„Ich habe den Abgrund gesehen … und bin einen Schritt weiter gegangen!“
Nur wenige Menschen können dies von sich behaupten. Und noch weniger Menschen
können von sich behaupten, dies wortwörtlich zu meinen und dabei ehrlich zu
sein. Philippe Petit aber hat einen über 400 Meter tiefen Abgrund erblickt. Und
ihn dann zu Fuß überquert. Seine Geschichte ging daraufhin rund um den Globus
und inspirierte Millionen von Menschen. Und gab den Einwohnern von New York
City den nötigen Schubs, um zwei überdimensionierte Bürogebäude lieben zu
lernen: 1974 spannte der französische Artist ein Drahtseil zwischen den Twin
Towers, um den spektakulärsten Drahtseilakt der Weltgeschichte zu begehen. Wann
immer er gefragt wird, wieso er sich diesen lebensbedrohlichen Coup ausgedacht
hat, hat er nur eine Antwort parat: Er musste es einfach tun. Es war seine
Berufung als Künstler.
Auch Regisseur Robert Zemeckis folgte im Laufe seiner Karriere
zwischenzeitlich halsbrecherischen Eingebungen. Was für Petit der Drahtseilakt
zwischen den Türmen des World Trade Centers war, war für Zemeckis wohl das
Wagnis, einen nicht unerheblichen Teil seiner Karriere der Produktion reiner
Motion-Capturing-Filme zu widmen. Für Zemeckis machte sich das Risiko
allerdings weitaus weniger bezahlt als für Petit. Der Polarexpress,
Beowulf und Eine Weihnachtsgeschichte
kamen beim Publikum bestenfalls durchwachsen an. 2012 kehrte der
Spielberg-Lehrling endlich zum Realfilm zurück. Das Drama Flight
erntete zwar keine lauten Lobeshymnen, wohl aber zumeist wohlwollende
Reaktionen seitens der Kritiker und des zahlenden Publikums. Mit seiner
Verfilmung von Petits großem Kunststück wagt sich Zemeckis nun aber nicht nur
inhaltlich ein weiteres Mal in luftige Höhen. Dieses Mal erreicht der Regisseur
auch qualitativ wieder beachtliche Sphären.
Womöglich liegt es daran, dass es sich bei The Walk
um eine Herzensangelegenheit handelt. Denn als Zemeckis von Petits Geschichte
hörte, so behauptet der Filmemacher, hatte er nur noch einen Gedanken: Ich muss
einen Film darüber machen! Gut unterrichtete Filmfreunde wissen zwar, dass es
mit der Oscar-gekrönten Produktion Man on Wire zwar bereits
eine Dokumentation über Petits atemberaubendes Kunststück gibt. Allerdings kann
ein Spielfilm reale Ereignisse auf ganz andere, ganz eigene Weise auf die
Leinwand bringen. So auch bei The Walk: Während die geniale,
zurecht gefeierte Dokumentation von James Marsh das Geschehen zwangsweise aus
der Distanz betrachtet, versetzt Zemeckis' humorvolles Biopic das Publikum in
Petits Schuhe. Und in viele andere Perspektiven: Im schwindelerregenden Finale
gibt es Petits Kunststück von unten, von der Seite, von oben und aus der Sicht
des Drahtseilkünstlers persönlich zu sehen.
Dank überzeugender Computereffekte, die nahtlos in reale Setbauten
übergehen, und brillanter Verwendung der 3D-Technologie verschaffen Zemeckis
und Kameramann Dariusz Wolski (Der Marsianer – Rettet Mark Watney)
dem Kinogänger einen Anblick, der einem den Atem stocken lässt. Es wäre allerdings nicht gerecht, diese
35-Millionen-Dollar-Produktion auf ihr famoses Finale zu reduzieren. Denn die
Autoren Zemeckis und Christopher Browne illustrieren die Vorgeschichte des
titelgebenden Kunststücks auf unerwartet spaßige Weise – sowie mit
bemerkenswerter Leichtigkeit. Es werden durchaus Erinnerungen an den frühen
Zemeckis wach, der Klassiker wie Forrest Gump oder die Zurück
in die Zukunft verantwortet hat.
