Sonntag, 18. Oktober 2015

Vidocq


Bevor Videokünstler Pitof mit seinem Hollywood-Debüt Catwoman einen cineastischen Unfall verursachte, der im modernen Superheldenkino seinesgleichen sucht, machte er sich mit dem französischen Mysteryfilm Vidocqeinen Namen. Die hyperstylische Produktion aus dem Jahr 2001 erarbeitete sich ihrerzeit eine kleine Fangemeinde und verdiente sich unter technologievernarrten Filmfreunden große Achtung dadurch, dass sie zu den ersten Kinoprojekten gehört, die mit der Sony HDW-F900 HDTV-Kamera gedreht wurden.

Die damals teuerste Kamera Welt ist es auch, die Vidocq zusammen mit dem ausgefallenen Kostüm- sowie Produktionsdesign und der ungewöhnlichen Spezialeffekte zu einem besonderen Film machen. Wohlgemerkt nicht zwingend zu einem guten, aber durchaus zu einem besonderen, der es nicht verdient hat, in den Horror-Aktionsregalen diverser Elektronikmärkte zu versauern. Einerseits, weil er gar nicht wirklich dem Horrorgenre angehört, und andererseits, weil er wenigstens auf visueller Ebene originell genug ist, als dass er es verdient hätte, bis zur untersten Riege durchgereicht zu werden. Wobei mir gleichzeitig der gute Ruf, denVidocq bei vielen Filmfans genießt, zu wohlgesonnen vorkommt. Aber der Reihe nach …

Paris in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts: In den Armenvierteln der Seine-Metropole treibt ein gesichtsloses, mörderisches Phantom sein Unwesen, das von allen nur "Der Alchemist" genannt wird. Dieses hat es insbesondere auf Jungfrauen abgesehen, die nach einer Begegnung mit ihm spurlos verschwinden. Als aber auch zwei gut betuchte Herren auf bizarre Weise ums Leben kommen, fühlt sich der Detektiv Vidocq auf den Plan gerufen. Dieser ist ein geläuteter Verbrecher und brillanter Wissenschaftler, und fühlt sich als einziger fähig, das raffinierte Monstrum zu bezwingen. Weit gefehlt: Vidocq segnet im Kampf gegen den Alchemisten das Zeitliche. Vidocqs Biograf nimmt sich daraufhin vor, die letzten Wochen des genialen Detektivs zu rekonstruieren ...

Die Autoren Pitof und Jean-Christophe Grangé nehmen eine im Kino all zu selten gesehene, visuell interessante Epoche und die real existierende Person des Kriminalisten Eugène François Vidocq, um mit allerlei kreativem Wahnwitz eine durch und durch fiktive Story zu erzählen. Und gerade das Setting weiß, schon in den ersten Filmminuten zu packen: Vidocq, verkörpert durch das französische Schauspielschwergewicht Gérard Depardieu, kämpft im Untergrund des gothischen Paris gegen ein maskiertes, im schnittigen Mantel gehülltes Phantom. Die Kamera schwebt frei durch die verflixt coole Kulisse, wann immer das Phantom hastige Bewegungen macht, erhallt ein metallisch schneidendes Geräusch und knallig-stilsichere Effekte sorgen für einen einzigartigen Look. Obwohl dies eine digital gedrehte Produktion ist, wurde für die Effektaufnahmen eine besondere Deinterlacing-Methode verwendet, die für Bewegungsunschärfe sorgt, wie man sie vom konventionellen, analogen Film kennt. Die Diskrepanz zu den normalen, effektfreien Szenen im kühlen Digitallook ist so klein, dass sie die einzelnen Sequenzen auseinander reißt, aber so groß, dass sie unterbewusst die Wirkung von Vidocq beeinflusst: Die "realistischen" und somit historisch plausiblen Szenen wirken modern und schnittig, die übernatürlichen Elemente filmisch-klassisch. So verwischen die Grenzen, was dem lahmen Plot eine dringend nötige Stütze verleiht.

Denn sobald die Titelfigur verschwindet, entfleucht auch der einzige Akteur aus dem Film, der Gravitas mitbringt. Fortan ist Depardieu nur noch in Rückblenden zu sehen, während ein blutarm agierender Guillaume Canet als Vidocqs Biograf die Hauptrolle übernimmt. Dieser kann die verschachtelt erzählte Kriminalgeschichte aber nicht schultern, zumal diese nach dem energigschen Opening so entschleunigt voran schreitet, dass es zuweilen ermüdet. Nur, wenn Pitof wieder seine wahnwitzige Art ausleben darf, und er Orgien, seltsame Ausstellungen oder übernatürliche Ereignisse inszeniert, nimmt Vidocq erneut Fahrt auf. Verzerrte Aufnahmen, kräftige Farben vor verwaschenem Hintergrund und exzentrisches Produktions- und Kostümdesign stellen daher die rettenden Inseln in einem zähen Plot dar, bevor im großen Finale stylische Action dem Ganzen neues Leben einhaucht.

Somit ist Vidocq für Freunde ungewöhnlich inszenierter Filme mit historischem Setting ein sehenswerter, wenn auch inhaltlich enttäuschender Geheimtipp. Und ein weiterer Baustein im erschreckend hohen Turm, der die Frage stellt: "Wieso sind so viele stilistisch spannende Filme von einem mageren Drehbuch geplagt?"

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