Irgendein Sommertag. Irgendwo in
Deutschland. Zu irgendeiner Uhrzeit spätnachts. Telefongeklingel.
Schlechte Neuigkeiten brechen drein. Darauf kann man keine Tagesform
aufbauen!
"Na, klasse ...", stöhne ich
nach einigen Stunden in einem kurzen Anflug von Gefühlsleben mit
zynischer Gedankenstimme auf. "Beste Voraussetzungen, um in
einen Tag zu starten, der mit einem Pixar-Film über Emotionen endet
..."
Die Stimmen in meinem
Kopf
Der Film, von dem die Rede ist, ist
natürlich Alles steht Kopf, der zu besagtem
Zeitpunkt noch weit von seinem Deutschlandstart entfernt ist. Doch
frühem Lob aus Übersee sei Dank wusste ich, dass mich etwas
Sehenswertes erwartet. Und aufgrund meiner Tätigkeit als
Filmkritiker durfte ich mich schon mit stattlichem Vorlauf über eine
Vorführung freuen. Naja, "freuen" blieb letztlich auf die
Theorie beschränkt, denn ich konnte emotional wenig mit
mir anfangen. Was mich, ohne dass ich
es geahnt habe, in eine ähnliche Position brachte, wie die kleine
Riley aus Pixars 15. abendfüllenden Trickfilm. Nicht, dass auch sie
nachts mit schlechten Nachrichten wachgeklingelt wurde. Aber auch sie wird in den Beginn
eines neuen Lebensabschnitts geschubst. Und reagiert daraufhin nicht
wie von ihr gewohnt ...
Riley ist eine verspielte, stets gut
gelaunte, alberne Elfjährige. In der Schaltzentrale inmitten ihres
Verstands hat dementsprechend Freude (engl. Stimme: Amy Poehler, dt.
Stimme: Nana Spier) das Sagen. Die quirlige Emotion ist unentwegt
darauf bedacht, dass Riley Grund zum Lachen hat. Daher lässt sie nur
selten und für kurze Zeit ihre Kollegen ans Schaltpult. Etwa Wut
(Lewis Black / Hans-Joachim Heist), der es sich zur Aufgabe gemacht
hat, Riley aufschreien zu lassen, wenn ihr Ungerechtigkeit
widerfährt. Angst (Bill Hader / Olaf Schubert) hingegen ist
insbesondere um Rileys Sicherheit bessorgt, während Ekel (Mindy
Kaling / Tanya Kahana) alles ablehnt, was das Mädchen vergiften
könnte. Ob nun aus gesundheitlicher oder sozialer Sicht. Während
sich Freude halbwegs mit diesen drei Emotionen arrangieren kann, ist
ihr Kummer (Phyllis Smith / Philine Peters-Arnolds) ein Rätsel auf
zwei Beinen. Wann immer sie sich in Rileys Befinden einmischt, will
Freude dies schnellstmöglich rückgängig machen. Ein völlig
misslungener Umzug überfrachtet Riley mit derart vielen neuen
Eindrücken, dass in der Schaltzentrale alles völlig aus dem Ruder
läuft. Als sogar persönlichkeitsbildende Erinnerungen von der
misslichen Lage betroffen sind, will Freude Konsequenzen ziehen, die
ihr Können übersteigen. Dies löst eine Kette von Missgeschicken
aus, die Freude und Kummer aus der Schaltzentrale katapultiert und in
gänzlich anderen Winkeln von Rileys Verstand landen lässt.
Daraufhin müssen sich die weiteren Emotionen im Alleingang darum
kümmern, die Elfjährige durch den neuen, noch fremden Alltag zu
manövrieren. So beginnt für die schwer kompatiblen Kolleginnen
Freude und Kummer ein unbeschreibliches Abenteuer in den Windungen
des Bewusstseins. Und wie ergeht es Riley in der Zwischenzeit, so
ganz ohne die Fähigkeit, glücklich oder traurig zu sein ..?
