Na, das hat aber gedauert: Zehn Jahre ließ Anders Thomas
Jensen die Filmwelt auf seine neue Regiearbeit warten. Jetzt meldet sich der
Däne, der schon Blinkende Lichter, Dänische
Delikatessen und Adams Äpfel auf die Leinwand
brachte, endlich zurück – und bleibt sich dabei nach all den Jahren in einem
nicht unerheblichen Punkt treu. Wieder einmal spielt Mads Mikkelsen eine
zentrale Rolle, und das, obwohl der dänische Schauspielgott seit Jensens
Regiearbeit aus dem Jahr 2005 einen gehörigen Karriereschub erlebte und neuen
internationalen Ruhm genießt. Von Eitelkeit aber keine Spur: Mikkelsen
unterwirft sich hier völlig der absurd-boshaften und zugleich aufgeweckten
Geschichte, die zwar nicht unbedingt als Jensens mitreißendste Skriptarbeit in
Erinnerung bleiben wird, aber sehr wohl eine ganz eigene Faszination entwickelt
...
Die Brüder Gabriel (David Denick) und Elias (Mads Mikkelsen)
könnten unterschiedlicher nicht sein – abgesehen von einer mehr (bei Gabriel)
oder minder (bei Elias) erfolgreich wegoperierten Hasenscharte. Während der
schüchterne, gebildete Evolutionspsychologe und studierte Philosoph Gabriel
halbwegs sicher im Leben steht und empathisch ist, mangelt es Elias an Geduld,
Zurückhaltung und Bücherwissen. Dass er zudem wie besessen davon ist, mehrmals
täglich zu masturbieren, und sein fehlendes Glück bei Frauen mit Prahlerei
kompensiert, macht Elias für Gabriel endgültig zu einem anstrengenden
Verwandten.
Als die Brüder via Videobotschaft von ihrem Vater erfahren,
dass sie nur adoptiert sind und verschiedene Mütter haben, machen sie sich
trotzdem gemeinsam auf, ihren leiblichen Vater kennenzulernen. Dieser soll längst
biblisches Alter erreicht haben und ein berüchtigter Wissenschaftler sein, der
sich auf die schwach besiedelte Insel Ork zurückgezogen hat. Auf der kargen
Insel angelangt, bricht eine Überraschung auf Elias und Gabriel herein: Sie
haben drei Halbbrüder. Gregor (Nikolaj Lie Kaas), Franz (Søren Malling) und
Josef (Nicolas Bro) leben von der restlichen Bevölkerung abgekapselt, sehen
schräg aus und haben extreme Launen. Aber wegen seiner Sehnsucht, seinen
leiblichen Vater zu treffen, lässt sich Elias nicht verscheuchen …
Das Kinopublikum ist gut beraten, es Elias gleichzutun und
dem schweren Einstand zum Trotz eine kleine Portion Geduld mitzubringen. Denn ehe
sich Men & Chicken voll entfaltet, mutet diese
genussvoll-absonderliche Erwachsenenfabel wie eine stumpfsinnige
Hinterwäldlerkomödie an, in der Gabriel als einzig zurechnungsfähige Figur
einen dauerwichsenden Bruder, verquere Inselbewohner und seine neu entdeckte,
schräge Familie zu erdulden hat. Zwar verkürzt geschliffener Dialogwitz die
nicht ganz ausgefeilten ersten Minuten (Elias' Umgang mit seinem Date setzt
Maßstäbe für spätere Wortwechsel im Film), dennoch gibt sich Anders Thomas
Jensen zum Einstieg von einer arg rüpelnden Humorseite. Nachdem Gabriel und
Elias aber eine erste Nacht im gewaltigen, abgeranzten Ex-Sanatorium verbracht
haben, das ihre Halbbrüder Heimat nennen (und als Tennisplatz, Käserei sowie
Bauernhof nutzen), kommt Men & Chicken aber endlich in
Gang.
Nicht, dass diese obskure Geschichte mit einem Schlag
zügiger erzählt werden würde – sehr wohl aber mit viel mehr
Einfühlungsvermögen. Wobei das vielleicht nicht ganz das richtige Wort ist.
Viel mehr lebt sich Jensen nach der ersten Übernachtung bei der irren
Sippschaft allmählich in deren Gepflogenheiten ein. Und so gewinnt Men
& Chicken einerseits an Dimension, was die Charakterzeichnung der
drei Ork-Originale anbelangt. Mit Treuseligkeit und Neugierde, umfassendem
Bücherwissen und unerwarteter Sportlichkeit oder mit einer tief, tief unter der
herrischen Oberfläche versteckten Verletzlichkeit entwickelt jeder im
dysfunktionalen Trio einen eigenen Charakter mit reizvollen Widerhaken.
Gleichwohl geht mit der voranschreitenden Laufzeit eine wachsende Anzahl an
grotesken, teils abscheulichen Details einher. Dass sich die Brüder mit
Nudelhölzern und ausgestopften Tieren verprügeln, ist nämlich noch das Normalste
an ihnen.
Jensen balanciert seine Zuneigung zu den Außenseitern und
seine Faszination fürs Makabere sowie Schräge aus, indem er seiner
pechschwarzen, vor Ideen platzenden, gemächlich erzählten Geschichte eine
verstört-verträumte Atmosphäre verleiht. Dazu tragen überzeichnete
Situationskomik und die unwirkliche Musik ebenso bei wie die
abstrus-assoziative Weise, wie Men & Chicken seine
Gedanken über Zivilisation, Sozialisation und biologischer Veranlagung anreißt
(besonders pfiffig: Jensens Einbindung der Bibel!). Für einen Film, der fast so
viel Hintersinn enthält wie amüsanten Irrsinn, ist diese doppelbödige
Sippschaft-Chronik ungewohnt leichtgängig und unverkopft erzählt. Damit geht
zwar auch einher, dass die zur Verständigung aufrufende Botschaft gen Schluss
etwas schwammig wird, jedoch wissen die Albernheit, Bitternis, und
Unkorrektheit vermengenden Pointen zweifelsohne dafür zu entschädigen.
Obwohl das ganze Ensemble gute Leistungen abgibt, sind es an
vorderster Front die Verantwortlichen für Szenenbild, Produktionsdesign und
Kostüme, die eine gesonderte Nennung verdient haben: Beim Anblick der
abgeranzten Villa bekommt man glatt Angst, sich Herpes, Tetanus, Typhus und
sonstwas einzufangen. Und wenn sie schattig ausgeleuchtet wird, erhält sie
zudem eine Ausstrahlung wie ein uriges Horrorfilmhaus. Trotzdem wächst sie
einem ans Herz – mit all ihren durchgeknallten Details ist sie zu interessant,
als dass man sie in den Szenen an anderen Schauplätzen nicht vermissen würde.
Schlussendlich ist Men & Chicken ein
willkommen andersartiges, bizarres Stück dänisches Kino, das in aller
Seelenruhe ein schwarzhumoriges Familiendrama erzählt und dieses mit den
grotesken Qualitäten einer skurrilen Böse-Nacht-Geschichte anreichert. Das wird
vielleicht selbst manchen Jensen-Anhänger verprellen, ist aber vom lahmen
Anfang abgesehen so passioniert und besonders geraten, dass es sich lohnt, über
seinen Schatten zu springen. Denn dieser Wahn hat Respekt verdient!
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