Märchen sind einer der tragenden
Pfeiler der Walt Disney Company. Schon der erste Langfilm des
Unterhaltungsgiganten, Schneewittchen und die sieben
Zwerge, brachte eine altbekannte Mär auf ikonische Weise
in die Kinos. Seither packt Disney in unregelmäßigen Abständen
weitere animierte Märchenadaptionen an, und sie alle sind im
Pantheon der am meisten geachteten Trickfilme vorzufinden. In
jüngster Vergangenheit hat der Konzern zudem einen Narren daran
gefressen, Märchen, die bereits in animierter Form Teil des
Disney-Kanons sind, neu als Realfilm umzusetzen. Rein kommerziell
machte sich dieser Trend bislang bezahlt, während diese „Realmakes“
aus künstlerischer Sicht bislang eine bescheidene Bilanz aufweisen.
Gelang es Tim Burton 2010, seinem
Milliardenhit Alice im Wunderland trotz allerhand
dürftiger Momente zumindest einige clevere Aspekte zu verleihen,
stellt die 2014 gestartete Dornröschen-Neuinterpretation
Maleficent – Die dunkle Fee eine inkohärente,
mittelschwere Katastrophe dar. Robert Strombergs ungelenke
Regiearbeit spülte dessen ungeachtet über 750 Millionen Dollar in
die Kassen – keine niedrige Hürde, die Cinderella
rund zwölf Monate später zu überbieten hatte. Der von Kenneth
Branagh auf Zelluloid gebannte Kostümfilm kam unterm Strich nicht
ganz an diese Summe heran, mit 542,69 Millionen Dollar muss er sich
dennoch nicht vor seinen Genrekollegen verstecken. Gegönnt sei der
95-Millionen-Dollar-Produktion dieser Erfolg! Denn
Thor-Regisseur weiß, im Gegensatz zu den Köpfen
hinter den zwei soeben genannten Kassenschlagern, die Magie des Pate
stehenden Disney-Zeichentrickklassikers einzufangen und gleichwohl
eine eigene Identität zu entwickeln.
Im Gegensatz zum unvergesslichen
Zeichentrickfilm der Regisseure Clyde Geronimi, Wilfred Jackson und
Hamilton Luske blickt diese Cinderella-Adaption
ausführlich auf das Leben der Titelfigur, bevor es aufgrund ihrer
garstigen Stiefmutter zur reinen Tortur wurde: Gemeinsam mit ihrer
fürsorglichen Mutter (Haley Atwell) und ihrem gutmütigen Vater (Ben
Chaplin) führt die kleine Ella ein unbeschwertes Dasein … Dann
erkrankt ihre Mutter überraschend, letztlich erliegt sie ihrer
Erkrankung sogar. Jahre später findet der Witwer in Lady Tremaine
(Cate Blanchett) eine neue Liebe. Die oberflächliche, herrische Frau
hat aber wenig für Ella übrig; sie gibt allein auf sich selbst und
ihre leiblichen Töchter Anastasia und Drizella (Holliday Grainger
und Sophie McShera) acht. Als dann Ellas Vater während einer
Geschäftsreise spurlos verschwindet, entwickelt sich Tremaine
endgültig zu einer gefühlskalten, befehlshaberischen Natter, die
ihre Stieftochter ohne Unterlass tyrannisiert. Zum Hausmädchen
erniedrigt und nur noch unter dem beißenden Spitznamen Cinderella
bekannt, glaubt die gute Seele, in einem Albtraum gefangen zu sein.
Doch dann geht die frohe Botschaft durchs Land, dass der nach einer
Gattin suchende Prinz (Richard Madden) einen festlichen Ball gibt.
Eine gute Fee (Helena Bonham Carter) sorgt letztlich dafür, dass
Ella dort ordentlich Eindruck schindet …
In den Walt Disney Animation Studios
galt jahrzehntelang die Maxime: In der Kürze liegt die Würze. Dies
macht sich auch bei der dreifach Oscar-nominierten
Zeichentrickversion von Cinderella bemerkbar, die
mit gerade einmal 74 Minuten Laufzeit auskommt. Derart knapp fasst
sich Branaghs Realfilm nicht, mit 112 Minuten übertrifft er sogar
Burtons Reise ins Wunderland und Strombergs tonal schizophrene
Dornröschen-Umdeutung. Ganz so lang hätte die
Erzählung nicht ausfallen müssen: Bis die von Cate Blanchett mit
denkwürdiger Garstigkeit verkörperte Stiefmutter in die Story
Einzug erhält, findet das Skript von Aline Brosh McKenna und Chris
Weitz keinen souveränen, narrativen Fluss. Ab diesem Wendepunkt
sitzt der Erzählrhythmus zwar bis zum Schluss, jedoch fallen dafür
die zahlreichen Wiederholungen von Ellas Lebensmotto „Sei immer
mutig und gütig!“ mit der Zeit ziemlich störend auf.
Von diesen Faktoren abgesehen, nutzt
Disneys neuer Cinderella-Film seine längere
Laufzeit sinnig. Hauptsächlich dienen die zusätzlichen Filmminuten
dazu, den Figuren stärkere Konturen zu verleihen. So wird Ellas
Widerwillen, sich gegen ihre unerträglichen Stiefschwestern und
deren sadistische Mutter aufzulehnen, fundiert begründet. Ebenso
gibt es mehr Einblicke in das Palastleben, ferner wird Lady Tremaine
deutlich ausdifferenzierter dargestellt als in den meisten
Verarbeitungen der Aschenputtel-Erzählung. Zwar bleibt dank der
wundervoll fiesen Cate Blanchett stets außer Frage, dass Tremaine
sich ihrer Stieftochter gegenüber durch und durch unschicklich
verhält, jedoch geben McKenna & Weitz ihr eine plausible,
nachvollziehbare Motivation. Somit erhält die zweifache
Academy-Award-Preisträgerin die Gelegenheit, sich sowohl in
genussvoller Thetralik zu üben, als auch mit leiseren Momenten
Akzente zu setzen.
