Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Charles Dickens hat mit seinen Romanen eine Menge von bis heute weltweit bekannten Klassikern geschrieben. Viele von ihnen wurden mehrfach verfilmt und für andere Medien umgesetzt, aber wohl keine nimmt eine solche Rolle in heutigem Bewusstsein ein wie Dickens Weihnachtsgeschichte (oder eigentlich „A Christmas Carol“, „Ein Weihnachtslied“).
Die Erzählung ist inspiriert von seinen eigenen Erfahrungen, von den harten Arbeitsverhältnissen, denen er als Kind ausgesetzt war, und von der Gestalt seines Vaters, einem strengen, doch beizeiten gütigen Mann, der als geistiges Vorbild für Scrooge gewirkt haben mag.
Es ist die Geschichte des alten Geizhalses Ebenezer Scrooge, der sein gesamtes Leben in den Dienst von Geldgier und Profit gestellt hat. Eines Heiligabends erscheint ihm der Geist seines verstorbenen Handelspartners Jacob Marley und warnt ihn vor den Folgen seiner Unbarmherzigkeit. In dieser Nacht besuchen Scrooge die drei Geister der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht, die ihm Szenen aus seinem Leben vorführen und ihm so die Fehler seines harten Lebenswandels bewusstmachen.
Dickens empfand, dass eine solche Erzählung die beste Möglichkeit sei, um die Menschen zu bewegen. Nicht mit theoretischen Schriften über die Armut, sondern über eine anrührende Weihnachtsgeschichte hoffte er, die Gefühle seiner Leser zu erreichen. Und das ist ihm ganz offensichtlich gelungen. Bei Dickens Weihnachtsgeschichte handelt es sich im heutigen Bewusstsein wirklich um die Weihnachtsgeschichte; eine Erzählung, die es in ihrer Bedeutung mit jeder säkularen und so mancher christlichen Tradition aufnehmen kann - so sehr, dass man sich unweigerlich fragen muss, warum gerade diese?
Ich denke, die Erklärung ist simpel: Die Geschichte stellt einfach ein perfektes weihnachtliches Märchen dar. Sie schafft einen „Geist der Weihnacht“, ohne dafür auf eine direkte Religiosität zurückzugreifen. Die helfenden Geister sind genau das, „Geister“, entsprungen aus einer Fantasy-Welt, die gerade festlich genug ist, um Weihnachtsstimmung zu verbreiten und mondän genug, um wirklich keinen Leser zu beleidigen. Und auch die Moral der Geschichte ist so offensichtlich, dass es kaum möglich scheint, daran Anstoß zu nehmen (auch wenn es durchaus Meinungen gibt, die Aussage sei zu unbarmherzig sozialistisch formuliert). Im Großen und Ganzen ist klar, Nächstenliebe ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich jede Leserschaft bereitwillig einigen kann. Und damit ist die Weihnachtsgeschichte perfekt geeignet, um ganz unabhängig von jeder persönlichen Einstellung als der Inbegriff heutiger „Weihnachtsstimmung“ zu fungieren. Dabei ist zu bemerken, dass das Buch selbst diese heutige Weihnachtsstimmung erst prägend eingeführt hat, zusammen mit dem heute ikonischen Ausdruck „Frohe Weihnachten“.
Es gibt zahllose Bearbeitungen dieses Werkes (eine große Menge davon hat Jim Hill hier aufgeführt), und da das Grundprinzip der Geschichte so wunderbar allgemein funktioniert, verfügen viele Serien und Franchises über ihre eigene Version. Dabei wird dann gewöhnlich eine der antagonistischeren Hauptfiguren zur Scrooge-Gestalt und darf für eine Folge die Fehler seines Handelns einsehen.
Im Speziellen fällt einem dabei sicher Mickys Weihnachtsgeschichte ein, wo Dagobert Duck, oder Scrooge McDuck im Original, passenderweise direkt nach dem alten Geizhals benannt ist. Und auch ein Sesamstraßen-Special existiert, in dem Oscar der Griesgram mit Hilfe dreier CGI-Geister und ein paar klassischer Sesamstraßen-Ausschnitte den Wert von Weihnachten erfährt.