Schon die ersten Augenblicke des in den USA ungerechtfertigt gefloppten
Films geben den Takt an:
In der Rolle von Philippe Petit spricht Joseph Gordon-Levitt direkt zum
Publikum, während er auf der höchsten Plattform der Freiheitsstatue mit
selbstzufriedenem, aber respektvollem Grinsen Straßenkünstlertricks fortführt.
Dann nimmt der Mätzchen machende Petit, der vor Charisma fast schon trieft, den
Zuschauer von dieser leicht surreal anmutenden Szene aus zurück zu seinen
Anfängen als Artist im pittoresken Frankreich. Die Art mit der Gordon-Levitt
alias Petit seinen Werdegang erzählt, gleicht fast schon einer modernen Fabel.
Zemeckis unterstreicht diesen Tonfall, indem er Bilder entwirft, die mit einem
Fuß in der Wirklichkeit stehen, aber märchenhaft zusammengestellt werden.
Komponist Alan Silvestri stützt diese Herangehensweise mit einem verträumten,
optimistischen Score.
So wird The Walk zu einer inspirierenden Parabel
darüber, dass Künstler und Träumer ihren Ideen folgen sollen, die sie in ihrem
tiefsten Inneren vernehmen und sich rational kaum erklären lassen. Entsprechend
dieser Bilderbuch-Erzählweise sind die Figuren rund um Petit von exakt einem
Charakterzug geprägt. Die Darsteller, darunter Ben Kingsley, Steve Valentine,
James Badge Dale und Charlotte Le Bon, rattern ihre Performances allerdings
nicht herunter, sondern eignen sich ihre schlichten Parts mit Vergnügen an.
Die Petit unterstützende Truppe sorgt mit pfiffigen Onelinern und
flockiger Situationskomik zudem dafür, dass The Walk bei
aller Fabelhaftigkeit viel von einer Heist-Komödie hat: Ein Team findet
zueinander und heckt einen nahezu unmöglichen Plan aus – und als Zuschauer darf
man schmunzelnd Mäuschen spielen. Die beschwingt-muntere Art von The
Walk bringen Regie und Cast mit so bezirzender Behändigkeit rüber,
dass die raren Versuche, Dramatik zu erzeugen und Petits Innenleben zu
beleuchten, fast schon ein Dorn im Auge sind. Wenn Petit kurz vor seinem
bedeutenden Tag keine Ruhe findet, ist das selbstredend plausibel, aber
Zemeckis taucht diesen Moment in so viel Theatralik, dass er wie aus einem
anderen Film entliehen scheint. Im Gegensatz zum mit Donnerschlägen und
schattigem Licht gehüllten Moment des Zweifels ist der bittersüße Schluss gelungen
– mit freundlicher Melancholie kennt sich Zemeckis ja auch aus. Statt nach
Petits Akt auf die Tränendrüse zu drücken, zollt The Walk
nur kurz, und trotzdem rührend der Historie ihren Tribut, ehe der Abspann
beginnt.
Wer eine Charakerstudie, ein Zeitgeistporträt oder den in den ersten
Trailern angedeuteten Abenteuerthriller erwartet, könnte vom wahren Gesicht
enttäuscht sein, dass die Verantwortlichen The Walk gegeben
haben. Als schelmisches Loblied auf künstlerische Antriebskraft und eine nur im
notwendigsten Maß sentimentale Erinnerung an die Twin Towers ist Zemeckis
3D-Prachtwerk dafür äußerst empfehlenswert.
Fazit: Ein immens sympathischer Hauptdarsteller,
eine vergnügliche Erzählweise, sehr gute Tricktechnik und ungeheuerlich gutes 3D
machen The Walk zu einer inspirierenden Komödie mit dem
Extra an schwindelerregenden Bildern.
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