Was ist Jazz?
Ist das nicht diese relaxte, erdige Musik mit langsam gleitenden
Melodien, die bei Starbucks und Co. im Hintergrund läuft? Verflucht
noch eins, das ist doch kein Jazz, ihr koffeinsüchtigen
Schmalspurhipster! Ist es diese freiliebende, lässig-intellektuelle
Musik, die entsteht, wenn gut aufgelegte Künstler in einer bläulich
beleuchteten Untergrund-Bar spontan vor sich hinimprovisieren? Nein,
zur Hölle, was für Wischiwaschi-Weicheiträumereien wurden euch
denn in die löchrigen Hirnzellen gepflanzt?! Jazz, das ist
Perfektion! Minutiös abgestimmte, höchste Konzentration fordernde
Musik, bei der die kleinsten Fehler zerstörerische Auswirkungen
haben! Wer hier aus dem Takt kommt, zu hoch oder zu tief spielt,
begeht ein Sakrileg an makellosen, anspruchsvollen Kompositionen und
gehört daher gesteinigt!
Von dieser Einstellung ist zumindest
Bandleader Terence Fletcher (J. K. Simmons) überzeugt, der an der
prestigeträchtigen Musikhochschule Shaffer Conservatory of Music
eine erlesene Jazzband betreut. Obwohl er aufgrund seiner gestrengen
Haltung und seinem unnachgiebigen Perfektionsstreben ebenso berühmt
wie berüchtigt ist, sehnt sich der 19-jährige Schlagzeuger Andrew
(Miles Teller) sehnlichst danach, in dessen Auswahl aufgenommen zu
werden. Denn Andrew hat es sich zum erklärten Lebensziel gemacht,
einer der ganz Großen zu werden, jemand, der sich mit dem
stilbildenden Jo Jones oder dem technisch versierten Buddy Rich
messen lassen kann. Und nur der erfahrene, gebieterische Fletcher, so
glaubt Andrew, kann alles aus seinem Talent rausholen. Jedoch lässt
sich Fletcher nicht von Ambition und Durchhaltevermögen allein
beeindrucken – Andrew muss weit über seine Grenzen hinausgehen, um
das zu leisten, was Fletcher hören will …
Regisseur
und Autor Damien Chazelle (Verfasser des musikalischen
Kammerspielthrillers Grand Piano – Symphonie der
Angst) beginnt Whiplash als etwas
schroffere Variation einer Geschichte über einen unkonventionellen,
inspirierenden Lehrer. Chazelle, der selbst versuchte
Jazz-Schlagzeuger zu werden und in den frühen Parts dieses
Psychodramas aus eigenen Erfahrungen zehrt, zeigt Fletcher anfangs
als berechtigte Autoritätsfigur. Er ist eine Koryphäe seines Fachs
und beäugt Schüler zwar übermäßig streng, kitzelt somit jedoch
neue Bestleistungen aus den vielversprechendsten Talenten seiner
Musikuniversität heraus. So auch aus Andrew, einem abseits seines
Drumsets schüchternen jungen Erwachsenen, der vor allem für seinen
Traum vom musikalischen Durchbruch lebt.
Für immer
Single?-Nebendarsteller Miles Teller spielt Andrew in den
alltäglichen Szenen mit sympathischer Zurückhaltung. Er vermag es
gleichwohl, dank wandlungsfähigem Gestus subtil zu skizzieren, wie
Andrew durch seine Fortschritte als Schlagzeuger ein neues
Selbstbewusstsein entwickelt – etwa, indem er gegenüber der
Kinoangestellten Nicole (erfrischend: Melissa Benoist) auftaut. Lange
hält sich dieses nach einem herausfordernden, packenden Stück von
Hank Levy benannte Drummer-Drama allerdings nicht in Gefilden auf,
die an andere Schüler-Mentor-Dynamiken erinnern. Wenn Andrew den
launischen Fletcher erst richtig kennenlernt, verwandelt sich
Whiplash in einen treibenden, hitzigen
Militärstreifen im Musikfilmgewand.
