Klassische Märchen, neu erfunden –
was wie ein aktueller Hollywood-Trend erscheint, hat lange Tradition.
Noch bevor es solche Filme wie Snow White and the
Huntsman oder Serien wie Once Upon a Time
zu sehen gab, eroberte das Bühnenstück Into the Woods
den Broadway. 1987 uraufgeführt, erarbeitete sich das mit drei Tony
Awards und fünf Drama Desk Awards ausgezeichnete Musical einen
festen Platz in der US-Theaterkultur. Es lässt sich daher behaupten,
dass Komponist Stephen Sondheim und Autor James Lapine das
(post-)moderne Konzept, altbekannte Märchen aus einem reifen
Blickwinkel zu betrachten, erst gesellschaftsfähig gemacht haben.
Doch obwohl dieser Ansatz seither unzählige Male kopiert wurde,
genauso wie die Idee, mehrere Märchen auf originelle Weise zu
verbinden, ist Sondheims und Lapines Klassiker ungebrochen ein echtes
Unikat. Exakt dieses lässt sich über 25 Jahre nach der
Theaterpremiere endlich auch als Kinofilm erleben.
Die Leinwandadaption verändert zwar manche
Details, im Großen und Ganzen bleibt der Disney-Film seiner Vorlage
aber inhaltlich treu: Es war einmal in einem weit entfernten Königreich, da
versuchte ein gutherziges Bäckerpaar (James Corden und Emily Blunt)
vergeblich, eine Familie zu gründen. Wie die sich liebenden Eheleute
erfahren, kann die Bäckerin deshalb kein Kind zur Welt bringen, weil
auf ihrem Haus ein Fluch liegt. Die dafür verantwortliche Hexe
(Meryl Streep) bietet an, diesen rückgängig zu machen, wenn das
Paar ihr im Gegenzug innerhalb von drei Tagen vier besondere Dinge
beschafft: Eine Kuh so weiß wie Milch, Haare so gelb wie Mais, einen
Umhang so rot wie Blut und einen Schuh aus reinem Gold. Selbstredend
zeigt sich die Hexe nicht aus purem Mitgefühl so kooperativ: Mittels
dieser Gegenstände könnte die Hexe in der Nacht des blauen Mondes
einen Zauber umkehren, der auf ihr selber lastet.
Die
Suche nach den begehrten Objekten stellt sich jedoch als äußerst
knifflig heraus – und dies, obwohl sie alle zum Greifen nah sind!
Die Gegenstände befinden sich nämlich im Besitz von Rotkäppchen
(Lilla Crawford), der in einem Turm gefangenen, holden Rapunzel
(MacKenzie Mauzy), dem stürmischen Buben Hans (Daniel Huttlestone)
sowie der lieblichen Cinderella (Anna Kendrick). Zeit, sich um die
Sorgen der Bäckersleute zu kümmern, hat jedoch keiner von ihnen. So
wird Rotkäppchen von einem lüsternen Wolf (Johnny Depp) verfolgt,
während sich Cinderella kein klares Bild von ihrem angebeteten
Prinzen (Chris Pine) machen kann und Rapunzel in einem Herzensdilemma
steckt. Und dann wären da noch Hans' Eskapaden, die ihn sogar bis in
die Welt der Riesen führen …
Die Walt Disney Studios sind ebenso
sehr die ideale Produktionsstätte für eine Into the
Woods-Verfilmung, wie sie die wohl ungewöhnlichste Heimat
für dieses Projekt darstellen. Einerseits weißt der Disney-Konzern
mehr als jeder andere Unterhaltungsgigant eine lange, stolze Riege an
Märchen-Adaptionen auf: Viele Jahrzehnte, bevor Lapine und Sondheim
die Geschichten nach ihrem Willen ummünzten, wurde ihr Bild
nachhaltig durch Zeichentrickfilme aus dem Hause Disney modelliert.
Andererseits verschreiben sich Disney-Märchenklassiker üblicherweise
einer klaren Trennung zwischen Gut und Böse – was in der Vision
der intellektuellen Musicalmacher Sondheim & Lapine nur in
äußerst beschränktem Maße der Fall ist. Insofern überrascht es
kaum, dass die Initialzündung zu dieser Leinwandproduktion nicht aus
den Disney-Studios stammt, sondern das Projekt erst an sie
herangetragen werden musste.
