Obwohl digitale Kameras in der
Kinoindustrie mittlerweile zum Standard geworden sind, sind es
ungebrochen die analogen Kameras, die große Leidenschaft wecken.
Egal ob Quentin Tarantino, Christopher Nolan oder Martin Scorsese:
Zahlreiche fähige, namhafte Regisseure schwören darauf, ihre Bilder
auf Film zu bannen. Das Ergebnis sei nicht zwingend realitätsnäher,
aber ästhetischer, magischer und kunstvoller. Wenn Filmemacher
digitale Kameras loben, so hat dies indes zumeist nur praktische
Gründe: Mit ihnen ließe es sich schneller und einfacher arbeiten.
Mitunter haben sie den Stand eines aufgezwungenen Werkzeugs, mit dem
man sich langsam arrangiert – wiederholt kommt es zu Aussagen von
Regisseuren und Kameraexperten, nach denen digital gedrehte Filme
mittlerweile ja auch fast schon so aussehen würden, wie klassisch
gedrehte Filme. Daher sei der Wechsel von der einen zur anderen
Technik ja nicht mehr so schlimm. Ein Lob, digitale Kameras seien
besser, ist nur selten zu vernehmen.
Dabei brachte die digitale
Kameratechnologie der Filmkunst ausreichend Gutes, dass sie solch
eine stiefmütterliche Behandlung nicht durch die Bank weg verdient
hat. Der zuletzt vorherrschende Mangel an wirklich überzeugender,
von der künstlerischen und nicht etwa von der praktikablen Seite der
Dinge ausgehender Begeisterung, könnte daher rühren, dass diese
Technologie schon länger nicht mehr mit einem auffälligen Triumph
aufwarten konnte. Zumindest, bis Victoria auf die
Tanzfläche stürmte und mit Verve eine Aussage für das Digitalkino
aufs Parkett legte.
Denn dieser Film wäre ohne digitale
Kameratechnik nicht möglich gewesen: Dieser Geniestreich,
ausgerechnet aus der in Sachen Kino gern als spröde und ideenlos
titulierten Bundesrepublik Deutschland, wurde komplett am Stück
gedreht. 140 Minuten ohne Schnitt, ohne Pause – und anders als bei
Birdman ohne jegliche Tricksereien. Was Alejandro
González Iñárritu und Emmanuel Lubezki mit ihrer Showbiz-Satire
bloß vorgegeben, leisten Regisseur Sebastian Schipper und Kameramann
Sturla Brandth Grøvlen tatsächlich. Dass Victoria
in nur einem einzigen Take gedreht wurde, ist aber nicht nur eine
logistische Glanzleistung und eine eindrucksvolle Vorführung der
Möglichkeiten digitaler Kameras. Bei diesem Genrehybriden
verschmelzen der Inhalt und das Formale zu einer im wahrsten Sinne
des Wortes überwältigenden Einheit.
Es beginnt in einem
Club, irgendwo in Berlin: Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa)
arbeitet seit kurzer Zeit in der deutschen Hauptstadt als Kellnerin,
hat bislang keinerlei Kontakte knüpfen können, und tanzt allein
durch die Nacht. Als sie wenige Stunden vor dem Morgengrauen den Club
verlässt, begegnet sie vier betrunkenen jungen Männern, die am
Straßenrand gerade Unfug anstellen. Victoria und Sonne (Frederick
Lau) kommen trotz der sprachlichen Hürden direkt ins Gespräch, und
so folgt die Einsame ihm und seinen Freunden Boxer (Franz Rogowski),
Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) durch die Straßen der
Metropole. Zunächst scheint sich dieses unerwartete
Aufeinandertreffen zum romantisch-ruhigen Nachglühen einer langen
Partynacht zu entwickeln. Doch als sich Boxer auf eine krumme Sache
einlässt, nimmt diese Großstadtanekdote eine aufreibende Wende …
Um direkt die einzige nennenswerte
Schattenseite von Victoria anzusteuern: Wie es
Spielfilme, die den Geist und die Attitüde eines Milieus atmen, nun
einmal an sich haben, versucht auch Schippers Berlin-Porträt einen
kleinen Drahtseilakt. In diesem Fall geht es ganz spezifisch darum,
das Publikum für die Tunichtgute zu erwärmen, mit denen sich
Victoria und Sonne herumtreiben. Leider gehen die Darsteller, die
ihre Dialogpassagen weitestgehend anhand von Improvisationen
bestreiten, aber all zu sehr in ihren Rollen spätpubertierender
Berliner Chaoten auf. Ohne ausgefeiltes Dialogbuch sind Boxer, Fuß
und Blinker zuweilen arg davon abhängig, ob der Zuschauer von sich
aus ein Faible für diese Zeitgenossen, ihren Lebensstil und ihre
Weltsicht aufbringen kann. Sie sind zwar authentische Typen, aber
leben dies auch nahezu ohne dramatugisch-narrative Hilfestellung aus.