J. K. Simmons, der sich in Sam Raimis
Spider-Man-Filmen bereits als Zeitungsboss J.
Jonah Jameson einen Platz im Pantheon unvergesslicher, cineastischer
Choleriker erbrüllte, verschwindet völlig in seiner Rolle. Als
aggressiver, nahezu unmöglich zufriedenzustellender Dirigent gibt er
über weite Strecken des Films seine Menschlichkeit komplett auf und
wird zu einem Raubtier, das auf den nächsten Angriff lauert. Und
sobald Fletcher etwas findet, das ihm missfällt, packt er zu. Mit
psychischen Tricks, impulsiver Körperlichkeit, geballter Lautstärke
und einem Vokabular, das dem grantigsten Drill Seargent die
Schamesröte ins Gesicht treiben würde, zerfleischt er seine Schüler
als seien sie kleine Appetithappen für zwischendurch.
Aber Simmons lässt es nicht allein auf
der sadistischen Ader Fletchers beruhen – mit überzeugendster
Zuckrigkeit verleiht er ihm in seltenen Augenblicken den Eindruck
eines idealistischen Künstlers, dem es nur darum geht, denkwürdige
Musikerlebnisse zu erschaffen. Schon vom Kinosessel aus fällt es
daher schwer, bei aller begründeten Abscheu vor Fletchers Methoden
nicht dennoch (zumindest phasenweise) seinem Bann zu verfallen –
und Andrews Aufopferungsbereitschaft ist bei aller Tragik leider nur
zu plausibel.
Dies liegt auch im schneidenden
Drehbuch begründet, dessen Dialoge durchweg sitzen und bei jedem,
der sich jemals schöpferisch betätigte, einen Nerv treffen dürften
– so etwa dann, wenn sich Andrew gegenüber seiner Familie über
die Geringschätzung seines Tuns beklagt. Ein echter Terence
Fletcher könnte sich bei Whiplash trotzdem nicht
völlig mit Schimpftiraden zurückhalten, denn wie bei manchen
Sinfonien, die wohl lieber Rhapsodien wären, kommt es hier im
vorletzten Satz (respektive Akt) zu minimalen Problemen mit der
Geschwindigkeit. Wer nicht über solch ein unangebracht tonangebendes
Naturell wie Fletcher verfügt, wird dies angesichts der in der
Inszenierung spürbaren Hingabe aber leicht vergeben. Erst recht, da
diese ebenso eindrucksvolle wie zweischneidige Ode an all jene, die
noch einer wahren Leidenschaft nachgehen, gerade dann brilliert, wenn
sie sich ihren prekärsten Momenten nähert.
Und so treibt Whiplash
mit nur wenigen Atempausen voran: Fesselnd-qualvolle
Unterrichtsstunden, ein immer manischer werdender Andrew, großartiger
Big-Band-Jazz, der die Sinne benebelt und die Beine zum Mitwippen
animiert – und urplötzlich befindet sich dieser Thriller von einem
Musikfilm mitten in einem beinahe unverschämt stürmischen Finale.
So, als wäre es eine furiose Abschlussdarbietung einer Musiklegende,
übertrumpft dieses mit eiserner Verbissenheit alles zuvor
dargebotene: Der rhythmische Schnitt und die höchst effizient nur das
Nötigste in den Fokus nehmende Kamera lassen den Puls in die Höhe
schnellen, während sich Teller und Simmons ein mimisches Duell
liefern, das lange nachhallt. Zum Schluss bleibt dem Publikum ein
gestaffelter Schlussakkord, der ihn lange verfolgen wird: Ein
jazziger Ohrwurm. Ein handwerklich perfekt orchestriertes Ende. Und
die brennende, inhaltliche Frage – wie viel Leid darf mir meine
Passion wert sein?
Fazit: Wenn Musik
zum Krieg wird: Whiplash ist ein Donnerschlag von
einem Jazzfilm, mit wuchtigen Darbietungen und nachhallender Story.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen