Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Bei der Frage, welches die namengebende Pflanze im Grimm‘schen Märchen Rapunzel genau ist, gibt es zwei Anwärter: die Rapunzel-Glockenblume, deren Wurzeln zum Verzehr geeignet sind, oder dem gewöhnlichen Feldsalat. Während die Blume rein optisch sicherlich etwas mehr hermacht, ist zum Feldsalat zu sagen, dass er sehr viel des gerade für Schwangere wichtigen Eisens beinhaltet. Ähnlich sieht es bei der Petersilie aus, die in den französischen und italienischen Vorläufern des Märchens, Persinette beziehungsweise Petrosinella, der Hauptfigur ihren Namen gibt.
Wie so viele Märchen fängt Rapunzel mit einem Ehepaar an, dass nach vielen Versuchen endlich ein Kind erwartet. Doch die Frau verlangt verzweifelt nach den Rapunzeln, die sie im Garten der benachbarten Zauberin sieht, und um ihr zu helfen klettert ihr Mann in den Garten, um die Pflanzen zu stehlen. Es bleibt nicht bei dem einen Versuch, und als der Mann das nächste Mal zur Zauberin hinübersteigt, wird er von ihr erwischt und als Wiedergutmachung für den Diebstahl verlangt sie sein ungeborenes Kind - Rapunzel.
Als das Mädchen zwölf Jahre als ist, sperrt die Zauberin (oder Frau Gothel, was so viel wie Frau Gevatterin heißt) sie in einen hohen Turm, um sie vor der Welt zu bewahren, wobei Rapunzels goldene Haare den einzigen Weg hinein und hinaus darstellen. Dennoch wird der Gesang des Mädchens schließlich von einem Königssohn gehört, der heimlich denselben Weg benutzt, um zu Rapunzel zu gelangen und sich sofort in sie verliebt. Da sie den Turm nicht ohne weiteres verlassen kann, muss sie geduldig warten, während der Prinz ihr bei jedem Besuch etwas Seide mitbringt, um daraus ein Seil zu flechten.
Doch schließlich verrät Rapunzel sich der Zauberin gegenüber, und Frau Gothel schneidet ihr die Haare ab und verstößt das mittlerweile schwangere Mädchen. Sie stellt dem Prinzen eine Falle und wirft ihn vom Turm, so dass er sich die Augen aussticht und sich nun blind auf die Suche nach seiner Liebsten machen muss. Einige Jahre später findet er Rapunzel, die in der Zwischenzeit Zwillinge geboren hat und ihre Tränen geben dem Prinzen das Augenlicht wieder.
Gerade die Beweggründe der „bösen“ Zauberin sind in diesem Märchen überraschend klar. Sie sperrt das pubertierende Mädchen ein, um ihre Reinheit zu bewahren, und um gerade das zu verhindern, was durch den Königssohns später wirklich geschieht. Die Frage um Rapunzels verlorene Tugend war in der ersten Grimm‘schen Version des Märchen sogar noch eindeutiger: Dort verriet Rapunzel sich noch durch die Feststellung, dass ihre Kleider ihr nicht mehr passen, und die Geburt ihrer Zwillinge wurde explizit erwähnt. Da diese Fassung allerdings schnell als anstößig empfunden wurde, war es in der nächsten Ausgabe die so beliebige wie unkluge Äußerung, dass Frau Gothel schwerer wöge als der Königssohn, die der Zauberin alles verrät. Außerdem wurde der sofortige Liebesschwur des Prinzen eingefügt, wohl um mildernde Umstände für das Verhältnis der beiden zu schaffen.
Man könnte es als Ironie auffassen, dass in der Disneyverfilmung des Märchens bewusst betont wird, wie viele Jahre noch vor Rapunzels und Flynns Hochzeit vergeht - und das ebenfalls aus dem Grund, die Moralansprüche der Zeit zu befriedigen. Doch das ist sicher nicht der entscheidende Unterschied, wenn es um die Disney‘sche Adaption von Rapunzel geht.
Gerade der Anfang des Films macht den Anschein, als hätte er wenig mit der ursprünglichen Geschichte gemein, doch bei genauerer Betrachtung verläuft der Märchenanfang ganz parallel: Die Mutter von Rapunzel ist schwanger und braucht eine spezielle Pflanze zum Überleben, und so stiehlt ihr Mann diese Pflanze einer Zauberin. Zur Wiedergutmachung holt Gothel das Baby, um es bei sich aufzuziehen, und daraus folgt das ikonische Bild der in den Turm eingesperrten Rapunzel.
Auch der Rest der Geschichte folgt der Linienführung des Märchens: Ein junger Mann findet das Mädchen, die beiden kommen sich nahe, Gothel erfährt davon und stellt ihm eine Falle, doch schließlich wird er durch Rapunzels Träne gerettet.
Natürlich ist diese recht einfache Grundgeschichte im Disneyfilm groß aufbereitet und zu einem soliden Spielfilm aufgefüllt. Gerade die zusätzliche Idee, dass Rapunzels Haare magische Eigenschaften besitzen, bietet sich definitiv an - ebendiese Haare sind ja der springende Punkt des Märchens, auch wenn es dort keine Erklärung für die übernatürliche Haarpracht gibt.
Was den gesamten zweiten Akt des Filmes betrifft, so wurde Rapunzels Ausflug durch das Königreich und ihre Suche nach den Lichtern offensichtlich neu eingefügt. Doch auch das stellt eher eine Erweiterung des Märchens dar als eine wirkliche Veränderung; schließlich ist es auch bei Grimm der Prinz, der Rapunzel findet und durch seine Besuche aus ihrer behüteten Welt herausreißt. Und im Märchen wie im Film ist genau diese „Aufklärung“, die Gothel erzürnt und dazu bringt, ihre Freundlichkeit dem Mädchen gegenüber fallenzulassen.
Das Finale des Films ist in der Tat verändert, doch auch diese Änderungen gehen nicht weiter als das, was man von einer typischen Adaption erwarten kann; die Intentionen der Figuren sind nach wie vor vorhanden, genau wie Stimmung und angedeutete Tragik. Und wenn es auch nicht Gothel tut, so werden Rapunzels Haare doch auch in dieser Version abgeschnitten - eine Entscheidung, die bewusst die Integrität der Geschichte vor die dauerhafte Vermarktbarkeit der Disneyprinzessin setzt.
Die interessantesten Veränderungen zwischen Film und Märchen betreffen wohl die Charaktere der Figuren selbst. Im Märchen selbst kommen nur Rapunzel, der Prinz und Frau Gothel als wirkliche Personen vor, selbst ihre Eltern werden nur angeschnitten. Und auch im Disneyfilm sind diese drei die tragenden Personen; die restliche Besetzung gehört zu der erweiterten Geschichte und bietet nicht viel Material für eine spezielle Betrachtung.
Wenn man sich die Figurenunterschiede anschaut, dann fällt wohl auf Erstes auf, dass die Herkunft von Rapunzel und Flynn umgetauscht wurde: Bei Disney ist sie es, die von königlicher Abstammung ist und Flynn Rider ist ein gewöhnlicher Dieb.
Für Rapunzel ist diese Veränderung egal; sie könnte ohne weitere Veränderungen der Geschichte auch aus einfachen Verhältnissen stammen. Was dagegen neu ist, ist ihr Verlangen, den Turm zu verlassen: Dadurch, dass Rapunzel diesen Wunsch aus sich selbst heraus findet, bekommt sie eigene Intentionen und Sehnsüchte, die in der Grimm‘schen Fassung nicht zu finden waren. Natürlich ist der Wunsch nach dem Leben draußen auch ohne weitere Begründung schon verständlich, und auch im Film dient die Suche nach den schwebenden Lichtern nur zur Verdeutlichung von Rapunzels Freiheitsdrang und gibt ihr einen Grund, mit Flynn hinauszuziehen, ohne dass sie sich auf den ersten Blick in ihn verliebt.
In Flynns Fall ist die Degradierung zum Dieb dagegen sehr wohl handlungsentscheidend: Da auch er sich in dieser Fassung nicht sofort in sie verliebt, braucht es einen Grund, der die beiden aneinander fesselt.
Generell ist der Grund, dass die augenblickliche Zuneigung des Märchens einer langsameren Beziehung weichen musste, offensichtlich. Das Original bietet in diesem Fall eine allzu typische Märchenliebe, bei der der Prinz die gefangene Jungfer nur einmal singen hören muss, ehe er ihr ewige Liebe schwört. In der heutigen Stellung des Disneyerbes scheint es dagegen schlichtweg unmöglich, die Geschichte so umzusetzen; selbst bei der besten Verarbeitung würde dieses Kennenlernen wie eine reine Selbstparodie daherkommen. Stattdessen wurde eine typisch moderne Streitliebe eingefügt, die den beiden Gelegenheit gibt, sich langsam kennenzulernen - und gerade dafür ist ein anfängliches Zögern gerade auf Flynns Seite wichtig. Ihn zum Dieb zu machen, der auf Rapunzels Hilfe angewiesen ist, bietet dafür zweifelsohne einen guten, einfachen Ansatz.
