
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Wie ich meinem anderen Artikel schon sagte, ist Der Schatzplanet nicht das erste Mal, dass Disney sich diesem Buch als Filmthema angenommen hat, im Gegenteil: Die Schatzinsel war 1950 der allererste Spielfilm aus dem Hause Disney; eine klassische Literaturverfilmung, die den Roman originalgetreu auf die Leinwand bringen wollte. Doch die verrückteste und meiner Meinung auch interessanteste Disney-Version der Geschichte ist eine andere: Es ist Die Muppets Schatzinsel, eine unkonventionelle Interpretation von Stevensons Klassiker mit einer Cast aus Muppet-Figuren.
Dies ist der fünfte Film der Muppets, und der zweite, der nach dem Tod von Muppet-Schöpfer Jim Henson entstand. Dazu ist es auch der zweite Muppet-Film, der ein Disney-Logo aufweist und der der eine klassische Literatur-Verfilmung darstellt.

Eine sekundäre Erkenntnis, die aus jener ersten Besetzungsidee folgt, ist übrigens diese: Wenn man sich in der Schatzinsel für eine Kernfigur entscheiden müsste, die als einzige von einem Menschen verkörpert werden muss, so ist zweifelsfrei der einbeinige Pirat.
Während es in der Muppets Weihnachtsgeschichte der mehrfacher Oscar-Preisträger Sir Michael Caine auf bemerkenswerte Weise schafft, zwischen all den quirligen Puppen einen ruhigen Fixpunkt zu schaffen, wurde hier bei Silver gerade der entgegengesetzte Weg gewählt. Tim Curry ist laut, grell, spektakulär - er passt voll und ganz in die aufgewühlte Riege der Muppets, übertrumpft sie eher noch in seiner Farbigkeit. Der ganze Film könnte leicht zu einem reinen Schlachtfest ausarten, wäre da nicht das äußerst menschliche Zusammenspiel zwischen Silver und Jim. Erst hier kommt immer wieder Ruhe auf; hier bleibt Raum für Emotionen, und gerade die sind es, die aus dem Film am Ende wirklich etwas Besonderes machen.

Auch Gonzo und Rizzo sind äußerst sinnvoll eingesetzt: Während sie in der Weihnachtsgeschichte „nur“ die Rolle der Erzählerstimme innehatten, dürfen sie nun direkt am Geschehen teilnehmen. Sie helfen reell, Jims Gefühle zu unterstreichen und seinen Gedanken auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen.
Damit wären wir bei den menschlichen Darstellern selbst. Jim wird auffallend jung dargestellt, gerade wenn man seine moralische Souveränität im Verlauf des gesamten Films bedenkt. Im Roman wird sein Alter nie genau spezifiziert, und so ist diese Frage immer reine Interpretationssache. Und während Jims Alter zum einen sicherlich das Ziel hat, ein junges Publikum anzusprechen, könnte man meinen, es wirke sich auf die Geschichte vergleichsweise wenig aus. Jim ist umgeben von den grellen Muppet-Gestalten, und seine hauptsächlichen Ansprechpartner sind Gonzo und Rizzo - in dieser Umgebung ist kein besonders erwachsenes Verhalten nötig, um sich als vernünftiger Gegenpol hervorzutun.


Die Geschichte bewegt sich durchweg nahe an Original, beeindruckend nahe, wenn man bedenkt, dass es immer noch ein Muppets-Film ist. Doch eine wichtige Veränderung betrifft das Ende, genauer gesagt die bedeutsame Endszene, die zwischen Jim und Silver zusätzlich eingefügt wurde. Wie später im Schatzplanet konnten die Filmemacher auch hier nicht widerstehen, die moralische Frage für Jim noch einmal zu verstärken - es ist ein Punkt für Charakterstärke und Eigenverantwortlichkeit, und gegen blinde Prinzipientreue.
Denn während es im Buch für alle Hauptfiguren ein Happy End gibt - die „Guten“ haben den Schatz errungen, während Long John Silver mit einem guten Teil davon fliehen kann - ist das Ende hier etwas melancholischer gezeichnet. Jim lässt Silver mit dem gesamten Schatz ziehen, der gibt Jim dafür den Kompass seines Vaters zurück. Aber wie um die nötige Moral doch noch zu gewährleisten, stellt sich heraus, dass Silver in einem kaputten Rettungsboot entkommen ist und seine Flucht zum Scheitern verurteilt ist - wie der Abspann zeigt, wird der Schatz gerettet, doch Silver bleibt alleine auf der Insel zurück. Ein vielleicht unnötig biederes Ende für einen sonst so moralisch aufgeschlossenen Film.

Und gleichzeitig werden diese verschiedenen Teile hier perfekt kombiniert; die Schnittstelle zwischen Schauspielern und Muppets funktioniert ohne jedes Problem. Die Puppen zeigen, dass sie auch in ernsthaften Szenen bestehen können - vielleicht am Eindrucksvollsten in dem überraschend ehrlichsten Liebeslied „Die Liebe siegt“ zwischen Kermit und Miss Piggy - und die Menschen, allen voran Tim Curry, schaffen es problemlos, in dieser Muppet-Welt zu bestehen.
Die Muppets Schatzinsel hat sicherlich ihre Schwächen und Ungereimtheiten, aber in diesem Fall hat man das Gefühl, sie gehören eigentlich durch und durch mit dazu. Insgesamt ist es ein beeindruckendes Werk, das es schafft, aus einem Klassiker etwas wirklich Eigenes zu machen, ohne das Original dafür in irgendeiner Weise zu verraten.
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