten möchte. Um
der drohenden Senilität entgegenzuwirken, experimentiert Holmes mit dem
sagenumwobenen Anispfeffer, den er sich in Japan besorgt hat. Auf der
strapaziösen Japan-Reise musste Holmes aber erkennen, wirklich nicht mehr voll
auf der Höhe zu sein …
Bill Condon bringt diese auf dem Roman A Slight Trick of the
Mind basierende Geschichte mit einer Gemächlichkeit auf die Leinwand,
wie sie bei einem Film über einen grübelnden 93-Jährigen in der grünen Provinz
zu erwarten steht. Diese Trägheit, die auch in der sensibel-behäbigen Musik von
Carter Burwell Ausdruck findet, bedeutet jedoch nicht, dass in Mr.
Holmes steter Stillstand herrscht. Condons minutiöse Regieführung ist
es zu verdanken, dass auch in den ruhigsten Szenen beiläufig Unmengen an
Informationen über die Figuren vermittelt werden und obendrein die zahlreichen,
eng verknüpften Themen des Films ihre dramatische Tragweite entfalten können. Mr.
Holmes wird dabei aber zu einem Werk der reinen Depression: Mit
britischem Understatement verleihen Condons Inszenierung, McKellens Performance
und das alle drei Erzählebenen clever zusammenführende Skript von Jeffrey
Hatcher dieser Argumentation über den Wert der Fiktion und dem Verhältnis
zwischen Intellekt und Emotion durchaus auch trockenen Witz.
Kameramann Tobias A. Schliessler fängt diese gehaltvolle, dennoch nicht
verkopfte Erzählung in eleganten, detailreichen Bildern ein, welche sich vor
allem Ian McKellens enormer Leistung unterwerfen: Die Schauspiellegende gibt
ganz bewusst nicht „Sherlock Holmes, die Ikone“, sondern eine komplexe, in sich
gekehrte, übermäßig stolze Persönlichkeit, die im hohen Alter endlich
Selbsterkenntnis wagt. Doch auch McKellens Ko-Stars überzeugen: Allen voran der
Jungschauspieler Milo Parker, als aufgeweckter, neugieriger Bursche, der durch
Holmes‘ Einfluss lernt, aber auch an übertriebenem Selbstbewusstsein gewinnt.
Laura Linneys Haushälterin ist dagegen zwar oft nur Stichwortgeberin, trifft in
ihren emotionaleren Momenten jedoch den Nagel auf den Kopf, und Hattie Morahan
als Fragen aufwerfende Ann Kelmot sowie Hiroyuki Sanada als Mr. Umezaki wissen,
in ihren gemeinsamen Szenen mit McKellen dem Herr der Ringe-Nebendarsteller
Paroli zu bieten. Und so ergibt sich, zumindest für den geduldigen Zuschauer,
ein ungewöhnlicher Sherlock-Holmes-Film, bei dem die große Frage lautet: „Wird
er sich noch erinnern, oder stirbt er vor seiner Zeit?“ Und diese Frage ist
spannender, als es zunächst den Anschein hat!
Fazit: Bill Condon hat endlich wieder den Dreh raus!
Der Brite erschafft mit Mr. Holmes eine kluge, einfühlsame
und schöne Erzählung über das Älterwerden und über persönliche Geschichten, die
wir für uns selbst immer wieder rekonstruieren müssen.
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