Sonntag, 19. Juli 2015

Into the Woods


Klassische Märchen, neu erfunden – was wie ein aktueller Hollywood-Trend erscheint, hat lange Tradition. Noch bevor es solche Filme wie Snow White and the Huntsman oder Serien wie Once Upon a Time zu sehen gab, eroberte das Bühnenstück Into the Woods den Broadway. 1987 uraufgeführt, erarbeitete sich das mit drei Tony Awards und fünf Drama Desk Awards ausgezeichnete Musical einen festen Platz in der US-Theaterkultur. Es lässt sich daher behaupten, dass Komponist Stephen Sondheim und Autor James Lapine das (post-)moderne Konzept, altbekannte Märchen aus einem reifen Blickwinkel zu betrachten, erst gesellschaftsfähig gemacht haben. Doch obwohl dieser Ansatz seither unzählige Male kopiert wurde, genauso wie die Idee, mehrere Märchen auf originelle Weise zu verbinden, ist Sondheims und Lapines Klassiker ungebrochen ein echtes Unikat. Exakt dieses lässt sich über 25 Jahre nach der Theaterpremiere endlich auch als Kinofilm erleben.

Die Leinwandadaption verändert zwar manche Details, im Großen und Ganzen bleibt der Disney-Film seiner Vorlage aber inhaltlich treu: Es war einmal in einem weit entfernten Königreich, da versuchte ein gutherziges Bäckerpaar (James Corden und Emily Blunt) vergeblich, eine Familie zu gründen. Wie die sich liebenden Eheleute erfahren, kann die Bäckerin deshalb kein Kind zur Welt bringen, weil auf ihrem Haus ein Fluch liegt. Die dafür verantwortliche Hexe (Meryl Streep) bietet an, diesen rückgängig zu machen, wenn das Paar ihr im Gegenzug innerhalb von drei Tagen vier besondere Dinge beschafft: Eine Kuh so weiß wie Milch, Haare so gelb wie Mais, einen Umhang so rot wie Blut und einen Schuh aus reinem Gold. Selbstredend zeigt sich die Hexe nicht aus purem Mitgefühl so kooperativ: Mittels dieser Gegenstände könnte die Hexe in der Nacht des blauen Mondes einen Zauber umkehren, der auf ihr selber lastet.

Die Suche nach den begehrten Objekten stellt sich jedoch als äußerst knifflig heraus – und dies, obwohl sie alle zum Greifen nah sind! Die Gegenstände befinden sich nämlich im Besitz von Rotkäppchen (Lilla Crawford), der in einem Turm gefangenen, holden Rapunzel (MacKenzie Mauzy), dem stürmischen Buben Hans (Daniel Huttlestone) sowie der lieblichen Cinderella (Anna Kendrick). Zeit, sich um die Sorgen der Bäckersleute zu kümmern, hat jedoch keiner von ihnen. So wird Rotkäppchen von einem lüsternen Wolf (Johnny Depp) verfolgt, während sich Cinderella kein klares Bild von ihrem angebeteten Prinzen (Chris Pine) machen kann und Rapunzel in einem Herzensdilemma steckt. Und dann wären da noch Hans' Eskapaden, die ihn sogar bis in die Welt der Riesen führen …


Die Walt Disney Studios sind ebenso sehr die ideale Produktionsstätte für eine Into the Woods-Verfilmung, wie sie die wohl ungewöhnlichste Heimat für dieses Projekt darstellen. Einerseits weißt der Disney-Konzern mehr als jeder andere Unterhaltungsgigant eine lange, stolze Riege an Märchen-Adaptionen auf: Viele Jahrzehnte, bevor Lapine und Sondheim die Geschichten nach ihrem Willen ummünzten, wurde ihr Bild nachhaltig durch Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney modelliert. Andererseits verschreiben sich Disney-Märchenklassiker üblicherweise einer klaren Trennung zwischen Gut und Böse – was in der Vision der intellektuellen Musicalmacher Sondheim & Lapine nur in äußerst beschränktem Maße der Fall ist. Insofern überrascht es kaum, dass die Initialzündung zu dieser Leinwandproduktion nicht aus den Disney-Studios stammt, sondern das Projekt erst an sie herangetragen werden musste.

