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Dienstag, 15. Oktober 2013

Ein Film. Mehrere Sichtungen. Mehrere Reaktionen.


Manche Filme werden mit jedem Ansehen immer besser. Eines der Paradebeispiele dürfte The Big Lebowski von den Coen-Brüdern sein, welcher beim ersten Anschauen leidlich amüsant ist, beim zweiten Mal richtig gut wird und sich ab dem dritten Mal als wahres Meisterwerk offenbart. Eine vergleichbare "Ach, deshalb ist der Film bis heute so beliebt"-Wirkung zeigt sich unter anderem auch bei der schrillen Rocky Horror Picture Show oder Pulp Fiction, auch wenn Tarantinos uriger 90er-Erfolg bereits beim ersten Anlauf funktioniert.

Andere Filme gefallen bloß beim ersten Anschauen und sind daraufhin bloß noch dröge und arm an Reizpunkten. Einmal gesehen, alles entdeckt, wegwerfen! Shrek 2 zählt für mich dazu. Nachdem ich einmal über die skurrilen Einfälle gelacht hatte, gab es zu wenig Sympathie zu den Figuren, der Look ist zu unhübsch und die Reizpunkte an der Welt, die der Film entwirft, sind zu rar gesät. Daher habe ich an weiteren Sichtungen relativ wenig Vergnügen.

Um solche Filme geht es hier nicht. Ich möchte viel mehr über Filme reden, die ihren qualitativen Status bei mehreren Sichtungen beibehalten, die aber dennoch jedes Mal ganz anders wirken.

Ein relativ simples Beispiel für Produktionen, die beim zweiten Anschauen ganz anders rüberkommen, ist M. Night Shyamalans wirtschaftlicher Höhepunkt seiner Karriere: The Sixth Sense. Auch wenn ich mich selbst dagegen sträube, diese mit getragenem Tempo erzählte, übernatürliche Geschichte als Horrorfilm zu bezeichnen (was wohl eine recht geläufige Bezeichnung für dieses Werk ist), so ist sie bei einer Erstsichtung voller Suspense und angespannter Momente. Hat man diese Handlung einmal miterlebt und kennt den Schlusstwist, so denkt man vielleicht, fällt dieses Werk völlig auseinander. Stattdessen bin zumindest ich jedes Mal begeistert, welch berührendes übernatürliches Drama Shyamalan hiermit entwarf.

Die wahren Meister ambivalenter, daher wandelbarer, doch qualitativ stets hochwertiger Filme sind jedoch die Coen-Brüder. Beispiel No Country for Old Men: Bei meiner Erstsichtung im Kino funktionierte er bei mir und meinem Publikum als spannungsgeladener, karger und hoffnungsarmer Thriller. Javier Bardems Anton Chigurh ließ mich und die meisten anderen Zuschauer im Saal den Atem anhalten, rare lockere Sprüche, etwa von Woody Harrelsons Rolle, blieben uns im Hals stecken. Ganz anders die Zweitsichtung: Wenn Chigurh humpelnd in verdreckten weißen Socken ums Motel streicht, löste dies aufgrund der Skurrilität munteres Gelächter aus. Sein "Kopf oder Zahl"-Monolog? Sicher eine skurrile Persiflage auf Schurkenmonologe. Auf jeden Fall: Ulkig. Dass er Menschen mit einem Bolzenschussgerät tötet? Das ist nicht erschreckend, sondern gewollt albern. Und die Unfähigkeit von Tommy Lee Jones' Polizisten? Zum wegschmeißen, nicht etwa deprimierend. No Country for Old Men spielte wie eine rabenschwarze, intelligente Komödie, wie eine intellektuelle Antwort auf die Schundpersiflage/-hommage Grindhouse. Und ich habe mich gemeinsam mit meinem Saalpublikum amüsiert. Nur um den Film zwei Wochen später während einer dritten Kinosichtung auf Metaphern, Motive und profunde Aussagen hin zu analysieren.

Die Coens sind sehr fähig darin, ihre Regiearbeiten so zu gestalten, dass sie abhängig von der Gruppendynamik eines Kinosaals oder der Tagesform des DVD-Zuschauers gänzlich anders zu wirken. Dies zeigt sich etwa auch bei A Serious Man: Zwar ist diese Nacherzählung der Hiobs-Geschichte zweifelsohne eine schwarze Komödie, doch ob sie mehr deprimiert, weil jeder Rückschlag Larry Gopniks persönlich trifft und so das Lachen im Halse stecken bleibt, oder wegen ihrer Kreativität und den Superlativen mehr amüsiert, weil die Coens die in einem verborgene Schadenfreude wecken? Tja, das ist nicht vorherzusehen.

Welche Beispiele für Filme mit so wandelbarer Wirkung fallen euch noch ein?