Wer also schon in den ersten Augenblicken seine Probleme mit dem Trio
hat, dem werden diese Nebenfiguren aufgrund des rudimentären Skripts
auch nicht später im Film etwas bedeuten, womit die Spannungskurve
zwar nicht völlig ausgebremst, aber etwas gedrosselt wird. Und wer
sich mit ihnen identifizieren kann, der kann dies primär aufgrund
dessen, dass sie nun einmal einen bestimmten Typus darstellen –
eine große Leistung in Sachen Charakterzeichnung stellen Sonnes
Freunde nämlich nicht dar. Je nach persönlicher Einstellung sind
sie halt nur obendrein Ballast, der Victoria und Sonne aufhält. Da
Schipper sich auf thematischer Ebene durchaus auch darauf verlässt,
dass Sonnes Freunde nicht unbedingt ein großer Segen ist, lassen
sich deren Nervereien jedoch ertragen.
Da Boxer, Fuß und Blinker zudem nur
sehr selten die Aufmerksamkeit von Victoria und ihrer
Zufallsbekanntschaft ablenken, fällt die durchwachsene Ausarbeitung
dieses Dreiergespanns eh bloß nur minimal ins Gewicht. Bei den
Figuren, auf die es ankommt, brilliert dieser außergewöhnliche,
filmische Städtetrip unterdessen in einer Tour: Mit einem
aufgeweckten, neugierigen und abenteuerlustigem Blick saugt Laia
Costa in der Titelrolle das Geschehen förmlich auf. Und mit ihrem
schmalen Lächeln sowie einem nahezu unsterblichen Willen, alles so
zu nehmen, wie es kommt, wird sie gleichermaßen zur guten Seele als
auch zur Antriebsfeder dieses Films. Die Gefahr, dass sie somit zu
einer unausgearbeiteten Männerfantasie verkommt, ist
glücklicherweise nicht gegeben: Wenn sich Victoria zwischenzeitlich
ungestört mit Sonne unterhalten kann, lässt sie kurz, aber effektiv
in eine komplexe Seele blicken – und eben diese in ihr schlummernde
Unberechenbarkeit gewinnt im letzten Drittel dieses cineastischen
Ritts exponentiell an Bedeutung.
Der unter anderem aus Die
Welle bekannte Frederick Lau behauptet sich indes als
perfekte Besetzung für dieses bemerkenswerte Kinoexperiment. Zu
gleichen Teilen protzig und unbeholfen, in einem
haarsträubend-liebenswerten Wust aus Deutsch, Englisch, Denglish und
Berlinerisch radebrechend gibt er eine markante Type ab, die sich
aber im Gegensatz zu ihren Freunden nicht nur aus ihrer
Selbstdarstellung nährt. Wie Sonne nach und nach seinem
Gelegenheitsflirt verfällt und immer verzauberter dreinblickt, ist
pures cineastisches Gold – und ein erster Beleg dessen, dass die
technische Umsetzung von Victoria mehr als ein
bloßes Gimmick darstellt. Dadurch, dass die vom Norweger Sturla
Brandth Grøvlen mühevoll durch 22 Locations geschleppte Kamera den
Turteltauben auf Schritt und Tritt folgt, und dabei wie im wahren
Leben mal näher rückt und mal deutlich hinterherhinkt, wird der
Zuschauer zum beiläufigen Augenzeugen einer sich entfaltenden,
naiven Romanze. In Echtzeit und ungekünstelt.
Damit aber noch nicht genug: Sobald die
Fünfertruppe in miese Machenschaften verwickelt wird, bestünde in
einer Produktion mit konventioneller Bildsprache die Gefahr, dass der
Genrewechsel wie ein Einschnitt wirkt und so den ausführlichen
Aufbau zugrunde richtet. Durch die wenige Atempausen erlaubende, den
Betrachter mitten ins Geschehen versetzende Herangehensweise
Schippers fesselt Victoria dank seiner Abkehr ins
Krimigenre dagegen nur umso mehr. Nun kennen wir die Protagonisten,
sind zumindest manchen von ihnen verfallen, also gilt es ab sofort,
mitzufiebern, wenn sie sich ungewollt und ungeahnt in großen
Schwierigkeiten wiederfinden. Beide Gesichter dieses Films
profitieren daher voneinander: Die so authentische, alltägliche
Beziehung zwischen Sonne und Victoria erhält durch den spektakulären
Schlussakt eine besondere, denkwürdige Note – einen Hauch
Gangsterromantik. Und der Krimi-Aspekt wird durch das lange Vorspiel
realer, lässt den Zuschauer stärker mitfühlen. Es gibt Dutzende,
vielleicht Hunderte stylische Kriminalfilme, die Spaß machen.
Victoria versetzt einen wiederum mitten in die
Lage jener Menschen, die mit einem Schlag in eine ihnen unbequeme Tat
verwickelt werden. Und durch die nie ganz perfekt durchgeplante, aber
sehr wohl unentwegt perfekt ihre Wirkung entfaltende Kameraarbeit ist
man selbst in der Betrachterposition nicht sicher:
Orientierungsverlust und Kurzatmigkeit sind nahezu garantiert.
Nach 140 Minuten mit zunehmender Hektik
und Dramatik ist man dann völlig platt. Und glücklich. Glücklich,
dass man diese Nacht überstanden hat. Glücklich, dass man sich im
sicheren, überschaubaren Kinosaal oder den heimischen vier Wänden
befindet. Und glücklich, dass der deutsche Film fähig ist, solche
Sensationsleistungen abzuliefern.
Fazit:
Überwältigend, mitreißend, einzigartig. Victoria
ist ein filmischer Trip, den man einfach mitgemacht haben muss!
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