Und gerade weil Flynn nun nicht mehr von nobler Abstammung ist, war es im Sinne des Disneykonzerns wohl auch unerlässlich, Rapunzel königliche Eltern zu geben, um sie trotzdem in den offiziellen Status einer Prinzessin zu erheben.
Was das Königspaar angeht, so kann man sagen, dass die beiden etwas verantwortlicher erscheinen als die Eltern im Märchen: Zwar besorgen auch sie sich die Pflanze, die die Mutter so dringend braucht (und gerade damals galt es als sehr gefährlich, einer Schwangeren nicht zu geben, worauf es sie gelüstet), doch weder ist es ein wirklicher Diebstahl, noch verspricht der Vater der Zauberin das Kind - ganz einfach, weil er keinerlei Gelegenheit dafür hat.
Doch am interessantesten scheint für mich die Art, wie der Charakter der Zauberin Frau Gothel im Film umgesetzt wurde. Gothel ist die Figur, die im Märchen am meisten Persönlichkeit bekommt, und was typische Märchencharaktere betrifft, so stellt sie definitiv eine der ausgewogensten Gestalten dar.
In der ersten Grimm‘schen Fassung des Märchens wird sie noch als „Fee“ beschrieben, dann als „Zauberin“ - beides Begriffe, die weit positiver klingen als die alternative Bezeichnung „Hexe“. Auch der Name, den Rapunzel ihr gibt, „Frau Gothel“, bedeutet wie gesagt so viel wie Gevatterin oder Patin und deutet an, welch enge Beziehung im Märchen zwischen ihr und ihrem Pflegekind besteht.
Sie ist zu Beginn der Geschichte zornig auf den Mann, der sie bestohlen hat, doch sie lässt sich durch seine Gründe erweichen, und offensichtlich sorgt sie sich in verlässlicher Weise um das so erhaltene Kind. Zum Bösewicht wird sie erst wirklich, als sie von Rapunzels Tugendlosigkeit erfährt, und sie behandelt sie auf die Weise, die für „gefallene Mädchen“ zu jener Zeit als gebräuchliche Strafe galt.
Es gäbe sicher viele Richtungen, in die Disney mit dieser Figur hätte gehen können, die einfachste davon wohl eine simple, märchentypische Hexe. Doch dies ist definitiv nicht der Weg, den man genommen hat: Gothel hat Gründe für Handeln, sie ist verständlich gezeichnet und zeigt sich zu großen Teilen sympathisch. Es ist nicht einmal sie, die den eigentlichen Konflikt der Geschichte anstößt. Sie selbst ist mit ihrer Zauberblume zufrieden, und erst als die Blume gestohlen wird, muss Gothel sich das Baby sichern, will sie nicht sterben. Und auch wenn sie sicher keine vorbildliche Mutter darstellt, so sorgt sie doch all die Zeit lang gut für das Kind.
Allgemein besteht die Frage, ob sie Rapunzel wirklich liebt, oder ob sie nur so tut - eine Frage, die von außen alleine schwer zu beantworten ist. Aber was sich beurteilen lässt, sind Gothels Taten. Sie gibt ihr Bestes, Rapunzels Wünsche zu erfüllen, sie ist zärtlich und kümmert sich um das Mädchen - und das Wichtigste: Trotz aller Sticheleien gibt sie Rapunzel immer das Gefühl, geliebt zu werden. Wie auch im Märchen ist es erst der Verrat, der Gothel böse werden lässt und sie dazu bringt, alle Freundlichkeit fahren zu lassen.
Es besteht kein Zweifel, dass diese vergleichsweise mehrdimensionale Märchenfigur in einen vielschichtigen Charakter verwandelt worden ist, auf eine Weise, wie sie besser kaum geschehen sein könnte.
Der Disneyfilm Rapunzel wirkt in vielem sehr modern, und so kommt leicht das Gefühl auf, dass er sich deutlich von seinem Ursprungsmaterial entfernt - aber wenn man sich die Verfilmung genauer anschaut, dann hätte man das Märchen kaum besser zu einem voll durchdachten Meisterwerk wandeln können. Nicht nur sind die Figuren voll entwickelt und die Geschichte durchdacht; im Gegensatz zu vielen generellen Bearbeitungen ist es in diesem Fall gelungen, die Grundgeschichte quasi im Original zu belassen und nur äußerlich zu erweitern. Damit stellt Rapunzel gerade im Hinblick auf seine lange Tradition ein Musterbeispiel dar für ein wunderbares Disneymärchen.