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Samstag, 26. Dezember 2015

Ich seh Ich seh



Wenn der zu Recht gefeierte österreichische Regisseur Ulrich Seidl (Paradies-Trilogie) einen Film produziert, der sich zwischen Familienhorror und Psychothriller verorten lässt, ist Obacht geboten. Möchte man meinen. Insbesondere, wenn es sich dabei um das Spielfilm-Regiedebüt der Journalistin, Drehbuchautorin und Seidl-Lebensgefährtin Veronika Franz handelt. Möchte man meinen. Und dass Elefantenhaut-Macher Severin Fialas ebenfalls Regie führte und am Skript mitwirkte, kann ja auch nur Gutes heißen. Möchte man meinen. Letzten Endes entpuppt sich Ich seh Ich seh aber als gewaltige Mogelpackung. Was sich angesichts des Plots dieses Alpengrauens nur schwerlich einer bitteren Ironie entbehrt.

Nach einer schweren Gesichtsoperation kommt die Mutter der Zwillinge Lukas und Elias zurück in ihr geräumiges, kühl eingerichtetes Haus, das sich abgeschieden in einem grünen Bergidyll nahe eines Sees befindet. Doch Wiedersehensfreude will nicht so recht aufkommen. Erstens, weil Mami mit ihrem Verband und den verquollenen Augen gruselig aussieht. Zweitens, weil sie so viele Regeln aufstellt. Drittens, weil sie mit einem ihrer Jungs nicht mehr spricht. Den Brüdern gefällt das gar nicht und der von Mama nicht ignorierte Sohn bietet sich als Sprachrohr an. Aber das sei keine Lösung, so die Mutter. Der Lausbub soll sich doch selber entschuldigen! Den eingeschworenen Zwillingen kommt aufgrund des Verhaltens der Heimgekehrten ein grausamer Verdacht: Vielleicht ist das gar nicht ihre Mutter, sondern jemand oder gar etwas anderes ..?

Was niemand Ich seh Ich seh nehmen kann: Franz und Fialas sowie deren Kameramann Martin Gschlacht (Immer nie am Meer) haben ein Auge für starke Bilder. Wenn die Zwillinge im Prolog durch die Natur rennen, auf einem wabbeligen Weg entlang hüpfen und ein schwarz-grüner Waldsee mit seiner spiegelglatten, dreckigen Oberfläche die Leinwand erfüllt, trieft Ich seh Ich seh vor Atmosphäre. Und das Haus, in dem sich der Großteil dieses rapide zerbröckelnden Idylls abspielt, ist wie geschaffen für solch eine Geschichte. Bei Sonnenlicht offenbart sich, wie leer und klinisch es ist, bei Nacht verschluckt die Dunkelheit alles um die handelnden Figuren herum. Die Einrichtung, die so prägnant in Szene gesetzt wird, zeugt derweil von einem versierten Auge für ausdrucksstarke Bilder – für all zu ausdrucksstarke Bilder, um genau zu sein.

Der Innenarchitekt der schwer verbundenen, fürs Fernsehen arbeitenden Mutter muss psychopathische Neigungen haben – diese schwingen zwar im Einklang mit einem erlesenen, zeitgemäßen Geschmack. Aufdringlich sind sie trotzdem. Von überdimensionalen, verwaschenen Fotografien, die keinen klaren Blick auf die Gesichter der Motive erlauben, bis hin zu einer Treppe, die dem römischen Gott Janus gewidmet sein könnte: Schein, Sein, Dopplungen und Irrtümer werden in Ich seh Ich seh auf visueller Ebene sehr minutiös und edel, allerdings ebenso unverhohlen und penetrant ausgedrückt. Stilistisch werden Erinnerungen an Michael Hanekes US-Remake von Funny Games wach, nicht nur wegen der unpersönlichen Weiß-Töne, die das Haus prägen und die von den Zwillingen zuweilen getragen werden. Sondern auch dank der Diskrepanz zwischen geordnetem Schauplatz und eskalierenden Ängsten und Taten. Nur, dass Hanekes Funny Games, ganz gleich ob Original oder Remake, eine viel durchdachtere, kompromisslosere und dennoch komplexere Botschaft vermittelt als Ich seh Ich seh.

Überhaupt lässt sich daran ein wiederkehrender, überaus kritischer Aspekt dieser Seidl-Produktion erkennen: Franz und Fiala beherrschen es offensichtlich, bei großen Meistern haargenau abzugucken. Die Kamera schwebt wiederholt durch die Villa, wie es in Stanley Kubricks Shining vorgemacht wurde. Gute-Nacht-Lieder offenbaren einen schauderhaften Beiklang, wie in Wes Cravens Nightmare – Mörderische Träume. Die gebotenen Einblicke ins österreichische Gemüt könnten aus einem 'echten' Ulrich-Seidl-Film stammen, würden sie sich nicht auf ein simples „Traue nicht dem Anschein!“ beschränken. Der Schoß der Familie ist kein sicherer Hort – wie uns seit Jahrzehnten endlose Filme bescheinigen. Und dass Insekten und surreale Traumsequenzen (inklusive unverzichtbarer Arthouse-Nacktszene, denn ungeschminkte Frauenkörper im Mondlicht sind bedeutungsvoll!) genutzt werden, um die Nerven des angespannten Publikums zu malträtieren, ist auch längst Standard. Ich seh Ich seh verbindet all dies, versäumt es aber, diesem sturen, haltungslosem Abhaken von Stilmitteln und Motiven eine profunde, eigene Note zu verleihen.

Der Trumpf im Ärmel der mit Regisseure, deren Stil so rüberkommt, als würden sie mit Samthandschuhen ein Brecheisen anfassen und dann dem Publikum ihre Intentionen einbläuen, ist Susanne Wuest als bittere, entnervte und herrische Mutter. Die Mimin muss für weite Teile der Laufzeit allein mit ihrer Stimmlage und ihren Augen arbeiten, und sie versteht es formidabel, trotz dieser Einschränkung Wut, Erschöpfung und eine emotionale Distanz zu ihren Leinwandkindern zu vermitteln. Letzteres absolviert Wuest, ohne sich zu sehr von den Zwillingen abzuwenden, so dass die Frage „Ist sie die echte Mutter?“ zumindest auf darstellerischer Ebene lange im Raum zu hallen vermag. Auch Elias und Lukas Schwarz agieren so gut, wie es das hochtrabende, doch nichtssagende Drehbuch ihnen erlaubt – ganz frei von den Unsicherheiten oder der Affektiertheit vieler gleichaltriger Schauspieler.

Dass die Figurendynamik und somit die Spannungskurve von Ich seh Ich seh schneller in sich zusammenbricht, als man „Ich sehe was, was du nicht siehst ...“ sagen kann, liegt wahrlich nicht an diesen drei Akteuren. Sondern an der Story, die meilenweit unter dem Niveau der ansehnlichen, wenngleich arg verkopften sowie identitätsarmen Aufmachung liegt. Wer die Auflösung nicht bereits 80 Meilen gegen den Wind wittert (respektive 80 Minuten vor Abspann erahnt), muss sich wohl aktiv gegen das Offensichtliche gewehrt haben. Der Tempo- und Subgenrewechsel von Ich seh Ich seh kommt nach seinen aggressiven Vorzeichen leider nur lasch daher, selbst wenn nach dieser Wende die Handlung zumindest ergiebigere Reizpunkte liefert als zuvor.

 Wenn Ich seh Ich seh dann im Finale mit einer albernen, dramatisch gemeinten Pause (aber glücklicherweise ohne panisch hallender Musikuntermalung) das offene Geheimnis lüftet, darf sich der Zuschauer durchaus fragen, wie ein so altes Klischee nur so selbstgefällig neu verpackt werden konnte. Zumal die Plausibilität des Films bis zur überreizten Wendung arg davon abhängig ist, wie sehr das Publikum willens ist, das Verhalten wahlweise der Mutter oder der Kinder blind abzukaufen. Da Ich seh Ich seh sich nicht völlig einem Fokus verschreibt, bleiben nämlich beide Seiten zu ausführlich, als dass sie mittels eines gezielten Informationsmangels befremden könnten, aber gleichwohl zu undefiniert, als dass sie sich aus der Klischeekiste befreien könnten. Für einen Film, der sich mittels fremder Federn als so geistreich schmückt, ergeben die Taten der Figuren erschreckend wenig Sinn – so dass das Ergebnis nicht nervenaufreibend ist, sondern an den Nerven sägt. Einzig wenn es um körperliche Folter geht, reißt Ich seh Ich seh seinen schmerzlichen inhaltlichen Schwächen zum Trotz mit. Zu dokumentarisch und echt sieht das Leid auf der Leinwand aus, um als Betrachter nicht wenigstens einmal mitschreien zu wollen. Ansonsten provoziert Ich seh Ich seh aber eher folgenden Aufschrei: Wieso?

 Fazit: Dieser Film sollte viel lieber Schon gesehen Schon gesehen heißen! Denn auch wenn Ich seh Ich seh wie Kunst aussieht, ist es nur eine C-Horrorgeschichte wie sie bereits zigfach erzählt wurde.

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