Die Filmversion von Into the
Woods ist ein Passionsprojekt des Regisseurs Rob Marshall,
der sich nach dem Publikums- und Kritikererfolg von Chicago
mit Sondheim zusammensetzte und ihm gegenüber beteuerte, förmlich
danach zu brennen, eines seiner Stücke ins Kino zu bringen. Sondheim
selbst äußerte den Wunsch, dass sich Marshall an einer Adaption
seines Märchenmusicals versucht – eine Bitte, die der Die
Geisha-Regisseur nicht ausschlagen konnte. Dennoch zogen
mehrere Jahre ins Land, bis Marshall einen Ansatz fand, wie er die
Vorlage neu aufziehen und für ein neues Publikum sowie ein anderes
Medium filtern könnte. Erst 2011 gab ihm eine Ansprache Obamas den
entscheidenden Denkanstoß – in seiner Rede zum 10. Jahrestag der
Anschläge auf das World Trade Center verwendete der US-Präsident
eine Formulierung, die auch zu den Schlüsselsätzen des
Sondheim-Bühnenstücks zählt. Daraufhin entschloss sich Marshall,
mit seiner Film-Neuinterpretation von Into the Woods
ein Märchen für die Generation nach 9/11 zu erschaffen. Wohlgemerkt
nicht in dem Sinne, dass es als dumpfe Metapher auf den US-Krieg
gegen den Terror dienen sollte, sondern als emotionale Reaktion.
Diesem
außergewöhnlichen Ziel wird der unterschätzte Regisseur und
Choreograph vollends gerecht: Durch Marshalls Inszenierung sowie die
von Lapine und Sondheim betreute inhaltliche Feinjustierung der
Original-Librettos positioniert sich die 50 Millionen Dollar schwere
Produktion als vortreffliche Disney-Märchenerzählung für unsere
Gegenwart. Die heile, gutgläubige Märchenwelt verliert hier ihre
Unschuld und in den etwas mehr als zwei Stunden Laufzeit wird
Naivität stets bestraft. Gleichwohl ist Into the Woods
keine jener modernen Märchen-Umdeutungen, die ihr Herz und ihren
Menschenglauben verloren haben – trotz harscher Zwischentöne
vermittelt dieses komplexe Kinoerlebnis eine aufmunternde Botschaft:
Selbst in Stunden großer Not ist niemand völlig allein, und wenn
die Gesellschaft etwas zusammenrücken würde, könnten wir auch alle
besser aufeinander acht geben … Der zeitlose Disney-Touch ist also
auch in diesem unkonventionellen Film aufzufinden, wenngleich etwas
zurückhaltender, mit mehr Gegenargumenten geschmückt als sonst.
Dies dürfte wohl auch an Rob Marshalls
Gespür für Storytelling liegen, schließlich inszenierte er mit
Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten
bereits ein aufwändiges Abenteuer, das zwar längst nicht allen
Disney-Traditionen treu untergeben ist, aber auch nicht gänzlich
gegen sie Sturm läuft. Wie in Jack Sparrows viertem Beutezug
vermengt der Emmy-Preisträger in Into the Woods
munter diverse Tonfälle. Statt eines märchenhaft angehauchten
Fantasy-Action-Abenteuers mit selbstironischen Zügen präsentiert
Marshall nunmehr einen soghaften Streifzug durch realistische,
comichafte und dramatisch-raue Neudeutungen berühmter
Märchenpassagen, begleitet von süffisantem, selbstironischem sowie
zynischem Witz. Seine Vision, Into the Woods als
Post-9/11-Märchen umzudeuten konsequent verfolgend, drosselt
Marshall die Schlagzahl an Gags der Musicalvorlage, opfert vor allem
groteske oder verquere Lacher. Im Zuge dessen lässt er zudem einige der
gehässigen, nebensächlichen Schicksalsschläge des Originals aus, was zwar disneyhafter ist, jedoch auch durch das Fehlen einer knallig-schrägen Pointe die zweite Filmhälfte noch melancholischer gestaltet.
So wird Marshalls und Disneys Into the Woods insgesamt zu
einer nachdenklich-bittersüßen Angelegenheit, die in einem reizvollen Gegensatz zur
himmelhochjauchzenden, zu Tode betrübten Vorlage steht.
