Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Die Abenteuer von Tom Sawyer von Samuel Langhorne Clemens - besser bekannt unter dem Namen Mark Twain - ist 1876 erschienen, und wenn es auch eines von Twains bekanntesten Werken darstellt, so ist es für die Verhältnisse des Autors doch eher simpel gehalten. Tom Sawyer ist eine einfache Lausbubengeschichte, inspiriert von Marks Twains eigener Jugend in Hannibal, Missouri; von realen Orten und Begebenheiten. Dass das Ergebnis nun kein simples Kinderbuch ist sondern ein Klassiker der Weltliteratur, das ist alleine dem Genie des Autors zu verdanken: Mark Twain verwandelt eine simple Kindergeschichte in eine unvergängliche, geradezu ikonische Darstellung einer Kindheit am Mississippi.
Während die Geschichte sehr persönlich gehalten ist und niemals allzu unrealistisch wird, so bietet Twains Erzählweise doch eine ironische Übersteigerung, die alles mit einem feinen Satire-Schleier überlegt - oder auch mit ganz offener Gesellschaftssatire, gerade wenn es um die erwachsenen Bewohner des Städtchens geht. Das Kapitel „Tom streicht einen Zaun“ ist alleine bei uns in unzähligen Lesebüchern zu finden, und das zurecht: Die Darstellung der vergnügungssüchtigen menschlichen Natur in all ihrer Absurdität, am Beispiel eines geschäftstüchtigen Jungen, bietet hohe Wahrheit aus Kindermund.
Aber trotz all dieser Nebenschauplätze handelt es sich bei Tom Sawyer doch zuallererst um eine recht geradlinige Lausbuben- und Abenteuergeschichte. Beschrieben wird das Leben und der Alltag Toms, seine diversen Abenteuer und Streiche, zusammen mit den Spielgefährten, unter denen vor allem der heimatlose Streuner Huckleberry Finn hervorsticht. Es gibt ein kindliches Liebesdrama, dem genug Platz eingeräumt wird, um herzerwärmend zu wirken, doch nicht so viel, dass es den Rest der Abenteuer überschattet. Und dann verdichtet sich die Geschichte immer mehr um einen fatalen Mordprozess, einen vergrabenen Schatz und den wahren Mörder Indianer-Joe.
Es ist keine „wahre“ Abenteuergeschichte, nicht im eigentlichen Sinne. Eigentlich geht es im ganzen Buch doch nur darum, das Gefühl eines typischen Jungenlebens zu beschreiben, so wie Twain es kannte. Und dieser Teil ist nun schlicht der, der sich mit den Schatzsuchen der Lausbuben beschäftigt, mit den Abenteuerspielen und Verschwörungstheorien. Es ist einfach spannender, von einem echten Mordfall zu lesen, als von einem nur gespielten - der Inhalt bleibt der gleiche.
Auch wenn man wohl mit gutem Recht sagen kann, dass Mark Twain bei Tom Sawyer den Höhepunkt seines Schreibens noch nicht erreicht hatte, so übt das Buch doch seit seiner Entstehung eine ungebrochene Faszination aus. War es zu seinem Ersterscheinen in Amerika noch gut verständliche Nostalgie, die die erwachsenen Leser in Scharen anzog, so hat das Werk doch in den letzten 140 Jahren bewiesen, dass seine Faszination nicht durch örtliche oder zeitliche Umstände begrenzt wird. Es war und es bleibt herrlich, von diesem turbulenten Jungenidyll zu lesen, und so hat Tom Sawyer es geschafft, sich gegen seinen übermächtigen Nachfolger Huckleberry Finn auch auf langen Sicht durchzusetzen. In der Tat wurden die beiden Romane trotz ihres unterschiedlichen Tons erstaunlich oft gemeinsam verfilmt, als zusammengehöriger Doppelpack, der idealerweise noch die gleichen Schauspieler aufweisen kann.
Die Bearbeitungen der beiden Werke, die 1993 und 1995 in umgekehrter Reihenfolge aus dem Hause Disney erschienen, bilden in gewisser Weise einen Mittelweg. Während Timing und gemeinsame kreative Quellen zweifelsohne einen gewissen Zusammenhang suggerieren, bemühen sich die Filme selbst in keiner Weise, als zusammengehörig zu erscheinen. Die Schauspieler sind andere, der Stil der Filme divergiert spürbar, die Vermarktung könnte unterschiedlicher nicht sein. Und selbst die wenigen Bande, die die Bücher thematisch direkt verbinden, wurden bewusst gekappt, so dass Tom und Huck und Die Abenteuer von Huck Finn inhaltlich ganz offensichtlich nicht zusammenpassen.