Emotionen stehen Kopf
Es dürfte außer Frage stehen, dass
die neue Regiearbeit von Oben-Regisseur Pete
Docter bei mir offene Türen eingerannt hat: Nach einem mies begonnenen Tag auf der großen Leinwand in kräftigen Farben und
kristallklarem 3D Emotionen in Aktion zu erleben, wie sie nicht nur
sie selbst sind, sondern auch miteinander umzugehen lernen, war, als
sei ein Knoten geplatzt. Ich erlaubte mir, meinen Zustand der
Überraschung zu verlassen und wieder zu lachen. Und, wie es mir als
passioniertem Fan bei den ganz großen Animationsfilmen gelegentlich
passiert, vor Rührung ob der genialen Ideen und ästhetischen Bilder
vor mich hinzuschmelzen. Und natürlich hatten nicht nur die Themen
von Alles steht Kopf solch einen
mitreißenden Effekt auf mich. Sondern auch, wie das Pixar-Storyteam
sie in eine Geschichte packt, die zu gleichen Teilen Abenteuer,
Ensemble-Situationskomödie und fantasievolle Emotionsachterbahn
darstellt. Man darf Freude ob ihres Optimismus bewundern und wegen
ihrer miesen Behandlung von Kummer den Kopf schütteln. Mit Kummer
Mitleid haben, sich aber über ihre planlose Selbsteinschätzung
ärgern. Und es gibt noch so viel mehr zu durchleben ...
Warum berichte ich euch an dieser
Stelle überhaupt davon? Nun, wir alle haben wohl so
eine Situation durchgemacht: Ab einem gewissen Alter können wir alle
wohl davon berichten, dass wir in einer Lage waren, in der wir nicht die
Emotionen durchlaufen haben, die unser Umfeld von uns erwartet. Oder
die wir von uns selbst erwartet haben. Doch das muss nicht schlimm
sein!
Ja, schon auf der Oberfläche berichten
die Pixar-Künstler in Alles steht Kopf von
einer wertvollen Lektion: Ständig Kummer zu unterdrücken, nur um
Fröhlichkeit vorzutäuschen, ist keine ergiebige Lebenseinstellung.
Das ist eine Erkenntnis, die in unserer Gesellschaft, die jeden
Anflug von Trübsinn sofort verurteilt, von großem Gewicht. Man täte
Pete Docter und seinem Team aber Unrecht, den Film darauf zu
beschränken. Allgemein gesprochen handelt er nämlich davon, dass es
uns nur gut tun kann, wenn wir lernen, ehrlich mit
unseren Emotionen umzugehen. Dazu zählt natürlich, zu trauern, wenn
sich der Kummer meldet. Aber genauso wenig ist es gesund, sich
einzureden, nicht fröhlich sein zu dürfen, wenn man einsieht, mit
einer Entwicklung unerwartet zufrieden zu sein. Womit sich kurioserweise
die Brücke zurück zu Pixars vorhergegangene Produktion Die
Monster Uni schlagen lässt, die aussagt: Manchmal kommt es
anders als man denkt, doch auch Umwege können einen erfreuen.
Und, was ich ebenfalls bezeugen kann:
Alles steht Kopf funktioniert im
emotionalen Ausnahmezustand genauso gut wie im emotionalen Alltag.
Als ich den Film zum zweiten Mal sehen durfte, dieses Mal in der
makellosen Synchronfassung, war "mein Tagesthema" der
ersten Vorführung längst abgehakt, geklärt, verarbeitet und meine
generelle Tagesform so, wie sie meistens ist. Aber aufgemerkt: Selbst
ohne den entsprechenden "Das ist gerade alles so
relevant!"-Bonus brillierte der Geniestreich so sehr wie noch
bei der Erstsichtung.
Was das Thema von Alles steht
Kopf so besonders macht, ist das Paradoxe an seiner
Thematik: Einerseits ist es der Pixar-Film, der unserem Alltag am
nächsten ist – denn es geht um menschliche Gefühle, also um
etwas, das uns tagtäglich, im Grunde genommen sogar in jeder
einzelnen Minute begegnet. Andererseits ist das grundlegende Setting
dieser Produktion ferner von unserer Realität, als alles, was Pixar
bislang in die Lichtspielhäuser gebracht hat. Die Toy
Story-Filme spielen in Kinderzimmern, Spielwarengeschäften
und Kindertagesstätten. Das große Krabbeln auf einer Wiese, die Monster-Filme sowie Die
Unglaublichen in abgewandelten Formen unserer Großstädte,
Findet Nemo im Meer, Ratatouille
in Paris, die Cars-Filme in den staubigen Staaten
der USA und in weiteren Großstadt-Abwandlungen, Oben
im Dschungel, Merida in den Highlands. Und mit
gewaltigen Mülldeponien und einem gigantischen Raumschiff, das wie
eine Luxuskreuzfahrt verkauft wird, hat selbst WALL•E
Referenzpunkte aus der realen Welt. Das Innere des Verstands hingegen
ist kein Ort, den wir besuchen können oder von Fotografien kennen.