Die Filmversion von Into the Woods ist ein Passionsprojekt des Regisseurs Rob Marshall, der sich nach dem Publikums- und Kritikererfolg von Chicago mit Sondheim zusammensetzte und ihm gegenüber beteuerte, förmlich danach zu brennen, eines seiner Stücke ins Kino zu bringen. Sondheim selbst äußerte den Wunsch, dass sich Marshall an einer Adaption seines Märchenmusicals versucht – eine Bitte, die der Die Geisha-Regisseur nicht ausschlagen konnte. Dennoch zogen mehrere Jahre ins Land, bis Marshall einen Ansatz fand, wie er die Vorlage neu aufziehen und für ein neues Publikum sowie ein anderes Medium filtern könnte. Erst 2011 gab ihm eine Ansprache Obamas den entscheidenden Denkanstoß – in seiner Rede zum 10. Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center verwendete der US-Präsident eine Formulierung, die auch zu den Schlüsselsätzen des Sondheim-Bühnenstücks zählt. Daraufhin entschloss sich Marshall, mit seiner Film-Neuinterpretation von Into the Woods ein Märchen für die Generation nach 9/11 zu erschaffen. Wohlgemerkt nicht in dem Sinne, dass es als dumpfe Metapher auf den US-Krieg gegen den Terror dienen sollte, sondern als emotionale Reaktion.

Diesem außergewöhnlichen Ziel wird der unterschätzte Regisseur und Choreograph vollends gerecht: Durch Marshalls Inszenierung sowie die von Lapine und Sondheim betreute inhaltliche Feinjustierung der Original-Librettos positioniert sich die 50 Millionen Dollar schwere Produktion als vortreffliche Disney-Märchenerzählung für unsere Gegenwart. Die heile, gutgläubige Märchenwelt verliert hier ihre Unschuld und in den etwas mehr als zwei Stunden Laufzeit wird Naivität stets bestraft. Gleichwohl ist Into the Woods keine jener modernen Märchen-Umdeutungen, die ihr Herz und ihren Menschenglauben verloren haben – trotz harscher Zwischentöne vermittelt dieses komplexe Kinoerlebnis eine aufmunternde Botschaft: Selbst in Stunden großer Not ist niemand völlig allein, und wenn die Gesellschaft etwas zusammenrücken würde, könnten wir auch alle besser aufeinander acht geben … Der zeitlose Disney-Touch ist also auch in diesem unkonventionellen Film aufzufinden, wenngleich etwas zurückhaltender, mit mehr Gegenargumenten geschmückt als sonst.


Dies dürfte wohl auch an Rob Marshalls Gespür für Storytelling liegen, schließlich inszenierte er mit Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten bereits ein aufwändiges Abenteuer, das zwar längst nicht allen Disney-Traditionen treu untergeben ist, aber auch nicht gänzlich gegen sie Sturm läuft. Wie in Jack Sparrows viertem Beutezug vermengt der Emmy-Preisträger in Into the Woods munter diverse Tonfälle. Statt eines märchenhaft angehauchten Fantasy-Action-Abenteuers mit selbstironischen Zügen präsentiert Marshall nunmehr einen soghaften Streifzug durch realistische, comichafte und dramatisch-raue Neudeutungen berühmter Märchenpassagen, begleitet von süffisantem, selbstironischem sowie zynischem Witz. Seine Vision, Into the Woods als Post-9/11-Märchen umzudeuten konsequent verfolgend, drosselt Marshall die Schlagzahl an Gags der Musicalvorlage, opfert vor allem groteske oder verquere Lacher. Im Zuge dessen lässt er zudem einige der gehässigen, nebensächlichen Schicksalsschläge des Originals aus, was zwar disneyhafter ist, jedoch auch durch das Fehlen einer knallig-schrägen Pointe die zweite Filmhälfte noch melancholischer gestaltet. So wird Marshalls und Disneys Into the Woods insgesamt zu einer nachdenklich-bittersüßen Angelegenheit, die in einem reizvollen Gegensatz zur himmelhochjauchzenden, zu Tode betrübten Vorlage steht.


