Der kanadische Filmemacher Xavier Dolan
ist ein wahres Wunderkind. Mit seinen 25 Jahren müsste er eigentlich
als Newcomer gelten. Tatsächlich gehört er allerdings, wenn man so
will, zu den erfahrenen Meistern seines Fachs: Seit 2009
veröffentlichte der arbeitswütige Regisseur, Autor, Schauspieler
und Cutter fünf Langfilme, die allesamt auf Filmfestivals für
großes Aufsehen sorgten und nahezu einstimmige Lobeshymnen von
Kritikern und Cineasten erhalten haben. Mit Mommy
gelang ihm endgültig der Aufstieg in die obere Regiegarde: Auf den
Filmfestspielen von Cannes 2014 gewann das Drama den Preis der Jury,
womit Dolan altehrwürdige Konkurrenz wie Ken Loach, Jean-Luc Godard
oder Mike Leigh ausstach.
Und dies völlig verdient. Denn mit
Mommy gelang dem Kanadier ein
intellektuell-kunstvoll ausgearbeitetes, hochemotionales
Familiendrama, das sich mit authentischem Blick zwischenmenschlichen
Problemen nähert. Dieses ist in einer nahen, hypothetischen Zukunft
angesiedelt, in der ein Gesetz es Eltern gestattet, die Erziehung und
Betreuung ihrer Kinder einem speziellen Krankenhaus zu übertragen,
sollten sie sich körperlich oder geistig bedroht fühlen. Abseits
dieses in einer einleitenden Texttafel erläuterten Aspekts wirkt
Mommy dagegen so, als hätten sich die
Protagonisten aus nostalgischen Überbleibseln der späten 90er-Jahre
und der ersten Jahre nach der Jahrtausendwende einen emotionalen
Schutzwall gebaut.
So scheinen der Modesinn und weite
Teile der sozialen Gepflogenheiten der alleinerziehenden Diane
Després (Anne Dorval) in ihren Jugendjahren stehengeblieben zu sein.
Die riesige Ohrringe tragende, auf den Rufnamen „Die“ hörende
Witwe benutzt so viel Schminke wie eine rebellische 14-Jährige, die
glaubt, mit ihrem knalligen, pseudo-aufreizenden Outfit als 17
durchzugehen. „Die“ hat einen hyperaktiven pubertierenden Sohn
namens Steve (Antoine-Olivier Pilon), der sich aufgrund seiner
Gewaltexzesse mehrmals Ärger mit dem Gesetz einbrachte. Als Steve in
einer besonderen Schuleinrichtung für psychisch kranke
Heranwachsende einen seiner Mitschüler schwer verletzt, wird er der
Institution verwiesen und in die alleinige Obhut seiner Mutter
übergeben. Diese befindet sich fast unentwegt auf Jobsuche, was ihre
Geldreserven nahezu komplett aufgebraucht hat. Schon allein daher
kann sie sich den Stress und den Zeitaufwand, Steve von Zuhause aus
zu unterrichten, nicht leisten.
Dass Steve dank seiner hochkochenden
Hormone nun ungehaltener ist denn je, macht alles nur noch schlimmer.
Zum Glück lernt „Die“ aber Nachbarin Kyla (Suzanne Clément)
kennen, eine langfristig beurlaubte Lehrerin, die aufgrund eines
grausamen Vorfalls traumatisiert ist und seither stottert. Die
gutmütige, ebenso schüchterne wie geduldige Kyla greift „Die“
so gut sie nur kann unter die Arme und freundet sich auch mit Steve
an. Die Balance, die Kyla in das Leben des verdrießlichen
Mutter-Sohn-Gespanns bringt, ist aber sehr fragil …
Xavier Dolan unternimmt mit
Mommy einen waghalsigen Drahtseilakt, denn er
erlaubt Steve und „Die“, sich wie reale Menschen aus der oberen
Unterschicht zu verhalten. Er verzichtet ebenso auf das Filmvergnügen
erleichternde, klischeebeladene Kunstgriffe, wie auf eine
beschönigende Charakterzeichnung oder auch eine klare Trennung
zwischen „gut“ und „böse“. Mommy ist kein
simples Drama über einen missverstandenen Raufbold, der seiner
Mutter beweist, dass sie nur lernen muss, das Gute in ihm zu sehen.
Genauso wenig ist es strikt als inspirierende Charakterstudie über
eine eifrige Mutter aufzufassen, die ihren aggressiven Sohn zähmt.
Stattdessen sind der unter ADHS leidende Bube und seine nie so ganz
aus der Pubertät entwachsene Mutter in ihrem Verhalten überaus real
– und damit erschreckend unvorhersehbar. Beide können unfassbar
vulgär, störrisch und laut sein, nur um wenige Filmminuten später
einfühlsam und selbstlos zu agieren, wodurch sie ihre Liebe
zueinander zum Ausdruck bringen.