Alleine der Name des Filmes, Tom und Huck, stellt klar, dass Originaltreue nicht das vorderste Ziel dieser Verfilmung war. Doch auch wenn der ganze Film einen bewussten modernen Unterton erhalten hat, so bemüht er sich doch immer, nahe genug am Ausgangsmaterial zu bleiben. (Wobei erwähnenswert scheint, dass nicht der Stadtname des Buches, St. Petersburg, sondern der Name von Twains eigener Heimatstadt, Hannibal, verwendet wird.) Insgesamt stellt Tom und Huck den Versuch dar, die berühmte Geschichte einigermaßen originalgetreu zu erzählen - nur eben verkleidet als cooles Abenteuermärchen.
Diese Einstellung zeigt sich von der ersten Szene an. Der Film beginnt sehr charakteristisch nicht mit seiner Hauptfigur, sondern mit Indianer-Joe, der sich zu bedrohlicher Musik auf den Weg zu dem leichenschändenden Doktor Robinson macht. Es ist eine Szene, die im Buch nur aus zweiter Hand erzählt wird, doch in dieser Filmversion wird offenkundig keine Gelegenheit ausgelassen, das finstere Halbblut zu zeigen. Der gesamte Plot des Films dreht sich vor allem um ihn, um den Mord an Doktor Robinson, den Prozess und die geheime Schatzsuche - eben die Elemente einer typischen Abenteuergeschichte.
Diese Episode, so spannend sie auch ist, stellt beileibe nicht den einzigen Fokuspunkt des Buches dar. Vielmehr bietet sie, neben einzelnen Actionszenen, nur einen unterschwelligen Beiklang, eine Art Hintergrundstimmung. Im Grunde ist Tom Sawyer ja ein Episodenroman, und das Abenteuer mit Indianer-Joe ist dabei ein Erlebnis wie viele andere auch.
In Tom und Huck dagegen ist die ganze Handlung ganz klar auf dieses eine Abenteuer ausgerichtet. Es ist einzielgerichteter Plot mit wenig Nebenerzählung, und dadurch wird es leider auch zu einem recht schmalen Plot. Statt des bunten Panoramas eines wilden Jungenlebens im Buch bleibt hier nur eine einzelne Abenteuergeschichte. Natürlich ist Toms Gewissenskonflikt, was die drohende Verurteilung des unschuldigen Muff Potters angeht, gerade hier Hauptbestandteil - aber anders als in Huckleberry Finn ist ein einzelner Gewissenskonflikt hier nicht genug, einen ganzen Film zu tragen. Was herauskommt, ist eine simple Kindergeschichte, ohne die Satire oder den unterschwelligen größeren Rahmen des Originals.
Das Ergebnis ist folgerichtig, dass der gesamte Film scharf auf den Plot ausgerichtet ist. Offenkundig hat man sich bemüht, so viele bekannte Szenen wie möglich aus dem Buch zu retten - doch nur, indem die an sich unabhängigen Erlebnisse auf irgendeine Weise mit dem Hauptstrang verwoben wurden. Die Zaun-Szene hat hier den Zweck, Tom in den Besitz einer verräterischen Murmel zu bringen, die irrtümliche Beerdigung des Jungen führt Indianer-Joe auf seiner Suche kurzfristig in die Irre. Die Folge ist eine Reihe lose verbundener Ereignisse, nicht eigenständig genug, um auf eigenen Beinen zu stehen, doch zu nebensächlich, als dass sie wirklich zum Plot gehören würden.
Auf der anderen Seite wurden dafür so viele zusätzliche Szenen mit Joe eingefügt, wie es nur möglich schien. Die Szenen haben sicher eine gewisse Verankerung im Buch, wo Tom von Ängsten und schweren Träumen geplagt wird, doch hier nimmt der rachsüchtige Indianer schließlich den gesamten Fokus ein.
Die größte (wenn auch nicht unerwartete) Enttäuschung des Films stellt für mich persönlich das Finale dar. Das Ende des Buches, mit der langen Wanderung durch die Tropfsteinhöhle hat einen geradezu epischen Charakter. Gerade weil die bedrohliche Darstellung des Höhlenlabyrinths so realistisch beschrieben ist und eben kein Hollywood-typischer Endkampf folgt, sind die Gefühle der beiden verlorenen Kinder so nahegehend. Was fesselt, ist keine äußere Bedrohung, sondern der ganz persönliche Kampf gegen Hunger, Durst und die Verzweiflung - dargestellt in so einfachen Szenen wie Toms Verzicht auf seinen Rationsanteil und Beckys Begreifen.
Dass Indianer-Joe ohne letzte Konfrontation alleine verdurstet ist, ist am Ende eine in keiner Weise enttäuschende Erfahrung. Das stille Grauen dieser Entdeckung, verbunden mit der Erinnerung an Toms eigenen Kampf, ist die perfekte Auflösung dieses Handlungsstranges und fügt sich in den Ton des gesamten Buches ein.
