Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Dies ist nicht das erste Mal, dass Die Schatzinsel in dieser Reihe besprochen wird; schon in diesem Artikel über Disneys Schatzplanet habe ich einiges zu Robert Louis Stevensons Abenteuerklassiker geschrieben. Der Piratenroman, den Stevenson für seinen Stiefsohn geschrieben hat, stellt nach wie vor ein andauerndes Erbe an die Jugendliteratur jeder neuen Generation dar. Es ist eine klassische Seeräubergeschichte um eine verborgene Insel, einen vergrabenen Schatz, mordende Piraten, und über die beeindruckende Freundschaft zwischen der Hauptfigur Jim und dem einbeinigen Seeräuber Long John Silver - einem Antagonist, so ambivalent wie spannend geschrieben, der für Jim wie für den Leser des Buches bis zum Ende in seinen Absichten undurchschaubar bleibt.
Wie ich meinem anderen Artikel schon sagte, ist Der Schatzplanet nicht das erste Mal, dass Disney sich diesem Buch als Filmthema angenommen hat, im Gegenteil: Die Schatzinsel war 1950 der allererste Spielfilm aus dem Hause Disney; eine klassische Literaturverfilmung, die den Roman originalgetreu auf die Leinwand bringen wollte. Doch die verrückteste und meiner Meinung auch interessanteste Disney-Version der Geschichte ist eine andere: Es ist Die Muppets Schatzinsel, eine unkonventionelle Interpretation von Stevensons Klassiker mit einer Cast aus Muppet-Figuren.
Dies ist der fünfte Film der Muppets, und der zweite, der nach dem Tod von Muppet-Schöpfer Jim Henson entstand. Dazu ist es auch der zweite Muppet-Film, der ein Disney-Logo aufweist und der der eine klassische Literatur-Verfilmung darstellt.
Wie schon in der Muppets Weihnachtsgeschichte bilden die Muppets selbst größtenteils die Kulisse der Geschichte, während die Hauptrolle von einem menschlichen Darsteller übernommen wird - oder in diesem Fall die beiden Hauptrollen, nämlich Jim Hawkins und Long John Silver. Anfangs hatte der Plan zwar darin bestanden, die Figur von Jim durch Gonzo und Rizzo gemeinsam darzustellen, doch dann wurde schnell klar, dass das emotionale Zusammenspiel zwischen Silver und Jim zu bedeutend ist, um es den herumalbernden Puppen zu überlassen. Gerade diese äußerst menschliche Beziehung stellt schließlich das Hauptthema des Buches dar - Jim von den beiden Muppets verkörpern zu lassen wäre wohl vergleichbar damit, wenn man Belle in der Weihnachtsgeschichte durch Miss Piggy dargestellt hätte.
Eine sekundäre Erkenntnis, die aus jener ersten Besetzungsidee folgt, ist übrigens diese: Wenn man sich in der Schatzinsel für eine Kernfigur entscheiden müsste, die als einzige von einem Menschen verkörpert werden muss, so ist zweifelsfrei der einbeinige Pirat.
Während es in der Muppets Weihnachtsgeschichte der mehrfacher Oscar-Preisträger Sir Michael Caine auf bemerkenswerte Weise schafft, zwischen all den quirligen Puppen einen ruhigen Fixpunkt zu schaffen, wurde hier bei Silver gerade der entgegengesetzte Weg gewählt. Tim Curry ist laut, grell, spektakulär - er passt voll und ganz in die aufgewühlte Riege der Muppets, übertrumpft sie eher noch in seiner Farbigkeit. Der ganze Film könnte leicht zu einem reinen Schlachtfest ausarten, wäre da nicht das äußerst menschliche Zusammenspiel zwischen Silver und Jim. Erst hier kommt immer wieder Ruhe auf; hier bleibt Raum für Emotionen, und gerade die sind es, die aus dem Film am Ende wirklich etwas Besonderes machen.
Doch das soll nicht heißen, dass die Muppets selbst nicht perfekt zur Geltung kommen. Die gesamte Riege an Puppen ist wunderbar eingesetzt; unter der vielköpfigen Schiffscrew gibt es genug Platz, um jedem einzelnen Charakter jeweils seinen großen Moment zu ermöglichen. Miss Piggy hat einen grandiosen Auftritt als die glamouröse Eingeborenenkönigin Benjamina Gunn - mit pikanten Andeutungen, was ihre Vergangenheit mit Silver und sogar Käpt‘n Flinn betrifft. Und vor allem Kermit zeigt als Kapitän Smollet um einiges gesicherter und eindrucksvoller als sein Romanvorbild, speziell in der Endszene, als er Jim in seinem moralischen Hadern auf beeindruckende Weise unterstützt.
Auch Gonzo und Rizzo sind äußerst sinnvoll eingesetzt: Während sie in der Weihnachtsgeschichte „nur“ die Rolle der Erzählerstimme innehatten, dürfen sie nun direkt am Geschehen teilnehmen. Sie helfen reell, Jims Gefühle zu unterstreichen und seinen Gedanken auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen.
Damit wären wir bei den menschlichen Darstellern selbst. Jim wird auffallend jung dargestellt, gerade wenn man seine moralische Souveränität im Verlauf des gesamten Films bedenkt. Im Roman wird sein Alter nie genau spezifiziert, und so ist diese Frage immer reine Interpretationssache. Und während Jims Alter zum einen sicherlich das Ziel hat, ein junges Publikum anzusprechen, könnte man meinen, es wirke sich auf die Geschichte vergleichsweise wenig aus. Jim ist umgeben von den grellen Muppet-Gestalten, und seine hauptsächlichen Ansprechpartner sind Gonzo und Rizzo - in dieser Umgebung ist kein besonders erwachsenes Verhalten nötig, um sich als vernünftiger Gegenpol hervorzutun.
Die Ebene, auf der Jims Alter eine Rolle spielt, ist natürlich das Zusammenspiel mit Silver, und damit das eigentliche Kernstück von Buch und Film. Gerade als kleiner Junge zeigt Jim sich hier um einiges verletzlicher und gibt Silver quasi mehr Möglichkeit, ihm gegenüber einen Beschützerinstinkt zu entwickeln, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Und gerade durch den natürlichen Alters- und Stellungsunterschied wird die Tatsache unterstrichen, dass es alleine Jim ist, der sich im Verlauf des Films weiterzuentwickeln hat; auch wenn Silver den Jungen wirklich mag, so ist er doch nicht in der Position, sich durch das Bürschchen auf irgendeine Weise von seinem Weg ablocken zu lassen.
Gerade in die Beziehung greift der Film wieder Silvers eher harsche Interpretation aus dem Buch auf, wo Jim bis zum Schluss einigermaßen überzeugt ist, dass der Pirat alle Zuneigung doch nur blufft. Bei Tim Currys Silver ist die Zuneigung zwar sicherlich echt, was spätestens in der Szene klar wird, als er seine Vormachtstellung unter den Meuterern für den Jungen aufs Spiel setzt. Aber dennoch ist bei ihm in jedem Moment auch der harte Pirat am Zug; die Beziehung der beiden droht niemals, ins Sentimentale abzurutschen. Wenn Silver Jim am Anfang in einem nächtlichen Gespräch Hilfe bietet, so geschieht das vor allem, um dem Jungen Informationen zu entlocken. Er bedroht Jim und tut alles, um ihn auf seine Seite zu bringen, und auch am Ende zeigt er keine Probleme, gegen die anderen Hauptfiguren in Kampf anzutreten. Es besteht kein Zweifel, dass er trotz aller Unwägbarkeiten immer den unangefochtenen Seeräuberkapitän darstellt, der nur eben einen Narren an diesem Jungen gefressen hat. Gerade Silvers letzte Abschiedsworte an Jim können wohl zu Tränen rühren: „Du bist ehrlich, tapfer und treu. Das hast du nicht von mir gelernt!“
Die Geschichte bewegt sich durchweg nahe an Original, beeindruckend nahe, wenn man bedenkt, dass es immer noch ein Muppets-Film ist. Doch eine wichtige Veränderung betrifft das Ende, genauer gesagt die bedeutsame Endszene, die zwischen Jim und Silver zusätzlich eingefügt wurde. Wie später im Schatzplanet konnten die Filmemacher auch hier nicht widerstehen, die moralische Frage für Jim noch einmal zu verstärken - es ist ein Punkt für Charakterstärke und Eigenverantwortlichkeit, und gegen blinde Prinzipientreue.
Denn während es im Buch für alle Hauptfiguren ein Happy End gibt - die „Guten“ haben den Schatz errungen, während Long John Silver mit einem guten Teil davon fliehen kann - ist das Ende hier etwas melancholischer gezeichnet. Jim lässt Silver mit dem gesamten Schatz ziehen, der gibt Jim dafür den Kompass seines Vaters zurück. Aber wie um die nötige Moral doch noch zu gewährleisten, stellt sich heraus, dass Silver in einem kaputten Rettungsboot entkommen ist und seine Flucht zum Scheitern verurteilt ist - wie der Abspann zeigt, wird der Schatz gerettet, doch Silver bleibt alleine auf der Insel zurück. Ein vielleicht unnötig biederes Ende für einen sonst so moralisch aufgeschlossenen Film.
Insgesamt handelt es sich um eine beeindruckende Verfilmung des Romans. Viele sagen, der Film sei mit zu vielen Intentionen vollgestopft - doch auf der anderen Seite ist es faszinierend, auf wie verschiedene Arten er dennoch funktioniert. Es ist echter Muppets-Film mit überschwänglichem Humor, aber auch richtiges Abenteuer-Drama - ohne die Puppen könnte das Zusammenspiel von Jim und Silver problemlos in eine „echte“ Schatzinsel-Verfilmung hineinpassen.
Und gleichzeitig werden diese verschiedenen Teile hier perfekt kombiniert; die Schnittstelle zwischen Schauspielern und Muppets funktioniert ohne jedes Problem. Die Puppen zeigen, dass sie auch in ernsthaften Szenen bestehen können - vielleicht am Eindrucksvollsten in dem überraschend ehrlichsten Liebeslied „Die Liebe siegt“ zwischen Kermit und Miss Piggy - und die Menschen, allen voran Tim Curry, schaffen es problemlos, in dieser Muppet-Welt zu bestehen.
Die Muppets Schatzinsel hat sicherlich ihre Schwächen und Ungereimtheiten, aber in diesem Fall hat man das Gefühl, sie gehören eigentlich durch und durch mit dazu. Insgesamt ist es ein beeindruckendes Werk, das es schafft, aus einem Klassiker etwas wirklich Eigenes zu machen, ohne das Original dafür in irgendeiner Weise zu verraten.
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