2 Kommentare:

  1. Meiner Meinung nach kann das bei verschiedenen Filmen auf unterschiedliche Weise funktionieren. "Cloud Atlas", beispielsweise, ist so vollgestopft mit kleinen Details, die sich ständig vor und zurück referenzieren, dass man auch nach vielfachem Gucken immer noch wieder Neues entdecken kann und dadurch dann möglicherweise auch zu neuen Deutungen kommt.

    Ein Film, der für mich in dieser Hinsicht immer wieder neu funktioniert, ist "Gosford Park". Beim ersten Schauen fand ich den Film zwar irgendwie großartig, aber gleichzeitig auch total langweilig, weil ich die ganze Zeit auf das Verbrechen und die Aufklärung wartete. Der Mord geschieht erst, nachdem die Hälfte des Films um ist, die Aufklärung am Ende erfolgt eher beiläufig und wird nur dem Zuschauer und zwei Figuren, nicht aber dem Rest des Figurenensembles gegenüber enthüllt. Letztendlich haben Robert Altman und Julian Fellowes den Agatha Christie-Plot also nur als Aufhänger benutzt, bei dem sie dann auch nicht davor zurückschrecken, sämtliche Whodunnit-Konventionen zu persiflieren oder zu auf den Kopf zu stellen. Diese Vorgehensweise auf der Plotebene empfand ich zunächst als störend, erst bei wiederholtem Ansehen zeigte sich mir, wie viel man aus dem Film auch in dieser Hinsicht herausholen kann.
    Auf der Story-Ebene ist der Film hingegeben von Vornherein jedes Mal eine neue Offenbarung. "Gosford Park" ist dermaßen voll mit Figuren, dass man unmöglich alles bei einem Schauen aufgreifen kann. Die Haupthandlung erschließt sich einem zwar, aber die vielen kleinen Nebenhandlungen sind einfach zu verzweigt. Das führt dazu, dass man bei jedem Anschauen auf andere Figuren fokussieren kann um zu sehen, wie die durch die Handlung des Films gehen. Anders als bei vielen anderen seiner Ensemblefilme hat Altman die Handlung hier auf einen sehr engen Raum begrenzt, so dass die Figuren tatsächlich eng miteinander interagieren müssen und kein Aufeinandertreffen mit kleinen Randfiguren, die außerhalb der Handlung stehen, erfolgt.

    In der Hinsicht wie du es meinst, also das Betrachten eines Films mit anderen Augen, geht es mir bei den Coen-Brüdern ebenso. Für mich ist da das beste Beispiel "Fargo", den ich inzwischen in erster Linie lustig finde, wohingegen ich beim ersten Mal überhaupt keinen Humor im Film entdecken konnte.

    Für mich funktionieren auch viele Billy-Wilder-Filme, also vor allem jene, die nicht in erster Linie Komödien sind, auf diese Weise, besonders "Sunset Boulevard" und "Double Indemnity" ("Frau ohne Gewissen"). Bei Sunset Boulevard ist es die Ausgewogenheit und die Breite der Figurencharaktere, die einen immer wieder zu neuen Sichtweisen bringen kann, bei Double Indemnity wiederum fällt einem erst bei wiederholtem Male (ähnlich wie bei dem Coen-Brüdern) auf, wie überzogen und witzig der Film doch tatsächlich auch ist.

    Ich glaube übrigens, dass da durchaus eine Verbindung besteht. "Double Indemnity" ist einer der definierenden Noir-Filme und die Coens sind die Meister des Neo-Noir. Ich denke, dass gerade diese Überzogenheit der Figuren und die "Ove-the-topness" der Handlung Elemente sind, in denen man Rückblickend viel Humor finden kann, auch, wenn sie einen beim ersten Anschauen eher schockieren.

    Dummerwese liegt mir gerade noch mein Paradebeispiel für einen Film, der sich bei jedem Anschauen für mich verändert auf der Zunge (oder auf den Fingerkuppen). Ich bin grad selbst etwas überrascht, weil ich weiß, dass es da einen Film gibt, den ich jedem in dieser Hinsicht empfehle und den ich auch regelmäßig alle paar Jahre wieder anschaue und gerade komm ich nicht drauf, welcher es ist.. Peinlich. Ich denke, ich werde in einem späteren Kommentar nochmal drauf zurückkommen :-)

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  2. "Fargo" hätte ich auch noch nennen müssen! Da er in vielen Listen über die besten Komödien aller Zeiten vorkommt, habe ich ihn mir vor vielen Jahren angesehen (es war mein erster Coen-Streifen) und dann recht entgeistert reagiert, weil der Film für mich eher tragisch erschien. Beim zweiten Anschauen empfand ich ihn dann als spannend, danach erkannte ich darin eine furiose Komödie.

    "Frau ohne Gewissen" muss ich mir anschauen. Nun erst recht! Danke für den Tipp.

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