Im Film sieht das nun anders aus: Tom und Huck ist eine simple Abenteuergeschichte, und so braucht der Film eine simple und direkte Endkonfrontation zur Auflösung. Die ganze Geschichte ist hier sowieso um einiges unrealistischer dargestellt, so wirkt ein solch abenteuerlicher Kampf am Ende auch nicht mehr als Fremdkörper. Dazu kommt, dass Huck - als aufgewertete zweite Hauptfigur - natürlich auf Teil an diesem Kampf haben muss. Das Ende ist schließlich so vorhersehbar wie möglich, inklusive eines klassischen Disney-Todes für Indianer-Joe. Stimmung und Atmosphäre der Buchvorlage fehlen, dafür gibt es ein kurzes Gerangel und einen plakativen Sieg - natürlich passend zum Film, aber nichtsdestotrotz schade.
Was die Charakterisierung der Figuren angeht, so kann der Film hier kaum etwas falsch machen. Man könnte urteilen, dass Tante Polly hier ein wenig zu nett erscheint, die Witwe Douglas dagegen zu streng - doch im Allgemeinen ist es kaum möglich, die realistisch-übersteigerten Nebenfiguren aus Mark Twains Städtchen nicht annehmbar umzusetzen.
Indianer-Joe ist finster und bedrohlich wie es sich gehört, und natürlich vermeidet der Film es soweit möglich, die ans Klischeehafte grenzende Indianer-Darstellung des Buches weiter zu unterstützen.
Becky Thatcher wird gegenüber ihrem Buch-Pendant etwas interessanter gezeichnet, mit einer Charakterisierung, die um einiges gewitzter und „moderner“ scheint als im Original. Das Ergebnis ist ein Mädchen, das Tom in gewisser Weise das Wasser reichen kann, ohne dabei zum Action-Girl zu verkommen - und das somit endlich einen guten Grund für Toms fortgesetzte Avancen bietet.
Was die beiden Hauptfiguren des Films angeht, so macht schon der Titel klar, dass Tom und Huck hier beinahe gleichwertige Rollen innehaben. Tom Sawyer ist, wie er sein sollte: gewitzt, straßenschlau, gleichzeitig stinkfaul und insgesamt mit einem Kopf voller Unfug. Man könnte vielleicht argumentieren, dass er ein wenig zu brav und folgsam erscheint, doch das rechne ich der Tatsache zu, dass der Film streng aus seiner Sicht erzählt wird - und auch im Buch ist Tom Sawyer selbst ja immer überzeugt, ein Musterbild von einem tadellosen Knaben abzugeben.
Interessanter ist allerdings die Frage nach der Darstellung Huckleberry Finns, dessen Rolle für den Film weit ausgebaut wurde, auf Kosten von Toms eigentlich liebsten Spielkameraden Ben Rogers. Das erste was auffällt ist, dass Huck in dieser Version vergleichsweise alt dargestellt wird, was ihm alleine körperlich einen großen Respektvorsprung vor Tom verschafft. Das Ergebnis ist ein interessantes Ungleichgewicht, wenn Huck, der Ältere und Erfahrenere, dann plötzlich beim Schreiben seiner Initialen hinter Tom zurückstehen muss.
Generell ist Huck hier nicht wirklich so wie im Buch, dafür hat sich seine Rolle für den Film zu stark geändert - und doch haben es die Macher geschafft, mit Huck auf andere Weise zu einem gleichwertigen Ergebnis zu kommen. Und wenn Hucks Charakterentwicklung auch unerwartet scheinen mag, so macht sie das am Ende vielleicht nur interessanter. Insgesamt gelingt es Huckleberry auf gewisse Weise, den Film aus seiner Banalität zu retten, und ihm zumindest einen besonderen Anstrich zu verleihen.
Für mich stellt sich nebenbei die Frage, wie eine Verfilmung der Abenteuer von Huckleberry Finn mit dieser Besetzung wohl ausgesehen hätte - es hätte mit Sicherheit eine sehr erwachsene Version des Buches werden können, ernsthafter als die meisten Verfilmungen es schaffen.
Mein Fazit zu Tom und Huck ist schließlich, dass der Film ziemlich genau das ist, was man von einer Disneyversion des Stoffes erwarten würde. Die Verfilmung bewegt sich nahe genug am Original, um keinen Anstoß zu erwecken, aber ansonsten setzt sie dem Buch ihren eigenen Stil auf und macht aus einer beinahe melancholischen Kindheitsschilderung ein einfaches Abenteuer. Das Ergebnis funktioniert, doch es funktioniert wirklich nur als Literaturverfilmung: Wäre es ein Originalwerk, so würde sicherlich niemand dem Film nähere Beachtung schenken.
Auf der anderen Seite füllt Tom und Huck diese Rolle der Literaturverfilmung gar nicht mal so schlecht aus; der Film reicht, um an die Idee des Buches heranzuführen und den Zuschauern die Figuren nahezubringen. Und wenn am Ende irgendjemand durch diesen Film angeregt wird, Twains Original zu lesen, so hat sich die Verfilmung doch sicherlich gelohnt.
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