Sobald
der von Kameramann Dion Beebe (Chicago, Die
Geisha) in malerisch-schattigen Bildern eingefangene Film
dennoch seine humorvolle, exzentrische Seite zeigt, dann geschieht dies
umso radikaler: Wenn Chris Pine als selbstgefälliger Prinz in
schimmerndem Abendlicht mit großen Boyband-Gesten davon singt,
welche Qualen er aufgrund seines Liebeslebens durchleidet, bleibt
kein Auge trocken – es sei denn, man wird durch die sich über
Metaebene vermittelte, passionierte Attacke auf Märchenprinzen aus
dem Sog der Story gerissen. Selbiges gilt für Johnny Depps Gastspiel
als pädophiler Wolf, der in einem Aufzug durch die Wälder
schleicht, durch den Erinnerungen an Tex-Avery-Cartoons und
70er-Jahre-Klischee-Zuhälter wach werden. Wer sich von dem
kreativen, hintersinnigen Wahnsinn dieses Films mitreißen lässt,
wird es schwer haben, aufgrund solcher Einfälle sein breites,
glückseliges Grinsen in Zaum zu halten. Dies bedeutet aber zudem,
dass Into the Woods wahrlich kein Kinostoff für
jedermann ist – Toleranz für kalkulierte, verschlagene Dissonanzen
auf atmosphärischer und ästhetischer Ebene ist hier Voraussetzung.
Besagter Grundsatz gilt, bei Sondheim
eigentlich selbstredend, auch für die Musik. Der Sweeney
Todd-Komponist steht für vielschichtige Kompositionen,
treibende Akzentverschiebungen, abgehackte Melodien und sich
allmählich entfaltende Motive – also für einen Klang fernab des
Musical-Mainstreams. Für Sondheim-Jungfrauen könnte Into
the Woods deshalb anfangs einem Kulturschock gleichen –
wer aber offen für diese Erfahrung ist oder eh schon
Sondheim-Erfahrung hat, wird mit einem hypnotischen, den Verstand
herausfordernden, tiefe Gefühle weckenden Erlebnis belohnt.
Erfreulicherweise stellt sich Marshall
in den Dienst der gewaltigen, komplexen Lieder: Setzte er sein
vorhergegangenes Filmmusical Nine wie ein
fiebriges, rasantes Arthaus-Musikvideo um, drosseln er und Cutter
Wyatt Smith das Tempo ihrer nun Bildsprache ungemein. Zwar legen sie
im ausführlichen Prolog mittels einer fesselnden Parallelmontage
eine zügige Geschwindigkeit zu Tage, danach ist Into the
Woods aber längst nicht so kinetisch wie von Marshall
gewohnt. Die Kameraarbeit unterstützt dies; aufwändige Schwenks
erfolgen nur in raren Momenten, in denen sie einen hohen Mehrwert
haben und nicht von den schauspielerischen Leistungen ablenkt.
Die
darstellerische Glanzleistung in Into the Woods
stammt von der zurecht für ihre berauschende Darbietung für den
Academy Award vorgeschlagene Meryl Streep – mit manischer Passion
und Intensität wirbelt sie durch die blendenden Kulissen, während
sie scheinbar mühelos für Abscheu, Mitleid, Witz und Tragik sorgt.
Aber auch das restliche Ensemble vermag es, sich nicht von den
extravaganten Kostümen verschlucken zu lassen: Emily Blunt und James
Corden bestechen mit trockenem Witz und glaubwürdiger Zuneigung,
Anna Kendrick indes legt als gewitzte sowie wankelmütige Cinderella
die Messlatte für ihre disneyinternen Konkurrenz Lily James hoch an.
Theaterpuristen derweil werden womöglich klagen, dass Rotkäppchen
und Hans nicht jugendlich, sondern wie in den Märchenvorlagen im
Kindesalter sind. Jedoch ist Daniel Huttlestone dermaßen voller
Energie und Lilla Crawford auf höchst amüsante Weise kess, dass man
sich nur schwer andere Leinwandbesetzungen in diesen Rollen vorstellen kann.
Die vielleicht gravierendste Änderung
gegenüber der Bühnenversion ist eh, dass der Erzähler nicht weiter
eine eigenständige, über den Dingen schwebende Figur ist. Aber auch
diese Differenz zwischen Bühne und Film hat ihren Sinn und Zweck –
zumal sie unterstreicht, dass Märchen seit jeher weitererzählt und
umgedichtet wurden. Es ist eine Gepflogenheit, die noch vor Sondheim,
vor Walt Disney und selbst vor den Gebrüdern Grimm ihren Anfang nahm
– und die allein schon wegen solcher Bravourleistungen wie Into
the Woods niemals aussterben sollte.
Fazit: Ein Disney-
und Märchenfilm wie kein anderer! Gewiss nicht jeder wird Zugang zu
diesem kuriosen Kunststück finden. Doch anspruchsvolle Musik, ein
umwerfender Look und eine clevere Story mit immenser Sogkraft machen
Into the Woods zu einem klaren Muss für
Musicalfans!
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