Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
In der Geschichte des Herakles (was so viel bedeutet wie „der sich an Hera Ruhm erwarb“) steckt in vieler Hinsicht ein Urbild des Heldentypus überhaupt. Seit dem ersten Auftauchen seiner Sagen bis heute gilt er als Inbegriff eines Helden, einer „Überfigur“, die unter den Menschen lebt, ohne doch wirklich zu ihnen zu gehören.
Eigentlich Sohn des Zeus und der Alkmene, wird er unter dem Namen Alkide als Ziehkind von König Amphitryon geboren, der den göttlichen Bastard gerne annimmt. Dennoch setzt Alkmene Herakles aus, um ihn vor dem Zorn Heras zu bewahren und Athene, seiene Halbschwester und Schutzgöttin (eine Assoziation, auf die man im Disneyfilm wohl kaum kommen würde), bringt ihn eben zu Hera, die das Kleinkind unwissend säugt. Als Herakles zu stark an ihrer Brust beißt, wirft Hera ihn von sich und er wächst schließlich doch bei der menschlichen Mutter auf, aber die göttliche Milch hat ausgereicht, ihm eine übernatürliche Stärke zu verleihen. Als Hera zwei Schlangen schickt, um ihn zu beseitigen, hat der Junge keine Probleme mehr, die gefährlichen Tiere zu erwürgen.
Herakles zeigt sich in seiner Jugend als gelehrig, doch jähzornig, weshalb er fortgeschickt wird, um als Hirte alleine zu leben. Als ihm in einer traumartigen Begegnung die Wahl zwischen Glückseligkeit und Tugend gegeben wird, trifft er ohne zu zögern die richtige, tugendhafte Wahl.
Auf die Aufforderung des älteren (doch menschlichen) Verwandten König Eurystheus, in seine Dienste zu kommen, verweigert Herakles den Gehorsam und wird zur Strafe von Hera mit Wahnsinn belegt, so dass er seine Frau Megara und ihrer beider Kinder erschlägt. In anderen Versionen liegt der Grund für die Tat in Megaras Untreue, doch die auferlegte Sühne bleibt die gleiche: Das Orakel von Delphi gebietet dem Helden, im Dienste Eurystheus‘ zwölf Aufgaben zu vollbringen, um seine Schuld zu begleichen. Erst jetzt nimmt er zu Heras Ehren den Namen Herakles an.
Nach vielen weiteren Abenteuern wird Herakles schließlich unabsichtlich von seiner zweiten Frau Deianeira vergiftet. Sein Freund Philoktetes zündet ihm einen Scheiterhaufen an, durch den er in göttlicher Gestalt zum Olymp aufsteigen kann, wo er in Heras Tochter Hebe eine neue Gefährtin findet.
Gerade unter seinem römischen Namen ist die Figur des Herkules (oder Hercules) als beispielhafter Held in die Geschichte eingegangen, und die Darstellung seiner Taten hat in der gesamteuropäischen Kultur bis heute nie an Aktualität verloren. Man könnte es als Ironie betrachten oder als Sinnbild unserer Zeit, dass die aktuell verbreitetste Fassung des Mythos, Disneys Hercules, sich sehr viel mehr mit dem Held-Werden und mit den Schwächen der Figur befasst, als mit dem eigentlichen Heldentum an sich. In diesem Sinne ist wohl auch die Verwendung des populäreren römischen Namens verständlich, schließlich handelt es sich bei dem Disneyfilm um alles andere als eine originalgetreue Adaption - es ist eine Weiterbildung der Figur; eine Heranführung zum modernen Superhelden-Typus mit all den Schwächen, die gerade aktuell in diesem Genre so beliebt erscheinen.
Auch wenn Hercules bei Disney nun von beiden Seiten göttlichen Ursprungs ist, so ist er in dieser Fassung doch menschlicher als je zuvor. Er wird als typischer Teenager dargestellt, unreif, unerfahren, impuls- und hormongesteuert. Ob diese teilweise geradezu weinerliche Art, die später fast ins Unausstehliche übergeht, noch hilft, seinen Charakter besser zu verstehen, oder ob sie schon geradezu abschreckend wirkt, ist wohl Geschmackssache - fest steht, dass man sich bemüht hat, mit dieser Heldengestalt einen grundlegend anderen Pfad zu beschreiten. Und das zeigt sich gerade auch in der Handlung: Statt einer Ansammlung unabhängiger Erzählungen aus dem Leben des Helden, zentral darunter die Sühnegeschichte der zwölf Aufgaben, hat der Disneyfilm die Struktur eines typischen Entwicklungsromans mit besonderer Betonung auf dem Punkt der Selbstfindung und -erfahrung und des Charakterbeweises, der hier erklärtermaßen sehr viel mehr wiegt als jede Heldentat.
