Die Produktionsgeschichte des
Oscar-gekrönten Dramas Still Alice – Mein Leben ohne
Gestern hat selber das Zeug zu einem Film, der ganz nach
einem Academy-Award-Anwärter klingt: Im Dezember 2011 wurde dem
Regie-Duo Wash Westmoreland & Richard Glatzer angeboten, den
Roman Still Alice zu adaptieren. Das Thema traf
bei den Lebensgefährten einen Nerv – einen all zu schmerzlichen,
genauer gesagt. Die Geschichte einer geachteten, eloquenten
Linguistikprofessorin, die in der Blüte ihres Lebens mit der
Diagnose einer besonderen Form von Alzheimer konfrontiert wird,
erinnerte sie arg an ihre eigenen Erfahrungen. Nur wenige Monate
zuvor war Richard Glatzer aufgrund plötzlich aufkommender
Artikulationsschwierigkeiten bei einem Neurologen, wo er erfuhr, dass
er an der Nervenkrankheit ALS leidet.
Die Art und Weise, wie der Roman Alices
Ohnmächtigkeit dem Schicksal gegenüber behandelt und wie er das
Gefühl einfängt, mitten im Leben durch eine rasch voranschreitende
Erkrankung aus der Bahhn geworfen zu werden, begeisterte die
Regisseure. Aber sie fürchteten, eine Verfilmung des Buchs könnte
zu viel für sie sein. Von der Persönlichkeit der Titelfigur
inspiriert, sagten sie zu, dem raschen Voranschreiten von Glatzers
Krankheitsbild zum Trotz. Kurz vor Beginn der
Produktionsvorbereitungen musste er schlicht das Autofahren aufgeben,
am Set schließlich konnte er kaum noch Arme und Hände bewegen und
sich nur noch mittels eine Sprachanwendung verständigen – wobei er
nur in bestimmten Sitzpositionen fähig war, mit einem einzelnen
Finger sein Tablet zu bedienen.
Obwohl in Still Alice
die von Julianne Moore brillant dargebotene Protagonistin nicht etwa
die Kontrolle über ihren Körper verliert, sondern nach und nach
Opfer eines abstumpfenden Geistes wird, haben beide Schicksale
durchaus Parallelen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Glatzer
und Westmoreland ein einfühlsames, authentisch wirkendes Werk
erschufen. Schließlich erfuhr einer von ihnen den Identitätsverlust
und die nachlassende Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren, am
eigenen Leib, während die andere Hälfte dieses Duos nur zu gut
weiß, wie sich jemand fühlt, der das Erblassen eines geliebten
Menschen mit ansehen muss.
Vielleicht vermögen es Westmoreland &
Glatzer es auch gerade daher, die Geschichte so umzusetzen, dass sie
gleichermaßen sensibel erzählt wird, wie sie schonungslos ehrlich
daherkommt. Weder suhlt sich Still Alice – Mein Leben ohne
Gestern in erschreckend-desolaten Momenten, die
Unbequemlichkeit mit effektivem Filmemachen verwechseln, noch
beschönigt diese Romanadaption die Krankheit derart wie Til
Schweiger in seiner seichten Tragikomödie Honig im
Kopf. Ebenso wenig verlassen sich die Regisseure auf eine
große, grelle audiovisuelle Trickkiste, um das Leiden der eingangs
so beneidenswerten, begabten Dr. Alice Howland nachfühlbar zu
machen. Allein rare, hektische Handkamerafahrten in Mitten dieser
sonst eher statisch gefilmten Produktion und wiederholte, längere
Auf- und Abblenden, durch die ein Großteil des Bilds verschwommene
Formen annimmt, dienen gelegentlich als ästhetischer Kniff.
Diese versetzen das Publikum
tatsächlich ohne weitere Umstände in den desorientierten
Geisteszustand der Protagonistin, allerdings ist es unbestritten
Julianne Moores Performance, der sämtliche Aufmerksamkeit gilt. Zu
keinem Zeitpunkt erlaubt es sich Still Alice,
durch inszenatorische Mittel von dieser brillanten Darbietung
abzulenken, die gänzlich auf Theatralik verzichtet. Dennoch hat
diese behutsame, mehrschichtige Skizzierung eines erodierenden
Verstands eine ungeheure Gewalt und hallt unfassbar lange nach. Dies
liegt auch in der immensen Bandbreite begründet, die Moore scheinbar
mühelos bedient. Als starke, moderne Frau, die so lange wie ihr
möglich an allem festklammert, was ihr Autonomie erlaubt, geht sie
unter die Haut; wenn sie trotz großer Willenskraft die ersten
Rückschläge in diesem nicht zu gewinnenden Kampf hinnehmen muss,
ist sie kaum wiederzuerkennen. Und wann immer in späteren
Filmpassagen ihr altes Ich aufblitzt, hebt Moore mittels
unaufdringlich-effizienter Mimik für wenige Augenblicke
dankbarerweise den Tonfall dieser Gänsehaut erzeugenden Story.
Ja, es ist schmerzvoll, zunächst mit
anzusehen, wie Alice ihre Verzweiflung zu verbergen versucht, weil
sie erkennt, was mit ihr geschieht, und dann nach und nach zu
bemerken, dass sie diese Fähigkeit zur Selbstreflexion verloren hat.
Dennoch ist Still Alice keine deprimierende
Tragödie – sie beinhaltet auch behutsame Hoffnungsschimmer, die
aber anders als in Honig im Kopf keine
Ammenmärchen darstellen. Gehen bei Schweiger wegen einer Vielzahl
von erfreulichen Krankheitsaspekten die Schattenseiten gen Schluss
fast unter, brechen hier vereinzelte Lichtblicke das grau-graue Bild
auf, ohne irgendwas zu verharmlosen. So zeigt Still
Alice, das nach Schicksalsschlägen Rückhalt zuweilen von
unerwarteter Seite kommt: Kristen Stewart ist zu Beginn Alices
„missratenes“ Kind – eine Einzelgängerin, die ganz anders
tickt als ihre restliche Familie. Ihre Figur taut aber kontinuierlich
auf, was die Twilight-Mimin in ihrer
darstellerisch bislang womöglich anspruchsvollsten
Leinwanddarbietung schrittweise, empfindsam und mit leisen
Zwischenklängen skizziert.
Dieser Film der Gegenwart, in dem die
modernen Kommunikationstechniken für Alice hauptsächlich
Hilfsmittel sind, aber vereinzelt auch eine Gefahrenquelle
darstellen, hat jedoch auch manch kleinere Schwächen. So haben die
Ensemblemitglieder neben Moore und Stewart zu wenig zu tun und eines
der Mutter-Tochter-Gespräche fasst das Geschehen auffällig konkret
zusammen – die sonst so reale Sprache des Films wird da kurzzeitig
zu gewollter Kino-Sprache. Bei all den Stärken von Still
Alice – Mein Leben ohne Gestern sind diese Negativpunkte
aber leicht zu vernachlässigen. So gefühlvoll, so echt, so
beeindruckend wurde Alzheimer im fiktionalen Kino bislang nicht geschildert!
Fazit: Gefühlvoll,
schmerzlich, brillant: Julianne Moore begeistert in Still
Alice – Mein Leben ohne Gestern als Frau, die in der
Blüte ihres Lebens an Alzheimer erkrankt.
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