Sobald der von Kameramann Dion Beebe (Chicago, Die Geisha) in malerisch-schattigen Bildern eingefangene Film dennoch seine humorvolle, exzentrische Seite zeigt, dann geschieht dies umso radikaler: Wenn Chris Pine als selbstgefälliger Prinz in schimmerndem Abendlicht mit großen Boyband-Gesten davon singt, welche Qualen er aufgrund seines Liebeslebens durchleidet, bleibt kein Auge trocken – es sei denn, man wird durch die sich über Metaebene vermittelte, passionierte Attacke auf Märchenprinzen aus dem Sog der Story gerissen. Selbiges gilt für Johnny Depps Gastspiel als pädophiler Wolf, der in einem Aufzug durch die Wälder schleicht, durch den Erinnerungen an Tex-Avery-Cartoons und 70er-Jahre-Klischee-Zuhälter wach werden. Wer sich von dem kreativen, hintersinnigen Wahnsinn dieses Films mitreißen lässt, wird es schwer haben, aufgrund solcher Einfälle sein breites, glückseliges Grinsen in Zaum zu halten. Dies bedeutet aber zudem, dass Into the Woods wahrlich kein Kinostoff für jedermann ist – Toleranz für kalkulierte, verschlagene Dissonanzen auf atmosphärischer und ästhetischer Ebene ist hier Voraussetzung.

Besagter Grundsatz gilt, bei Sondheim eigentlich selbstredend, auch für die Musik. Der Sweeney Todd-Komponist steht für vielschichtige Kompositionen, treibende Akzentverschiebungen, abgehackte Melodien und sich allmählich entfaltende Motive – also für einen Klang fernab des Musical-Mainstreams. Für Sondheim-Jungfrauen könnte Into the Woods deshalb anfangs einem Kulturschock gleichen – wer aber offen für diese Erfahrung ist oder eh schon Sondheim-Erfahrung hat, wird mit einem hypnotischen, den Verstand herausfordernden, tiefe Gefühle weckenden Erlebnis belohnt.

Erfreulicherweise stellt sich Marshall in den Dienst der gewaltigen, komplexen Lieder: Setzte er sein vorhergegangenes Filmmusical Nine wie ein fiebriges, rasantes Arthaus-Musikvideo um, drosseln er und Cutter Wyatt Smith das Tempo ihrer nun Bildsprache ungemein. Zwar legen sie im ausführlichen Prolog mittels einer fesselnden Parallelmontage eine zügige Geschwindigkeit zu Tage, danach ist Into the Woods aber längst nicht so kinetisch wie von Marshall gewohnt. Die Kameraarbeit unterstützt dies; aufwändige Schwenks erfolgen nur in raren Momenten, in denen sie einen hohen Mehrwert haben und nicht von den schauspielerischen Leistungen ablenkt.


Die darstellerische Glanzleistung in Into the Woods stammt von der zurecht für ihre berauschende Darbietung für den Academy Award vorgeschlagene Meryl Streep – mit manischer Passion und Intensität wirbelt sie durch die blendenden Kulissen, während sie scheinbar mühelos für Abscheu, Mitleid, Witz und Tragik sorgt. Aber auch das restliche Ensemble vermag es, sich nicht von den extravaganten Kostümen verschlucken zu lassen: Emily Blunt und James Corden bestechen mit trockenem Witz und glaubwürdiger Zuneigung, Anna Kendrick indes legt als gewitzte sowie wankelmütige Cinderella die Messlatte für ihre disneyinternen Konkurrenz Lily James hoch an. Theaterpuristen derweil werden womöglich klagen, dass Rotkäppchen und Hans nicht jugendlich, sondern wie in den Märchenvorlagen im Kindesalter sind. Jedoch ist Daniel Huttlestone dermaßen voller Energie und Lilla Crawford auf höchst amüsante Weise kess, dass man sich nur schwer andere Leinwandbesetzungen in diesen Rollen vorstellen kann.

Die vielleicht gravierendste Änderung gegenüber der Bühnenversion ist eh, dass der Erzähler nicht weiter eine eigenständige, über den Dingen schwebende Figur ist. Aber auch diese Differenz zwischen Bühne und Film hat ihren Sinn und Zweck – zumal sie unterstreicht, dass Märchen seit jeher weitererzählt und umgedichtet wurden. Es ist eine Gepflogenheit, die noch vor Sondheim, vor Walt Disney und selbst vor den Gebrüdern Grimm ihren Anfang nahm – und die allein schon wegen solcher Bravourleistungen wie Into the Woods niemals aussterben sollte.


Fazit: Ein Disney- und Märchenfilm wie kein anderer! Gewiss nicht jeder wird Zugang zu diesem kuriosen Kunststück finden. Doch anspruchsvolle Musik, ein umwerfender Look und eine clevere Story mit immenser Sogkraft machen Into the Woods zu einem klaren Muss für Musicalfans!

1 Kommentare:

Sir Donnerbold hat gesagt…
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