Da schon Geschichte und Grundkonstellation der Sage im Film quasi bis zur Unkenntlichkeit verändert sind, kann man wohl kaum eine getreue Umsetzung der Figuren erwarten - und wirklich sind die Namen einiger Personen noch das meiste, was von ihren griechischen Vorbildern geblieben ist.
Aus dem Jugendfreund Philoktetes, der Herakles‘ Körper schließlich dem Feuer übergibt, wird bei Disney ein älterer Satyr, der die typische Lehrer- und Mentor-Funktion einnimmt - eine Rolle, die zwar an die aufgelockerte Umgebung des Films angepasst ist, aber ansonsten inhaltlich ganz konservativ verläuft. Bei dem Großteil der Götter besteht der größte Unterschied in ihrer generellen Modernisierung, doch vor allem Zeus‘ Charakterisierung entspricht erstaunlich genau dem antiken Vorbild: Er gibt sich generell als locker und zeitweise launisch, vergisst aber dennoch nie seine Rolle als verantwortungsbewusstes Götteroberhaupt.
Die eindeutigste inhaltliche Veränderung und Anpassung liegt wohl bei der Figur von Hades vor, dem Herrscher der Unterwelt und damit im Disney-Kosmos designierter Bösewicht. Als Herr der Toten hat Hades (oder Pluto) in der griechischen Mythologie eigentlich eine absolut neutrale Funktion inne. Selbst der gern zitierte Raub von Persephone lässt sich nach altgriechischer Auffassung nicht unbedingt als schlechte Tat beurteilen - ginge man nach diesen Maßstäben, so hätte Zeus selbst schließlich einiges mehr zu verantworten. Doch gerade was diese Erzählung anbelangt, hat Disney schließlich eine gewisse Geschichte, Hades ganz offen in den christlichen Teufel zu verwandeln ...
In der Sage selbst trifft Herakles nur kurz mit Hades zusammen, als er als eine seiner Aufgabe Zerberus, den dreiköpfigen Hund, der die Unterwelt bewacht, emporholen soll. Hades verspricht ihm den Hund, wenn Herakles ihn im Ringkampf besiegt, was Herakles schließlich auch gelingt. Im Übrigen sind es gerade die Folgen dieses Kampfes, wegen derer Hades zum Olymp flieht und dort auf Persephone trifft.
Im Disneyfilm ist Hades der große Gegenspieler von Zeus und somit auch von Hercules - eine Rolle, die in ihrer Ausprägung kaum noch Parallelen zur griechischen Sagenwelt enthält. Es ist klar, dass Hades (neben seiner offensichtlichen Funktion als heimlicher Star des Films) nur dazu dient, Hercules einen übermächtigen Widersacher zu bieten, an dem sich der junge Held charakterlich beweisen kann.
Die interessanteste Figur des Films ist für mich eindeutig Megara, Hercules‘ große Liebe und die einzige Schwäche des Helden. In der klassischen Sage eine Königstochter und Herakles‘ erste (später von ihm ermordete) Frau, stammt sie im Disneyfilm offensichtlich aus gewöhnlichen Verhältnissen - doch im Gegensatz zu vergleichbaren Gestalten anderer Disneyfilme hat Megara eine eindeutige, klar referenzierte Vergangenheit, die als Grundlage ihres Charakters steht und ihr eine realistische Persönlichkeit verleiht.
Ganz abgesehen von den inhaltlichen Vorzügen einer wirklich durchdachten Figur, die mehr ist als der typische Love-Interest, stellt Megaras Vergangenheit, wenn auch nur angedeutet, doch klares Disney-Neuland dar. In keinem anderen Meisterwerk werden Themen wie Beziehungsängste, Betrug und eine große Liebe, die eben nicht unbedingt die erste sein muss, so offen angesprochen wie hier - und man beachte nur die Blicke, die Megara ihrem „Wunderknaben“ zuwirft, um ihn ganz bewusst nach allen Regeln der Kunst zu verführen.
Diese spezielle Bezeichnung des großen Helden führt zu einem anderen Punkt, der in Bezug auf den Film gerne angesprochen wird: Die Vergleiche von Hercules mit einem anderen Wunderknaben, nämlich Superman, dem schon sprichwörtlich gewordenen Helden unserer Zeit.