Mommy ist als
filmisches Konstrukt daher ähnlich fragil wie der Haussegen der
Familie Després. All zu leicht könnte aus dem authentischen
Wankelmut einer ausgebrannten Mutter und eines hitzköpfigen Sohnes
eine narrative Willkür werden. Ohne Weiteres könnten das ständige
Gezeter und die impulsiven Handgreiflichkeiten den Zuschauer
unwiderruflich von den Després' abbringen, so dass die herzliche
Seite des Films jegliche Wirkung verliert. Im Gegensatz zu den
glückseligen Momenten, die bei Steve, „Die“ und Kyla sehr rar
gesät sind, hält Dolans Glanzstück aber sämtlichen Widrigkeiten
stand. Und dies, obwohl eine zu strenge Geste, ein melodramatischer
Dialog oder eine forcierte Kameraeinstellung alles zerstören könnte,
was Dolan hier mühevoll aufgebaut hat. Dass dies nicht passiert,
zeugt von der Präzision, mit der das cineastische Nachwuchsgenie das
Geschehen in Szene setzt, sowie von der fesselnden darstellerischen
Kraft der drei zentralen Schauspieler.
Der bestechendste Kniff Dolans ist es,
Mommy im außergewöhnlichen Bildformat 1:1 zu
filmen. Das quadratische Format ist nicht bloß beklemmend, und lässt
das Publikum somit intensiver am einengenden Gefühlsdilemma der
Figuren teilhaben, sondern zwingt den Betrachter zugleich, sämtliche
Aufmerksamkeit auf die gefühlsgeladenen Darbietungen zu lenken.
Alles andere verschwindet, egal, wie wichtig es vielleicht ist. Der
Cast ist den damit einhergehenden Anforderungen mehr als bloß
gewachsen: Die atemberaubende Anne Dorval vereint jede nur
erdenkliche Facette einer alleinerziehenden Mutter, macht ihre Wut
und Verzweiflung ebenso glaubwürdig und greifbar wie ihre
Hoffnungen, Wünsche und eben jene unbeschwerten Augenblicke, die
sich ihr im Laufe der am Zuschauer vorbeirauschenden 134 Minuten so
selten erbieten.
Antoine-Olivier Pilon steht seiner
Leinwandmutter in nichts nach. Obschon er Steves Aggressionsschübe
mit solch einer Wucht vermittelt, dass es einem angst und bange
werden kann, lässt er stets auch einen verletzlichen, überlasteten
Kern durchschimmern. Er macht aus diesem Rüpel – und Steve ist
unmissverständlich ein kleines Ekelpaket – einen Fall, den man
nicht aufgeben will. Zu deutlich ist es, dass seine Pubertät, seine
schwierige Vergangenheit und seine psychische Erkrankung unglücklich
zusammentreffen und Steve eigentlich ein lieber Kerl sein will –
was sich zum Beispiel zeigt, wenn er zu einem optimistischen
Céline-Dion-Klassiker tanzt oder seiner Mutter beim Karaoke einen
Andrea-Bocelli-Schlager widmen möchte.
Suzanne Cléments Rolle der Kyla ist
zwar längst nicht so komplex, trotzdem besticht auch sie mit
intensiven Sequenzen. Besonders lange bleibt ihr Zusammenspiel mit
Pilon alias Steve hängen, dem sie mehrmals die Stirn bieten muss. In
ihrer heftigsten Auseinandersetzung macht Dolan meisterhaft Gebrauch
vom 1:1-Format, zoomt direkt auf das Profil der sich ankeifenden
Figuren – und macht so jede einzelne nervöse Zuckung, aber auch
die Entschlossenheit Kylas ersichtlich. Aber nicht nur die
Darbietungen und die versierte Kameraführung lassen Dolans
Drahtseilakt gelingen. Die mal bezaubernd-naive, mal
tragisch-doppelbödige Untermalung dieses Familiendramas mit
eingängigen Popsongs verleiht diesem Akt den letzten Schliff, macht
ihn noch eindringlicher. Und so vollbringt Dolan es, dass man sich
als Zuschauer nicht mehr von diesen Charakteren lösen möchte, denen
er im wahren Leben wohl den Rücken kehren würde. Denn sie sind uns
oftmals näher, als wir wohl jemals zugeben würden.
Fazit: Erstklassige
Schauspieler, Figuren, die den Zuschauer herausfordern, und ebenso
magische wie bedrückende Momente, wie aus dem Leben gegriffen:
Mommy ist schroff, hoch emotional, brillant.
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