Es ist auch Blanchetts Rolle, die ein
Gros der Sequenzen trägt, in denen Cinderella
gleichermaßen aufgeweckt wie tänzerisch die eingeschränkten
Möglichkeiten thematisiert, die Frauen jahrhundertelang in ihrer
Lebensgestaltung hatten: Dass in vielen Märchen Frauen durch einen
Prinzen errettet werden, muss nämlich nicht zwangsweise als
patriarchale Erzähldynamik aufgefasst, sondern kann auch als
Abbildung der Realität vergangener Zeiten verstanden werden. Da
bezahlte Arbeit für das weibliche Geschlecht zumeist ein Tabu war,
mussten Frauen in der Wahl ihrer Gemahlen taktieren und Initiative
ergreifen, wenn sie ihr Schicksal verbessern wollten. Dies
kommentiert Branaghs Film mit gebotener Haltung, ohne dabei von der
eskapistischen – und vor allem genderneutralen – Märchenstimmung
abzulenken. Und ob nun Frau oder Mann: Der Traum davon, durch eine
bedingungslose Liebe sein Elend hinter sich zu lassen, ist
ungebrochen nachfühlbar. Erst recht in diesem visuellen Prachtwerk,
das sich durch Branaghs ehrliche, direkte Inszenierung klar von
modernen Hollywood-Blockbustern abhebt.
Kenneth Branagh verzichtet genauso sehr
auf das Auffangnetz der Ironie, wie er jeglichem Zynismus entsagt und
sich gegen den Trend stellt, alles rau und grimmig zu zeichnen.
Dieser Ansatz wäre aufgrund moderner Sehgewohnheiten zum Scheitern
verurteilt, wäre Branaghs Film nicht von Anfang bis Ende von einer
klar erkennbaren Ehrfurcht gegenüber der Märchenvorlage durchzogen.
Branagh ist mit Passion dabei, was sich etwa in den farbenfrohen,
minutiös geplanten und prunkvollen Bildern zeigt, die er und
Kameramann Haris Zambarloukos auf die Leinwand zaubern. Entgegen der
heutigen Hollywood-Norm wurden gar analoge Kameras verwendet, um ein
zeitloses Feeling zu kreieren und sich des Weiteren vor dem
handgemachten Zeichentrickfilm zu verneigen. Aus eben jenem lieh
Branagh mehrere ikonische Bilder, die er allerdings nicht 1:1
kopiert, sondern behutsam variiert – wie etwa die magische
Entstehung des Ballkleids, mit dem Ella alle Blicke auf sich zieht.
Generell sind die Verwandlungsszenen am
Disney-Klassiker orientiert, aber zugleich originell genug, um nicht
bloß eine blanke Hommage darzustellen. Mit rasantem Slapstick und
einer ansteckend-amüsierten Helena Bonham Carter als gute, aber
konfuse Fee gehören die wenigen übernatürlichen Passagen sogleich
zu den Höhepunkten des Films. Knapp dahinter reiht sich bereits der
prächtige Ball des Prinzen ein, der dank der fabelhaften, von Sandy
Powell (Aviator) gestalteten Kostüme eine echte
Augenweide ist. Den Look des Disney-Films lässt Powell wohlgemerkt
weitestgehend hinter sich, ähnlich wie auch Komponist Patrick Doyle
primär sein eigenes Ding dreht – dies aber erfolgreich: Die Musik
ist zeitlos und träumerisch, wenngleich längst nicht so eingängig
wie die aus dem Disney-Evergreen.
Obwohl ihre tierischen Freunde – die
nur sehr begrenzte Laufzeit erhalten, dann aber zuckersüß
daherkommen – klar an den 50er-Jahre-Film angelehnt sind, lässt
sich auch Hauptdarstellerin Lily James kaum spürbar vom
Zeichentrickklassiker beeinflussen. Die Downton
Abbey-Mimin verleiht aber auch ohne solche Schützenhilfe
der Titelheldin ein sympathisches, selten kitschiges Naturell –
wenngleich sie sich nicht dermaßen in ihrer Figur verliert wie ihre
Ensemblekolleginnen. Die Herren der Schöpfung zu guter Letzt tun
effizient ihren Dienst, ohne sonderlich aufzufallen. Richard Madden
darf als Prinz gut aussehen, Stellan Skarsgård als Großherzog
schmierig sein und Nonso Anozie als Kapitän der Palastwache ein paar
geschliffene Wortwitze abliefern. Es sind halt die Damen, die in
Cinderella im Zentrum stehen – ihre Sorgen, ihre
Träume und ihre märchenhafte Garderobe.
Fazit: Trotz
kleiner Längen: Cinderella ist um ein Vielfaches
besser als Maleficent – Die dunkle Fee und Tim
Burtons Alice im Wunderland. Die Optik ist
fabulös, Cate Blanchett ist eine Wucht und Kenneth Branaghs
Inszenierung beweist, dass Märchen auch heutzutage in nüchterner,
ehrlicher Form funktionieren.
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