Es ist kein Geheimnis, dass die amerikanischen Superhelden des letzten Jahrhunderts eine direkte Fortführung der klassischen Heldengestalten sind; Übermenschen, die - teils versteckt, teils offen - unter den gewöhnlichen Sterblichen walten und ihre Stärken (hoffentlich) für das Wohl der Menschen einsetzen. Generell sind gewisse Parallelen zwischen den verschiedenen Mythen daher wohl zu erwarten, und man sollte meinen, dass es eher die Superhelden sind, die sich der Nachmache an ihren klassischen Vorbildern schuldig machen, als andersherum.
Doch die Parallelen speziell der Disney-Fassung der Legende zu Superman sind unübersehbar: der ausgesetzte Sohn, der zu seinem eigenen Schutz in einer fremden Welt aufgezogen wird und erst mühsam lernen muss, dort mit seinen übermenschlichen Kräften umzugehen, der seine Kraft schließlich dazu nutzt, für andere als Held und Beschützer zu fungieren und zur gleichen Zeit immer wieder seine eigentliche Herkunft erforschen will. Selbst in seinem Äußeren scheint Hercules von den Heldenmerkmalen Supermans - breite Brust, starkes Kinn, Umhang - beeinflusst zu sein.
Doch trotz dieser großen Ähnlichkeiten (die bei Disney während der Produktion zumindest aufgefallen sein sollten) wäre es unfair, den Film in irgendeiner Weise als Plagiat des amerikanischen Urhelden zu betrachten; es gibt nun einmal gewisse Handlungsrythmen, die in einem vergleichsweise festgelegten Genre wie dem Superheldenfilm immer wieder vorkommen. Beispielsweise erinnert die Geschichte von Hercules mindestens genauso sehr an die aktuelle Thor-Verfilmung - einen Helden, den man gerade in dieser Ausprägung wohl kaum mit Superman in Verbindung bringen würde. Es ist wohl eher die allgemeine moderne Heldenvorstellung, die sich hier manifestiert, wenn der uralte Typus des Helden unter Menschen heute neu aufgegriffen und mit allzu menschlichen Schwächen und Ängsten angefüllt wird.
Man kann dem Disneyfilm nicht absprechen, dass es ihm gelungen ist, eine interessante, trotz aller Stereotypen doch neuartige Sichtweise auf den Urtypus „Held“ zu finden. Ganz abgesehen von all dem bunten Comedy-Hintergrund des Films laufen die tiefgreifenden Unterschiede in der Charakterisierung von Hercules immer wieder auf die Unterschiede der verschiedenen Zeiten hinaus - und immerhin reden wir hier von mehreren Millennien, die diese Figur schon zur Verfügung hatte, um sich zu entwickeln.
Damals war es für Heldenfiguren wichtig, sich ihrer übermenschlichen Funktion bewusst zu sein; es ging weniger noch um eine konkrete Vorbildfunktion, als darum, sich den natürlichen Anforderungen der Göttlichkeit zu stellen. Ein derartiges Streben nach Unfehlbarkeit ist heute nur noch in Grundzügen erkennbar - der Held soll, ja, muss Schwächen aufweisen, um sich gerade menschlich und identifizierbar zu halten.
In diesem Sinne ist es auch nicht der Comedy-Anteil, der bei Hercules den entscheidenden Unterschied zum Original ausmacht, es ist vielmehr seine bewusste, quasi schon ins Extrem gezogene Fehlbarkeit. Ob diese absolute Übersteigerung der Sage wirklich gut tut, mag nun jeder selbst entscheiden - sicherlich könnte man argumentieren, dass der Punkt bei weitem zu stark aufgetragen scheint, um noch Sympathie für die Hauptfigur zu empfinden. Auf jeden Fall hat Disney mit Hercules eine nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich durch und durch modernisierte und an die heutige Zeit angelegte Fassung eines uralten Mythos geschaffen. Inwieweit diese nun auch in der Lage ist, dem Test der Zeit standzuhalten, wird sich allerdings erst zeigen müssen.
1 Kommentare:
Vielen Dank für einen weiteren tollen Bericht aus eurer besten Rubrik! ;)
Ich finde auch, dass Megara zu den interessantesten Figuren des Disney-Universums gehört. Allein schon aufgrund der Tatsache, dass sie einen Ex hat. Gab es so etwas "Unvorstellbares" noch in einem anderen Meisterwerk?
Kurze Frage zu Persephone:
Ist das Filmchen "The Goddess of Spring" auf irgendeiner DVD zu finden?
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