Das Gros der Schauplätze und Figuren von Alles steht
Kopf musste daher von Grund auf durch die Produktions- und
Figurengestalter der Traumfabrik aus Emeryville erdacht werden.
Abgesehen davon, dass letztlich sehr
wohl intensive wissenschaftliche Recherchearbeit vonnöten war. Denn
wir alle haben Gedanken, Träume und Gefühle, so dass wir als
Betrachter des Films auch ohne Psychologie-Abschluss wenigstens
unterbewusst mitbekommen würden, wenn Alles steht Kopf
die Funktionsweise unseres Innenlebens zu frei interpretiert.
Plausibilität und Beobachtungen, die auf Erfahrung und
wissenschaftlich fundierte Thesen stützen, sind daher auch in Pixars
15. Langfilm unerlässlich. Eben dieses komplexe Spannungsfeld aus
Fakt und künstlerischer Freiheit schafft enormes Potential für ein
faszinierendes Animationserlebnis – und Docter sowie sein
Ko-Regisseur Ronnie Del Carmen schöpfen wirklich aus dem Vollen, um
diesem Potential gerecht zu werden.
So werden in der Psychologie
verschiedene Modelle vertreten, wie viele Emotionen wir Menschen
empfinden können, wobei der auf Emotionalität spezialisierte
Psychologe Paul Ekman eine grundlegende Sechsergruppe ausmacht: Die
fünf, auf die sich das Pixar-Team begrenzt hat, sowie Überraschung.
Obwohl Pixar Ekman zu Rate gezogen hat, wurde aus Gründen der
Erzählökonomie diese Emotion gestrichen – es war schlichte eine
Figur zu viel, zumal in der Handlungsentwicklung jede einzelne der
fünf restlichen Emotionen die Position von Überraschung einnehmen
kann. Von einem weiteren Berater lernten die Pixar-Macher drei der
wichtigsten Lektionen zum Thema Gefühlsleben, die ihren Film in eine
neue Richtung gelenkt haben: Kummer hilft, Bindungen zu festigen.
Erinnerungen sind emotional aufgeladen und können sich entsprechend
ändern. Und: Jede Emotion ist gleichberechtigt. Es gibt keine
„schlechten“ Gefühle, sondern nur schlechtes Ausleben seiner
Emotionen.
Dennoch vereinfachten sie gewisse
Aspekte, um sie im Dienste der Story leichter begreifbar zu machen.
So wurden Docter und seinen Kollegen darauf geeicht, Erinnerungen wie
Kopien zu betrachten: Wann immer wir uns erinnern, wird eine neue
Kopie gemacht und die vorläufige Version zerstört. Dies ließe sich
zwar filmisch darstellen, hat aber weder die Entwicklung des Konzepts
vorangetragen, noch räsoniert es mit der gesellschaftlich
empfundenen „Wahrheit“, Erinnerungen seien wertvolle,
zerbrechliche Dinge. So nahmen sie letztlich die Gestalt von
Glaskugeln an – wunderbar unterstrichen durch das Sounddesign von
Ren Klyce, der einem bei jedem Sturz durch scheppernde Geräusche
eine Angst einjagt, sie könnten nun kaputt gehen. Die Gefahr des
Verfälschens oder Verblassen der Erinnerungen wird inhaltlich
dennoch angerissen und auch visuell eindrucksvoll vermittelt, so dass
Alles steht Kopf auch in dieser Hinsicht nah genug
an den Fakten ist, um die bezaubernde Fiktion glaubwürdig zu
verankern.
Überhaupt brilliert das
Produktionsdesign von Ralph Eggleston mit schier endlosen Momenten,
die man perfekt beschreiben könnte als: „Darauf wäre ich nie
gekommen, aber: Na klar, natürlich würde es so aussehen!“ Wie
etwa die Kommandozentrale, in der die Emotionen das Geschehen
beobachten und durch Berührung des Pults Riley eine emotionale
Einfärbung geben können – oder durch weitere Schalter, Knüppel
und Mechanismen auch Tagträume oder Erinnerungen hervorrufen. Oder
das Langzeitgedächtnis inklusive Persönlichkeitsinseln, die durch
sogenannte, starke Kernerinnerungen betrieben werden: Mary Blair
trifft Apple-Chic, also kindlich-fantasievoll trifft intuitive
Funktionalität. Das sieht nicht nur spitze aus, sondern ist auch
einleuchtend – und wird mit zahllosen kleinen, cleveren
Überraschungen zum Leben erweckt. Hinzu kommt, dass Lichtsetzung und
Kameraarbeit innerhalb von Rileys Verstand an Filme der Goldenen Ära
Hollywoods angelehnt sind, während entsättigte Farben und eine
freier schwebende Kamera die Außenwelt-Sequenzen subtil
„alltäglicher“ aussehen lassen. Einfach genial!
