Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Charles Dickens‘ Oliver Twist erschien 1838 als zusammenhängendes Buch, noch mehrere Monate bevor die abschnittweise Zeitungsveröffentlichung abgeschlossen war. Heute ist die Geschichte ein Sinnbild für die schlechten Lebensverhältnisse Londons im frühen neunzehnten Jahrhundert, für die Klassenungleichheit und insbesondere die Schwierigkeiten, die sich für einen Waisenknaben ergaben, der nicht in seinem vorbestimmten Sumpf aus Elend und Verbrechen ersticken wollte.
Natürlich dürfte diese Lesart ganz im Sinne des Autors liegen, der in dem Buch eindeutige Sozialkritik übt, vor allem an der scheinheiligen Mittelschicht. Der Stil ist größtenteils grimmig, und wenn die Geschichte hin und wieder ins Komisch-Absurde übergeht, so nur um den Kontrast zum harten Inhalt noch stärker zu betonen. Doch neben dieser bewusst realistischen Darstellung des Lebens im Armenhaus und in den Straßen Londons steckt noch eine andere Erzählung in Oliver Twist, ein wundersames Märchen, das sich nur zu oft mit der eigentlichen Aussage beißt. Es geht um die Nebenhandlung von Olivers Herkunft, in der sich mehr und mehr herausstellt, dass er schon von Geburt her nicht für das Leben auf den Straßen bestimmt ist, bis sich zum Schluss sämtliche Probleme durch wundersame Schicksalsfügungen quasi von selbst erledigen. Schließlich ist es bei genauerer Betrachtung sogar so, dass alle Figuren, die der Unterschicht entstammen, charakterlich negativ, verlogen und diebisch dargestellt werden, während die Angehörigen der Oberschicht (mit Ausnahme von Olivers Halbbruder Monks) durchweg gütig und verständnisvoll reagieren - und Oliver selbst, der sich engelsgleich gegen alle Versuchung wehrt, unterstreicht dieses Prinzip durch seine geheimnisvolle hohe Herkunft nur umso mehr.
Die Hure Nancy ist am Ende geradezu die einzige ambivalente Figur, die sich ansatzweise über ihr gebürtiges Schicksal hinausheben kann, indem sie alles tut, um Oliver vor ihrem Geliebten Bill Sykes zu retten - und sie ist auch die einzige Figur des Romans, die mit ihrem Opfertod ein ungerechtfertigtes Schicksal erleiden muss.
Dieses generelle Kastendenken, das sich bei genauerer Betrachtung im Buch einstellt, ist wohl der Grund, dass sich in den verschiedenen Adaptionen generell eine andere Charakterisierung durchgesetzt hat: Gerade der Jude Fagin wird immer wieder zum liebenswerten Schlitzohr heraufgestuft, der sich ehrlich um seine Jungen sorgt, und kaum eine Bearbeitung lässt Dodger wirklich am Ende in die Verbannung nach Australien schicken. Außerdem wird Olivers eigene Herkunftsgeschichte häufig unterschlagen, und alleine dadurch wird der Junge selbst zum Sinnbild des edlen Jungen aus niedrigen Verhältnissen.
Doch keine der vielfältigen Adaptionen geht wohl so frei mit Dickens Roman um wie die Disneyverfilmung von 1988: Oliver & Co. Wie lose die Geschichte um das verlassene Kätzchen, das Zuflucht in einer Hundebande findet, erscheint, zeigt sich am besten dadurch, wie viele Zuschauer den Zusammenhang zwischen Buch und Film nicht einmal erkennen - und doch finden sich sicher genug Parallelen, um den Disneyfilm als direkte Verfilmung zu werten, bei der es sich nicht einmal um die freieste der Disney-Adaptionen handelt.
Neben dem eindeutigen Bezug zu Oliver Twist wird dem Film im Übrigen nachgesagt, dass es sich im Grundgedanken um eine Fortsetzung von Bernard und Bianca gehandelt habe, die Pennys weiteres Schicksal erzählt, eine Geschichte, die bei den Ähnlichkeiten zwischen Penny und Jenny sicher einleuchtend klingt, für die ich zumindest aber keinerlei Belege gefunden habe.
Es ist wohl nicht verwunderlich, dass die Geschichte selbst in ihrem neuen Rahmen einer Wandlung unterworfen wurde. So gut die Verwandlung der Straßenjungen in eine Hundegang an sich auch funktioniert, so ergeben sich daraus doch ganz klare Kürzungen des Romans wie das Wegfallen der ikonischen Waisenhausszenen, und nicht zuletzt ist die Frage um Olivers Herkunft hier völlig bedeutungslos - wie gesagt eine eher übliche Weglassung, die die soziale Botschaft des Buches eher noch unterstreicht.
Dass Oliver in Fagins Diebesgruppe eine gesonderte Rolle einnimmt (und das schon durch seine Geburt), wird stattdessen auf andere Weise offensichtlich - ganz einfach dadurch, dass Oliver eine Katze ist, die sich unter Hunden behaupten muss. Gerade die gesamte moralische Fragestellung wird durch diese grundlegende Veränderung stark beeinflusst: Wie auch im Buch schickt Fagin seine Jungs hinaus, um für ihn zu stehlen, doch in diesem Fall ist damit keinerlei moralische Schuld verbunden und Oliver selbst hat von Anfang an kein Problem damit, sich sein Essen durch „Diebstahl“ zu besorgen.
Diese Verschiebung sorgt auch dafür, dass Jenny - das Äquivalent zu Mr. Brownslow im Buch - keine Notwendigkeit hat, Oliver zu „vertrauen“; sie ist einfach ein junges Mädchen, das sich eines verlorenen Katzenkindes annimmt. In gewisser Weise zeigt sich der Disneyfilm nicht zuletzt dadurch um einiges realistischer als sein Vorbild, eine Aussage, die wohl einiges über Dickens Roman aussagt.
Durch das Wegfallen der gesamten moralischen Zwiespältigkeit ist auch der Rest der Hunde trotz ihrer rauen Art durchgehend positiv gezeichnet und selbst Olivers Entführung aus Jennys Haus stellt ein reines Missverständnis dar. Neben Dodger, der in etwa dem entspricht, was man von einer Hundeversion der Buchfigur erwarten könnte, lässt sich im Übrigen nur in Rita eine spezielle Gestalt des Romans erkennen: Auch wenn sie im Film nur eine kleine Rolle innehat, zeigt die Hündin doch angedeutete Parallelen zu Nancy. Es existiert eine zumindest einseitige Beziehung zwischen ihr und Sykes‘ Hund und sie ist es, die sich dagegen ausspricht, Oliver zurück zu Fagin zu bringen.
Fagin selbst ist wohl der Elefant im Raum, wenn es um irgendeine Oliver-Twist-Bearbeitung geht. Die Tatsache, dass er im Buch als widerwärtiger Gauner durchgehend negativ dargestellt wird, wäre an sich kein Problem, würde nicht die Tatsache seiner jüdischen Abstammung mit noch größerer Intensität immer wieder betont werden. Dickens selbst hat, als er erkannte, dass seine Figur als beleidigend aufgefasst wurde, den Großteil der Hinweise auf Fagin als „der Jude“ herausgestrichen, doch das Prinzip ist dasselbe geblieben und nun ist es Sache der verschiedenen Filme, sich mit dem Problem zu befassen.
Durch die freie Adaption fällt es Oliver & Co. natürlich vergleichsweise einfach, jede unangenehme Konnotation zu verhindern. Nicht nur weist in diesem Falle nichts mehr auf einen jüdischen Hintergrund des Kleinkriminellen hin, Fagin wird auch trotz seiner nicht ganz legalen Lebensweise durchweg positiv dargestellt. Zwar ist er selbst ein Mensch geblieben und muss sich damit auch im Film für sein Handeln moralisch verantworten, doch alleine dadurch, dass er unter dem Druck des sehr viel bedrohlicheren Sykes steht, sind seine Handlungen durchweg entschuldbar. Und auch wenn er Jenny mit Olivers „Entführung“ erpressen will, so kann er doch nicht einmal dieses Vorhaben wirklich durchführen.
Sykes dagegen wird von seinem zwar brutalen aber doch menschlichen Buchvorbild zu einem gnadenlosen Verbrecher abgewertet, dessen Präsenz ausreicht, die positivere Zeichnung der restlichen Figuren als einziger Bösewicht aufzuwiegen. Zwar fehlt mit Nancys Tod der grauenvollste Aspekt, den die Figur im Buch innehat, doch es wird eindeutig klar gemacht, dass Sykes sich neben Kindesentführung auch für einen Mord keineswegs zu schade ist.
Ab dem Moment, als Sykes Jenny entführt, hat der Film generell nicht mehr viel mit dem Buch gemein; es folgt ein allzu typisches Disney-Finale mit einer ausführlichen Rettungsaktion inklusive Verfolgungsjagd. Auch das Schlussbild selbst ist um einiges freundlicher als sein literarisches Äquivalent - in beidem werden die Guten am Ende durchweg belohnt, doch in Oliver & Co. umfasst die Liste der positiven Figuren eben eindeutig auch Fagin und Dodger.
