Sonntag, 26. April 2015

Mommy


Der kanadische Filmemacher Xavier Dolan ist ein wahres Wunderkind. Mit seinen 25 Jahren müsste er eigentlich als Newcomer gelten. Tatsächlich gehört er allerdings, wenn man so will, zu den erfahrenen Meistern seines Fachs: Seit 2009 veröffentlichte der arbeitswütige Regisseur, Autor, Schauspieler und Cutter fünf Langfilme, die allesamt auf Filmfestivals für großes Aufsehen sorgten und nahezu einstimmige Lobeshymnen von Kritikern und Cineasten erhalten haben. Mit Mommy gelang ihm endgültig der Aufstieg in die obere Regiegarde: Auf den Filmfestspielen von Cannes 2014 gewann das Drama den Preis der Jury, womit Dolan altehrwürdige Konkurrenz wie Ken Loach, Jean-Luc Godard oder Mike Leigh ausstach.

Und dies völlig verdient. Denn mit Mommy gelang dem Kanadier ein intellektuell-kunstvoll ausgearbeitetes, hochemotionales Familiendrama, das sich mit authentischem Blick zwischenmenschlichen Problemen nähert. Dieses ist in einer nahen, hypothetischen Zukunft angesiedelt, in der ein Gesetz es Eltern gestattet, die Erziehung und Betreuung ihrer Kinder einem speziellen Krankenhaus zu übertragen, sollten sie sich körperlich oder geistig bedroht fühlen. Abseits dieses in einer einleitenden Texttafel erläuterten Aspekts wirkt Mommy dagegen so, als hätten sich die Protagonisten aus nostalgischen Überbleibseln der späten 90er-Jahre und der ersten Jahre nach der Jahrtausendwende einen emotionalen Schutzwall gebaut.

So scheinen der Modesinn und weite Teile der sozialen Gepflogenheiten der alleinerziehenden Diane Després (Anne Dorval) in ihren Jugendjahren stehengeblieben zu sein. Die riesige Ohrringe tragende, auf den Rufnamen „Die“ hörende Witwe benutzt so viel Schminke wie eine rebellische 14-Jährige, die glaubt, mit ihrem knalligen, pseudo-aufreizenden Outfit als 17 durchzugehen. „Die“ hat einen hyperaktiven pubertierenden Sohn namens Steve (Antoine-Olivier Pilon), der sich aufgrund seiner Gewaltexzesse mehrmals Ärger mit dem Gesetz einbrachte. Als Steve in einer besonderen Schuleinrichtung für psychisch kranke Heranwachsende einen seiner Mitschüler schwer verletzt, wird er der Institution verwiesen und in die alleinige Obhut seiner Mutter übergeben. Diese befindet sich fast unentwegt auf Jobsuche, was ihre Geldreserven nahezu komplett aufgebraucht hat. Schon allein daher kann sie sich den Stress und den Zeitaufwand, Steve von Zuhause aus zu unterrichten, nicht leisten.

Dass Steve dank seiner hochkochenden Hormone nun ungehaltener ist denn je, macht alles nur noch schlimmer. Zum Glück lernt „Die“ aber Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) kennen, eine langfristig beurlaubte Lehrerin, die aufgrund eines grausamen Vorfalls traumatisiert ist und seither stottert. Die gutmütige, ebenso schüchterne wie geduldige Kyla greift „Die“ so gut sie nur kann unter die Arme und freundet sich auch mit Steve an. Die Balance, die Kyla in das Leben des verdrießlichen Mutter-Sohn-Gespanns bringt, ist aber sehr fragil …

Xavier Dolan unternimmt mit Mommy einen waghalsigen Drahtseilakt, denn er erlaubt Steve und „Die“, sich wie reale Menschen aus der oberen Unterschicht zu verhalten. Er verzichtet ebenso auf das Filmvergnügen erleichternde, klischeebeladene Kunstgriffe, wie auf eine beschönigende Charakterzeichnung oder auch eine klare Trennung zwischen „gut“ und „böse“. Mommy ist kein simples Drama über einen missverstandenen Raufbold, der seiner Mutter beweist, dass sie nur lernen muss, das Gute in ihm zu sehen. Genauso wenig ist es strikt als inspirierende Charakterstudie über eine eifrige Mutter aufzufassen, die ihren aggressiven Sohn zähmt. Stattdessen sind der unter ADHS leidende Bube und seine nie so ganz aus der Pubertät entwachsene Mutter in ihrem Verhalten überaus real – und damit erschreckend unvorhersehbar. Beide können unfassbar vulgär, störrisch und laut sein, nur um wenige Filmminuten später einfühlsam und selbstlos zu agieren, wodurch sie ihre Liebe zueinander zum Ausdruck bringen.