Doch trotz dieser beiden Kurzadaptionen haben sich die Muppets und Disney 1992 nach dem Tode Jim Hensons für eine erneute Verfilmung zusammengetan, nicht nur um ein simples Weihnachtsspecial abzudrehen, sondern um mit Die Muppets Weihnachtsgeschichte eine vollwertige Neuverfilmung von Dickens Klassiker zu schaffen.
Natürlich hätte es die Möglichkeit gegeben, eine der etablierten Muppet-Figuren als Hauptdarsteller zu nehmen (vielleicht Miss Piggy?) und dieser Weg hätte sicherlich auch irgendwie funktioniert. Aber die Verantwortlichen haben wohl schnell erkannt, dass solch eine Lösung für einen wirklich tiefgreifenden Film nicht ideal wäre. Zum einen, weil sich keiner der Muppets für diese Rolle so richtig anbietet, aber vor allem, da eine so bekannte und vertraute Geschichte, um wirklich ernstgenommen zu werden, das Gewicht einer emotional stabilen Hauptfigur braucht. Auch wenn die Muppets die Geschichte alleine wohl irgendwie über die Bühne gebracht hätten, so funktioniert die - gegen Ende ja recht schmalzige - Geschichte nur, wenn wirklich alle Gefühlsebenen voll ausgenutzt werden. Nur wenn durchgehend Trauer und Tragik von Scrooges Leben durchdringen, ist die umfassende Freude am Ende wirklich „wahr“.
Also wird die Rolle von Scrooge im Film von einem realen Darsteller gespielt, und nicht von irgendeinem: Charakterdarsteller und Oscar-Preisträger Sir Michael Kain hat die Aufgabe übernommen, als Ebenezer Scrooge unter dem bunten Puppen-Gewimmel seine Positur zu halten. Und natürlich erweist sich Michael Kaine als der Profi, der er ist; er nimmt diese Aufgabe auf einmalige Weise wahr. Seine dunkle Gestalt, die harte Miene ist der perfekte Kontrapunkt zu den um ihn herumquirlenden Muppets.
Eine Folge dieser Besetzungswahl ist natürlich, dass die dunkle Seite des Geizhalses nun viel direkter herausscheinen kann. Jetzt reicht ein Blick von Scrooge, um klarzumachen, dass er von Grund auf anders ist als seine Umwelt, und keine Anstrengung der „lustigen“ Puppen um ihn herum könnte ausreichen, ihn umzustimmen - dafür braucht es mehr. Dies ist ein Thema, das sich durch den ganzen Film zieht: Bis auf wenige Ausnahmen sind es stets die Nicht-Muppet-Momente, die etwas an Scrooges Haltung bewirken können. Nicht die Geister der beiden Marleys, nicht der Geist der vergangenen Weihnacht überzeugen ihn, sondern die Bilder von seinem alten Selbst, und vor allem von Belle. Auf dieser Ebene finde ich es auch eine sehr gute Entscheidung, den Geist der zukünftigen Weihnacht nicht eigentlich als Muppet-Figur zu gestalten, und in dieser Szene auch Gonzo und Rizzo, die allanwesenden Erzähler, kurzfristig aus dem Bild zu schieben.
Die eine Ausnahme zu dieser „Regel“ ist offensichtlich: Tiny Tim, mit Robin dem Frosch von einer klaren Muppet-Gestalt gespielt, rührt Scrooge bis ins Innerste und zeigt somit, dass auch die Muppet-Figuren echt genug sind, um auf emotionaler Ebene etwas zu bewirken. So ist auch Haupt-Sympathieträger Kermit als Scrooges Untergebener Bob Cratchit wunderbar eingesetzt, gerade bei seinem eigenen großen Auftritt, wenn er stellvertretend für die Zuschauer eine allgemeine Weihnachtsstimmung verbreitet. Wenn er mit Frau und Kindern in seiner engen Küche Weihnacht feiert, dann wird mehr als klar, worum es bei dem Fest laut Dickens wirklich gehen soll.