Emotionen zum Liebhaben
Die Figuren sind ungeheuerlich
sympathisch geraten – und gerade Freude und Kummer haben aber zudem
einige Ecken und Kanten, die für Reibung und somit zusätzliche
Spannung sorgen. Dass Kummer immerzu neugierig/ahnungslos
Erinnerungen und Schalter anfasst, lässt das Publikum zunächst auf
Freudes Seite stehen – bis klar wird, wie sehr Kummer der
Möglichkeit beraubt wird, ihrer Aufgabe nachzugehen. Auf der anderen
Seite ist Freudes Optimismus beneidenswert und ihre Intention, Riley
stets glücklich zu machen rein oberflächlich betrachtet die beste
Absicht. Allerdings ist ihr vehementes Unterdrücken Freudes wenig
vorbildlich. So ist das Geschehen in Rileys Kopf viel
abwechslungsreicher und mitnehmender, als reagierten die
personifizierten Emotionen unentwegt einseitig. Auch Wut, Ekel und
Angst weichen gelegentlich von ihrer Standardnote ab und zeigen sich
stolz, kooperativ oder amüsiert, was zumeist für hervorragend
sitzende Dialog- und Situationskomik genutzt wird. Diese
verwirklichen die Animatoren, ganz Pixar-unytpisch, mit sehr
cartoonhaften Bewegungen: Die Emotionen, vor allem Angst, dehnen und
biegen sich zu einem äußerst überhöhten Maß und wecken in
Slapstickmomenten somit Erinnerungen an den wild-frenetischen Spaß
von Chuck Jones oder Tex Avery, während der charaktergesteuerte
Humor an die graziöse Linienführung von Milt Kahl und plausibel-karikaturenhafte Dynamik des Goofy-Meisters John Sibley erinnern.
Dahingehend passt es auch, dass die
emotionalen Stimmen in unseren Köpfen für Pixar keine simplen
Menschlein sind, sondern originelle Fantasiegeschöpfe, die sich
dennoch „echt“ anfühlen. Die Charakterdesigner Albert Lozano und
Chris Sasaki haben mit diesen Gestalten den Nagel auf den Kopf
getroffen, und vermengen ikonografische Vorstellungen dieser Gefühle
– etwa das Hitzige an Wut – mit unverbrauchten Details, so dass
man sagen könnte: Sie erinnern uns an Etwas, das wir noch nie
gesehen haben. Etwas betörend schönes, sollte mnn hinzufügen: Die
herumschwebenden Partikel, insbesondere um Freude herum, brechen das
übliche Design der Traumfabrik Pixar auf, lassen es so aussehen, als
hätten Kreidemalereien das Laufen gelernt. Bloß, dass diesen
Malereien ein inneres Glühen verliehen wurde, das so nur mit der
Computertechnologie machbar ist. Rileys imaginärer Freund Bing-Bong
derweil ist ein bunter Zuckerwatte-Tiermix, der wie ein arbeitsloser
Stummfilmdarsteller durch ihr Bewusstsein schlendert – und sich vom
Kuriosum zur Comedy-Goldmine zum heimlichen Helden des Films
aufschwingt.
Zu guter Letzt werden die
abenteuerlichen, geistreichen und lustigen sowie zuweilen
aufwühlenden Erlebnisse dieser unvergesslichen Figuren von ebenso
unvergesslichen Melodien begleitet: Oscar-Preisträger Michael
Giacchino vermengt seine typische Percussionarbeit mit jazzigen
Elementen, einem simplen, wiederkehrenden und sich sanft um einen
schmiegenden Pianostück und spielerischen, spaßigen Elementen. Das
Ergebnis ist ein wunderbarer Score, der selbst den zu Oben
alt aussehen lässt!
Fazit: Albert Lozano
und Chris Sasaki. Ganz gleich, ob Alles steht Kopf
einen wachrüttelt, einfach nur bespaßt oder zum Nachdenken bringt:
Pete Docter ist es gelungen, der großen Ruhmeshalle an
Pixar-Produktionen einen weiteren modernen Klassiker hinzuzufügen!