Sonntag, 6. Dezember 2015

Die Augen des Engels


Es ist ein Mordfall, der die Weltpresse bis heute nicht loslässt: Im November 2007 wurde die britische Austauschstudentin Meredith Kercher in ihrem Zimmer im italienischen Perugia tot aufgefunden. Als Hauptverdächtige kristallisierten sich alsbald Kerchers WG-Genossin Amanda Knox und deren Freund Raffaele Sollecito heraus. Ob der „Engel mit den Eisaugen“, wie Knox von den Journalisten letztlich getauft wurde, die Tat nun begangen hat oder nicht, steht allerdings nicht im Fokus dieser Mixtur aus Mediendrama und Kriminalthriller. Der Regisseur Michael Winterbottom nimmt das vielfach analysierte Verbrechen stattdessen als Ausgangspunkt, um über das verworrene Verhältnis zwischen der Rekonstruktion von Fakten und dem Schaffen einer Fiktion zu reflektieren. Dazu verlegen er und Drehbuchautor Paul Viragh das Geschehen auch in die gotisch angehauchte, toskanische Stadt Siena und ändern zudem sämtliche Namen. Dass sich die Bilder vom Tatort und den Gerichtsverhandlungen vereinzelt täuschend nah am 'Original' orientieren, lässt die Grenzen zwischen filmspezifischer und 'unserer' Realität weiter verschwimmen. Und gehört leider schon zu den konsequenteren Ideen dieses Films.

Auch der unkonzentriert abgespulte Plot lässt den Betrachter immer wieder verdutzt mit der Frage zurück: Wie viel ist nun reine Erfindung – und wie viel nährt sich aus wahren Begebenheiten? Im Mittelpunkt der Filmereignisse steht nämlich eine Figur, die gefühlt gleich viele Parallelen zu Michael Winterbottom aufweist wie Unterschiede zum Arthaus-Filmer. Der von Daniel Brühl gespielte Protagonist namens Thomas Lang ist ebenfalls als Independent-Regisseur tätig und wird eingangs durch das sie selbst als handelnde Person ins Zentrum rückende Sachbuch der Journalistin Simone Ford (verschenkt: Kate Beckinsale) nach Italien gelockt. Je mehr sich Lang, dessen Ehe zu Grunde ging und der nun eine Affäre mit Ford beginnt, jedoch mit dem Buch und den darin dargelegten Fakten beschäftigt, desto mehr gewinnt er Interesse daran, einen ganz eigenen Schwerpunkt zu setzen. Während seitens der Finanziers der Druck auf Lang immer größer wird, einfach einen strikten Krimi über die Tätersuche abzuliefern, wächst in ihm der Drang, einen Kunstfilm über Verbrechen, Versuchung, Verlust und Vergebung auf die Beine zu stellen. Nach und nach verliert sich Lang im Subkosmos Siena, mit seiner eingespielten Clique an Journalisten, dubiosen Bloggern, der lebensfrohen Austauschstudentin Melanie (Cara Delevingne) und der Assoziationen mit Dantes Arbeiten weckenden Architektur …

Wer seine Sensationsgier in Die Augen des Engels stillen will, befindet sich angesichts Winterbottoms Desinteresse an der tatsächlichen Spurensuche im falschen Film. Aber selbst jene, die sich den vom Welcome to Sarajevo-Regisseur angerissenen Elementen annehmen möchten, laufen Gefahr, derbe enttäuscht zu werden. Denn der rund 100 Minuten lange Film mutet über weite Teile ähnlich ziellos und unkonzentriert an, wie die fiktionale Themensuche Thomas Langs. Es gibt diverse kurze Passagen, in denen sich ein inhaltlicher Schwerpunkt herauszukristallisieren scheint, aber all diese Momente führen letztendlich in Sackgassen. So nimmt die von Beckinsale adäquat gespielte Journalistin Lang in die eigenwillige journalistische Welt mit, die sich rund um den Mordfall gebildet hat: Das übliche Konkurrenzdenken zwischen den verschiedenen Reportern, die mit jeweils völlig unterschiedlichen Intentionen und Herangehensweisen vom Fall berichten, wich einer von freundschaftlichem Necken geprägten Abenteuerurlaub-Mentalität. Eben jene hat so ihre reizvollen Konsequenzen …

Doch sobald Winterbottoms Darstellung der Journalisten vermehrt interessante Ecken und Kanten gewinnt, wendet sich Die Augen des Engels einem anderen Subthema zu. Etwa kurzzeitig der von Lang harsch als oberflächlich kritisierten Tätersuche. Oder den Eheproblemen des deutschstämmigen Regisseurs. Oder seinem Versuch, das Gefühl wiederzuerlangen, jung, optimistisch und ungebunden zu sein. Oder seinem durch Drogen induzierten Abstieg in den Wahnsinn – den Winterbottom wenige Minuten nach Beginn dieses Aspekts wieder über Bord wirft. Nicht ohne zuvor eine tonal deplatzierte Fantasysequenz einzuarbeiten.

Mit diesem unfokussierten Mischmasch an Ansätzen, mit denen man sich einer filmischen Grundidee nähern kann, hätte Die Augen des Engels das Potential dazu, ein Film darüber zu werden, dass es keine objektive Wahrheit gibt, und dass alles nur konstruierte Geschichten sind – und sich bestenfalls die Frage stellt, wie schlüssig diese Erzählungen aufgebaut werden. Allerdings wächst Die Augen des Engels nie darüber hinaus, sein Subjektivität gegen Objektivität ausspielendes Unterthema darin zu äußern, dass Lang immer wieder seine Meinung ändert, wer der Protagonist oder die Protagonistin seines Films sein sollte. Mit diesem Wechsel geht auch stets eine neue Theorie über den Tathergang einher – und das war es auch schon. Da Langs Überlegungen, wie sein Film ablaufen sollte, nur wenige Minuten der Die Augen des Engels-Laufzeit einnehmen, geht selbst dieser zurückhaltende Ansatz schnell verloren.

Alternativ hätte Die Augen des Engels auch ein Film darüber werden können, wie schwierig es ist, einen Film zu erschaffen. Aber selbst in dieser Hinsicht ist Winterbottom bloß ein äußerst müder Vertreter dieser Gattung gelungen. Die Cleverness eines Adaption und die Poetik eines 8 ½ bleiben für diese sperrige Erzählung stets außer Reichweite. Selbst die Dopplung, Die Augen des Engels wie auch den Film-im-Film nach dem Vorbild von Dantes Göttliche Komödie zu strukturieren, bleibt wenig ergiebig und mutet eher wie eine formale Fingerübung an, denn wie eine aussagekräftige künstlerische Entscheidung. Angesichts dessen, dass zudem Kameramann Hubert Taczanowski den reizvollen Schauplatz nur selten auf inspirierende Weise einfängt und die Dialoge den sichtbar engagierten Daniel Brühl dazu drängen, die Lektionen seiner Figur wortwörtlich auszusprechen, bleibt Die Augen des Engels eine intellektuelle Luftblase: Durch die mäandernde Erzählweise ist Winterbottoms Werk zwar zäh, die hinter dem anstrengenden Storytelling liegenden Erkenntnisse sind derweil erschreckend banal.

Einziger Lichtblick in diesem von drögen Figuren und unstrukturierten Gedankenansätzen geplagten Genremix ist das Supermodel Cara Delevingne. Die Britin, die bereits in Anna Karenina aufgetreten ist und 2016 in Suicide Squad zu sehen sein wird, glüht vor Energie sowie Passion, und im Gegensatz zum restlichen Ensemble erweckt sie eine runde Figur zum Leben, statt als wandelnde These durchs Bild zu stapfen. Wann immer Delevingne als Teilzeit-Barkeeperin Melanie Brühl Figur durch Siena führt oder daran erinnert, dass es möglich ist, Spaß zu haben, verwandelt sich Die Augen des Engels in einen Film, der zwar simpler ist, jedoch auch in sich küntlerisch deutlich ausgereifter. Schade bloß, dass die Schwächen, die diese Szenen umgeben, zu dominant sind, als dass Delevingne den Film im Alleingang retten könnte.

Fazit: Die Augen des Engels nimmt diverse reizvolle Ideen, denkt sie nicht zu Ende und hakt sie alle in einer unfokussierten, spröden Geschichte ab, die nichts aus ihrem metafiktionalen Potential macht. Vielfilmer Michael Winterbottom kann besseres als das!


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