Auch auf anderer Ebene wird der Geist des Buches perfekt aufgegriffen: Gonzo und Rizzo machen ihre Sache als Dickens-Ersatz wunderbar und zeigen nur zu deutlich, dass der Film seiner Vorlage trotz allem Spektakel wirklich gerecht werden will. Die beiden befinden sich immerzu im Zwischenspiel zwischen Komik und Witzeleien für die Kinder und ihrer Rolle als angemessene Geschichtenerzähler. Gerade durch diese Zweigleisigkeit bilden sie auch einen wirkungsvollen Avatar für die Zuschauer: Wenn die beiden weinen, nachdem sie sehen, wie Scrooge seine Belle verlässt, hat die Szene alleine dadurch auch auf das Publikum eine ähnliche Wirkung. Das ist wohl auch der einzige Grund, warum diese Szene in ihrer geschnittenen Version überhaupt funktionieren kann.
Was an dieser Stelle eigentlich kommen sollte (und auf einigen englischsprachigen DVD-Ausgaben auch wieder eingesetzt ist) ist ein geschnittenes Lied zwischen Belle und dem alten Scrooge: „When Love is Gone“ („Wenn Liebe vergangen ist“). Es ist das Abschiedslied, das Belle an den jungen Scrooge singt, der ihr erst eine Weile zuhört und sich dann ohne ein weiteres Wort von dannen macht. Was das Lied jedoch wirklich ausmacht, ist die Reaktion des alten Scrooge, der diese Szenerie mit ansehen muss, ohne dass er irgendetwas dagegen tun könnte. Er ist es, der schließlich in die Melodie einstimmt, er ist es, dessen Herz bricht - und der das Herz der Zuschauer brechen lässt.
Es ist eine Szene, wie sie tragischer kaum sein könnte und ein wunderbar passendes, zartes Abschiedslied. Nur wer diese Sequenz gesehen hat, wie sie eigentlich sein sollte, kann die Tiefe des ganzen Filmes meiner Meinung nach erst abschätzen. Und die (eigentlich geplante) Wirkung des Liedes zieht sich wirklich bis zum Ende des Films, wenn in der finalen Nummer „When Love is Found“ eine Reprise das Lied in Melodie und Text wieder aufgreift, und so als emotionale Auflösung noch um so viel stärker wiegen sollte. „When Love is Gone“ ist ein wunderbares Lied, das um seiner zu Herzen gehenden, leisen Stimmung willen gestrichen und erst für die Heimkino-Auswertung wieder eingefügt wurde - allerdings wird uns eine deutsche Nachsynchronisation wohl weiterhin verwehrt bleiben. Das Einzige, was in der geschnittenen Szene bleibt, ist die Reaktion der beiden Muppets auf das Lied, ihre Tränen, die die des gesamten Publikums sein sollten.
Doch geschnittene Szene hin oder her, dieser Faktor kann für den Wert des Filmes doch nur einen (wenn auch bedeutenden) Teilaspekt ausmachen. Michael Kaine ist in seiner Rolle genial, die Muppets machen ihre Sache wunderbar, und gemeinsam treffen sie den Ton von Dickens Geschichte perfekt. Es ist wohl eine Verfilmung der Gegensätze; Lachen und Weinen, gefühlvolle Szenen und Weihnachtskitsch, sie werden allesamt in extenso dargestellt - eben weil für alle Bereiche jeweils eine ideale Figurenriege vorhanden ist.
Über diese harten Kontraste könnte man sich nun vielleicht ereifern - aber warum? Gerade wegen dieser Vielfarbigkeit, dieses perfekten Gegensatzes der Gefühle (einem Gegensatz, der so wohl nur in dem noch unkonventionelleren Die Geister, die ich rief zum Tragen kam) ist die Geschichte wirklich ausgefüllt erzählt. Die Muppets Weihnachtsgeschichte stellt eine große Leistung dar, sie ist Brian Hensons gelungener Versuch, das große Erbe seines Vaters erfolgreich weiterzutragen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen