Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren Bücher, die speziell für Kinder geschrieben waren, noch lange nicht in dem Maße üblich, wie sie es heute sind; selbst Klassiker wie Alice im Wunderland richten sich mindestens ebenso sehr an ein erwachsenes wie an ein Kinderpublikum. Wahrscheinlich lässt sich somit erklären, wie Pinocchios Abenteuer von Carlo Collodi während seiner kapitelweisen Zeitungsveröffentlichung ein solcher Erfolg wurde, dass der Autor den Fortsetzungsroman erst dreimal so lang werden ließ wie eigentlich geplant, und noch vor Beendigung der Zeitungsveröffentlichung als ein gesamtes Buch herausbrachte.
Die Geschichte des Hampelmannes (oder je nach Lesart der Handpuppe beziehungsweise Marionette), der den Inbegriff eines ungezogenen, faulen und dummen Jungen darstellt und nur zum Menschen werden kann, wenn er bereit ist, brav und folgsam zu werden, ist mittlerweile längst Teil des allgemeinen Kulturgutes, und es ist vielleicht seit Äsops Fabeln die erste reine Moralitäten-Erzählung, der solch ein Ruhm zuteilwird. Wie um den Leser darauf vorzubereiten, betont Collodi vom ersten Satz an, dass es sich bei seinem Buch nicht um ein Märchen handelt, und so geschieht auch die „Erweckung“ der hölzernen Puppe im Buch ganz ohne Zauberei und beinahe ohne Verwunderung der Umstehenden. Pinocchio ist noch ein reines Holzscheit, da bemüht er sich schon, alle Menschen nach Möglichkeit zu ärgern, er beschimpft Geppetto und verletzt ihn körperlich, noch ehe der auch nur Gelegenheit hat, ihm ein Gesicht zu schnitzen.
Doch trotz aller Untugenden findet Pinocchio in dem Holzschnitzer einen liebenden Vater und erhält später in dem „schönen Mädchen mit dem blauen Haar“, die sich als Fee herausstellt, eine erstaunlich verzeihende Muttergestalt. Beide sind, wie die echten Elterngestalten, die sie vertreten, die gesamte Geschichte über immer wieder bereit, Pinocchio zu vergeben und ihm eine neue Chance zu geben, ein „braver Junge“ zu werden - auch wenn das dem Buch zufolge wohl ausschließlich darin besteht, fleißig zu sein und seinen Eltern aufs Wort zu gehorchen. In der Tat wird während der ganzen Erzählung kein Unterschied gemacht, ob Pinocchio nun aus Bosheit, handelt, aus Dummheit, oder schlicht aus naiver Gutgläubigkeit. Ob er aus Eigennutz und Faulheit den Wagen ins Faulenzerland besteigt, oder ob er Fuchs und Katze zu sehr vertraut, weil er mit deren Hilfe Geld für seinen armen Vater verdienen möchte, ist für die Moral des Buches egal - wichtig ist, dass Pinocchio etwas tut, was er nicht hätte tun sollen.
Gleichzeitig wird diese Pädagogik meist mit drakonischen Strafmaßnahmen verbunden, wie wenn die Fee ihn eine Nacht über an einen Baum aufgeknüpft lässt, ehe sie Erbarmen zeigt und den halbtoten Hampelmann in ihr Haus bringen lässt. Dort droht sie ihm mit dem Tod, wenn er seine Medizin nicht schlucken will und wendet sich mit äußerst subtilen Botschaften an die Leserschar selbst: „Schämt euch! Ihr dummen Kinder solltet bedenken, dass eine bittere Medizin, rechtzeitig eingenommen, euch vor schwerer Krankheit und vielleicht sogar vor dem Sterben bewahren kann.“
Dieses Erhängtwerden sollte ursprünglich sogar das düstere Ende der Geschichte darstellen, doch auf die großen Nachfragen seiner Leserschaft, ließ Collodi das Buch noch auf das Dreifache der ursprünglichen Länge anwachsen, eine Erweiterung, die dank der extrem episodenhaften Natur des Romans keine größeren Auswirkungen auf den Spannungsbogen der Geschichte hat.
Insgesamt besteht das Buch aus einer einzigen langen Odyssee, in der Pinocchio von einem Abenteuer - oder einer Ungezogenheit - in die nächste rutscht, sich zwischendurch immer wieder redlich bemüht, ein guter Junge zu sein, nur um immer wieder den Verlockungen zu erliegen. Währenddessen begegnen Pinocchio (und dem kindlichen Leser) auf seinem Weg allerhand simple Moral-Hilfen, wie der Rat der Sprechenden Grille, die Pinocchio allerdings ohne großes Federlesen tötet und das negative Gegenstück der Versuchung in Gestalt von Fuchs und Katze. Die gesamte Zeit über ist keine wirkliche Entwicklung zu spüren, bis Pinocchio schließlich am Ende, nach seiner Flucht aus dem Rachen des Großen Hais, lange genug folgsam und unversucht bleibt, dass er seine Belohnung in Gestalt der Verwandlung zum richtigen Jungen erhält.
Als sich Walt Disney der Geschichte annahm, die 1940 als zweiter Zeichentrick-Langfilm des Studios herauskommen sollte, sah er sich in dem Buch mit einem völlig anderen Grundproblem beschäftigt als im Fall von Schneewittchen. Das Rohmaterial war hier kein kurzes Märchen, das frei nacherzählt und dabei nach Gutdünken ausgewalzt werden konnte, sondern ein kompletter Roman, der an sich schon vor teilweise unzusammenhängenden Einzelepisoden strotzt. Doch mit dieser Fülle an Ausgangsmaterial kam auch die Freiheit, sich aus dem Buch herauszusuchen, was am besten in das Konzept des Filmes passte - und auch, den Inhalt der Geschichte zu verändern, wo es nötig schien.