Insgesamt sollte den Zuschauern des Films eigentlich von Anfang an klar sein, dass sie keine originalgetreue Verfilmung von Dickens Roman zu erwarten haben. Der Film hangelt sich immerhin einigermaßen genau an der Geschichte des Buches entlang und das Publikum erhält die Figuren, die man allgemein erwartet - merke: die man erwartet, nicht die, die im Buch zu finden sind.
Dass Dickens klassischer englischer Roman von Disney in das New York der achtziger Jahre versetzt wurde, ist für Puristen dagegen vielleicht grausamer als die Veränderungen der Geschichte selbst, doch aus erzählerischer Sicht macht gerade diese Verschiebung durchaus Sinn. Oliver Twist war nie ein historischer Roman, sondern eine Sozialstudie, in der Dickens die aktuellen Probleme seiner Zeit offen aufzeigte. Daraus nun einen wiederum modernen Film zu machen, der sich mit modernen Problemen wie heimatlosen Trieren und Kleinkriminalität auseinandersetzt, ist eine an sich überraschend tiefgreifende Idee.
Doch natürlich bemüht sich Oliver & Co. nicht wirklich, dieses Prinzip kritisch umzusetzen. Am Ende bleibt der Film ein buntes Tier-Abenteuer, dass sich weder von Dickens Original abhängig macht, noch den Ehrgeiz hat, eigenen Tiefsinn zu entwickeln. Auch die an sich vielleicht konstruktive Idee, eine einst als modern geschriebene Geschichte wiederum modern zu verfilmen hat sich bereits 25 Jahre nach Erscheinen des Filmes völlig gegeben; Oliver & Co. ist so fest in seiner Entstehungszeit der achtziger Jahre festgenagelt wie wohl kein anderes Disney-Meisterwerk.
Ich persönlich denke, der Film hätte ein sehr viel langlebigerer Erfolg sein und seinen literarischen Ursprung vielleicht sogar überflügeln können, wenn man sich wirklich bemüht hätte, die Möglichkeiten einer modernen Oliver-Twist-Verfilmung voll und ganz zu nutzen - doch gerade für die damalige Disney-Zeit wäre das wohl um einiges zu viel verlangt. Was sich dem Zuschauer stattdessen bietet, ist eine unschuldig-putzige Adaption des Klassikers, die sich vor allem bemüht, ja niemanden zu überfordern.
Erst Anfang diesen Jahres habe ich Dickens Roman gelesen. Und da dies für mich eine Premiere war, wollte ich beim Lesen eigentlich immer "Oliver & Co." im Hinterkopf behalten, um die Ähnlichkeiten der Geschichten bzw. die "Werktreue" des Filmes besser zu erkennen.
AntwortenLöschenIch muss gestehen: Das Disney Meisterwerk kam mir immer nur dann in den Sinn, wenn Namen wie Fagin oder Sikes/Sykes fielen...
Meist habe ich den Film aber ganz ausgeblendet und konnte mich nach Beendigung des Buches nur an bruchstückhafte Ähnlichkeiten erinnern.
Dieser Artikel hat jetzt alles ein wenig erhellt, danke. :D
Die Verbindungen zwischen Nancy und Rita ist mir zum Beispiel überhaupt nicht aufgefallen...
Was ich an "Oliver & Co." so schade finde, ist gar nicht unbedingt die Veränderung der Geschichte, sondern vielmehr die Aufmerksamkeit, die der Film heutzutage bekommt. Der Film war ein unglaublicher Erfolg, damals sogar Zeichentrickrekord, und heute geht er im Glanz der großen Neunziger irgendwie unter. Schade.
Hätte Disney die Szenerie z.B. ins 18. Jahrhundert verfrachtet, würde er vielleicht nicht mit dem Feststecken in der Zeit zu kämpfen haben und somit klassischer bewertet werden.
Aber gut, der Film ist wunderbar, wie er ist. Unterschätzt, aber eine kleine Perle.
Danke für diese Besprechung!! :)
Mir fällt übrigens gerade ein, dass ich als Kind gerne die Serie "Oliver Twist" gesehen habe, in welchen die Figuren auch als Tiere auftraten.
AntwortenLöschenOliver war dort jedoch ein Hund.
Wenn die mal wieder laufen sollte, werde ich mal Buch und Serie vergleichen, vielleicht findet sich ja was. :D
Danke für den bericht! Ein unterschätzter Film!
AntwortenLöschenHab noch einige Vorschläge für diese Reihe:
Bernard und Bianca
Cap und Capper
101 Dalmatiner
Dumbo
Beruhen ja alle auf Büchern, die in Deutschland gar keiner kennt.