Mommy ist als filmisches Konstrukt daher ähnlich fragil wie der Haussegen der Familie Després. All zu leicht könnte aus dem authentischen Wankelmut einer ausgebrannten Mutter und eines hitzköpfigen Sohnes eine narrative Willkür werden. Ohne Weiteres könnten das ständige Gezeter und die impulsiven Handgreiflichkeiten den Zuschauer unwiderruflich von den Després' abbringen, so dass die herzliche Seite des Films jegliche Wirkung verliert. Im Gegensatz zu den glückseligen Momenten, die bei Steve, „Die“ und Kyla sehr rar gesät sind, hält Dolans Glanzstück aber sämtlichen Widrigkeiten stand. Und dies, obwohl eine zu strenge Geste, ein melodramatischer Dialog oder eine forcierte Kameraeinstellung alles zerstören könnte, was Dolan hier mühevoll aufgebaut hat. Dass dies nicht passiert, zeugt von der Präzision, mit der das cineastische Nachwuchsgenie das Geschehen in Szene setzt, sowie von der fesselnden darstellerischen Kraft der drei zentralen Schauspieler.

Der bestechendste Kniff Dolans ist es, Mommy im außergewöhnlichen Bildformat 1:1 zu filmen. Das quadratische Format ist nicht bloß beklemmend, und lässt das Publikum somit intensiver am einengenden Gefühlsdilemma der Figuren teilhaben, sondern zwingt den Betrachter zugleich, sämtliche Aufmerksamkeit auf die gefühlsgeladenen Darbietungen zu lenken. Alles andere verschwindet, egal, wie wichtig es vielleicht ist. Der Cast ist den damit einhergehenden Anforderungen mehr als bloß gewachsen: Die atemberaubende Anne Dorval vereint jede nur erdenkliche Facette einer alleinerziehenden Mutter, macht ihre Wut und Verzweiflung ebenso glaubwürdig und greifbar wie ihre Hoffnungen, Wünsche und eben jene unbeschwerten Augenblicke, die sich ihr im Laufe der am Zuschauer vorbeirauschenden 134 Minuten so selten erbieten.

Antoine-Olivier Pilon steht seiner Leinwandmutter in nichts nach. Obschon er Steves Aggressionsschübe mit solch einer Wucht vermittelt, dass es einem angst und bange werden kann, lässt er stets auch einen verletzlichen, überlasteten Kern durchschimmern. Er macht aus diesem Rüpel – und Steve ist unmissverständlich ein kleines Ekelpaket – einen Fall, den man nicht aufgeben will. Zu deutlich ist es, dass seine Pubertät, seine schwierige Vergangenheit und seine psychische Erkrankung unglücklich zusammentreffen und Steve eigentlich ein lieber Kerl sein will – was sich zum Beispiel zeigt, wenn er zu einem optimistischen Céline-Dion-Klassiker tanzt oder seiner Mutter beim Karaoke einen Andrea-Bocelli-Schlager widmen möchte.

Suzanne Cléments Rolle der Kyla ist zwar längst nicht so komplex, trotzdem besticht auch sie mit intensiven Sequenzen. Besonders lange bleibt ihr Zusammenspiel mit Pilon alias Steve hängen, dem sie mehrmals die Stirn bieten muss. In ihrer heftigsten Auseinandersetzung macht Dolan meisterhaft Gebrauch vom 1:1-Format, zoomt direkt auf das Profil der sich ankeifenden Figuren – und macht so jede einzelne nervöse Zuckung, aber auch die Entschlossenheit Kylas ersichtlich. Aber nicht nur die Darbietungen und die versierte Kameraführung lassen Dolans Drahtseilakt gelingen. Die mal bezaubernd-naive, mal tragisch-doppelbödige Untermalung dieses Familiendramas mit eingängigen Popsongs verleiht diesem Akt den letzten Schliff, macht ihn noch eindringlicher. Und so vollbringt Dolan es, dass man sich als Zuschauer nicht mehr von diesen Charakteren lösen möchte, denen er im wahren Leben wohl den Rücken kehren würde. Denn sie sind uns oftmals näher, als wir wohl jemals zugeben würden.


Fazit: Erstklassige Schauspieler, Figuren, die den Zuschauer herausfordern, und ebenso magische wie bedrückende Momente, wie aus dem Leben gegriffen: Mommy ist schroff, hoch emotional, brillant.

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