So ist einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Buch und Film von Anfang an das Wesen von Pinocchios Charakter. Disney selbst beschloss, Collodis grausames Lehrstück vorsichtig zu „modernisieren“; Pinocchio sollte nicht mehr ein bösartiger, dummer Junge sein, stattdessen wurden seine Untugenden hauptsächlich auf die reine Naivität eines gerade erst geschaffenen Wesens reduziert. Die Puppe stolpert meist ohne wirkliche eigene Verschuldung von einem Problem ins nächste und wird damit erstmals zu einer wirklich sympathischen und liebenswerten Hauptfigur - wenn dadurch auch naturgemäß die eigentliche Aussage des Buches einigermaßen untergraben wird.
Auf der gleichen Linie liegt die Einführung von Jiminy Grille als Pinocchios Gewissen: Statt seines ursprünglichen kurzen Auftrittes und der späteren Rückkehr als Geist stellt die Figur hier den ersten Disney-Sidekick dar. Er dient als Ansprechpartner für Pinocchio und nicht zuletzt auch als Sprachrohr an das Publikum, vielleicht auch um dem Zuschauer wirklich deutlich zu machen, wann der arme hölzerne Kerl schon wieder etwas falsch gemacht hat.
Auch die Rolle der Blauen Fee ist im Film erheblich abgewandelt, angefangen wohl mit dem Verzicht auf das blaue Haar, dass im Buch ihr einziges Erkennungsmerkmal darzustellen scheint.
Statt einer Zufallsbekanntschaft, die Pinocchio in seiner Not zuerst mit der Begründung abweist, sie selbst sei tot, aber dann von einem Moment auf den anderen als unerwartet reale Mutterfigur fungiert, ist die Fee im Disneyfilm als Erschafferin der lebendigen Puppe von Anfang an in seinen Werdegang involviert. Auch die in Aussicht gestellte Verwandlung zu Mensch, die im Buch nur ein späterer Nachgedanke ist, wird hier sofort als zu erreichendes Ziel dargestellt.
In ihren Handlungen selbst zeigt sich Disneys Blaue Fee sehr viel ätherischer als ihr literarisches Vorbild; sie erscheint als echte Zaubergewalt, die nur in wenigen Notsituationen erscheint und Pinocchio hilft. Im Buch ist sie ein sehr reelles Mädchen (beziehungsweise später Frau), deren hauptmagische Eigenschaft darin besteht, über die Tiere zu verfügen und Pinocchio am Ende in einen echten Jungen zu verwandeln.
Ansonsten sind die Änderungen in den Abenteuern selbst eher minimal; sie dienen vor allem dazu, aus der oft unzusammenhängenden Episodengeschichte eine kohärente Erzählung mit geschlossenem Spannungsbogen zu machen. Dabei ist bemerkenswert, dass der Film, so düster er auch geworden ist, doch im Allgemeinen die dunklen Stellen des Buches noch erheblich abschwächt.
In der Originalerzählung wird Pinocchio vom Puppenmeister Feuerspeier beinahe verbrannt, Fuchs und Katze wollen ihn erdolchen und schließlich erhängen, nachdem er der Katze die Pfote abgebissen hat, Pinocchio findet als „Denkzettel“ für seinen Ungehorsam bei seiner Rückkehr nur noch den Grabstein der Fee vor, er wird als Esel verkauft und als solcher um seines Fells wegen beinahe ertränkt.
Dagegen ist der Schrecken des Films um einiges subtiler aufgebaut. In der Disney-Adaption geht es weniger um rein physischen Horror, stattdessen wird eine durchgehend bedrohliche Atmosphäre geschaffen, die vor allem aus der Bildgewalt einer düsteren Umgebung lebt, die den hilflosen Pinocchio immer wieder feindlich zu umschließen droht. Und auch die plakativeren unheimlichen Szenen, wie die Fratze des Kutschers und Lampwicks Verwandlung, berühren den Zuschauer eher auf psychologische Weise, ohne in ihrem Schrecken dabei hinter den brutalen Szenen des Buches zurückzustecken.
Doch der Hauptunterschied zwischen Buch und Film liegt mit Sicherheit in ihrer gesamten Aussage, wie man unschwer erkennen kann, schaut man sich nur die jeweils letzte Zeile der Werke an. Der Zeichentrickfilm endet, wie er begonnen hat, mit dem Lied „Wenn ein Stern in finstrer Nacht“, auf der Zeile „Schau zum Himmel, und es werden Träume wahr“.
Dieses Lied ist nicht umsonst mittlerweile zur unbestrittenen Hymne des Disney-Gebildes überhaupt geworden. Es ist die - oft als kitschig oder eskapistisch verschriene - Grundeinstellung, dass die richtige, vertrauensvolle Geisteshaltung, verknüpft mit genügend eigenem Engagement, dabei hilft, jedes Ziel zu erreichen und jeden Wunsch wahr werden zu lassen.
Dieser Idee, wie sie märchenhafter nicht sein könnte, stehen im Buch Pinocchios höchst pragmatische Schlussworte gegenüber: „Wie dumm von mir, dass ich so lange ein Hampelmann gewesen bin! Nun aber will ich ein braver Junge bleiben, und ich kann allen unartigen Kindern nur raten, sich ein Beispiel an mir zu nehmen!“
Damit ist der Film gleichzeitig das erste und vielleicht krasseste Beispiel der berüchtigten „Disneyfikation“; ein hartes Lehrstück wird in der Adaption zu einem eher sentimentalen Märchen umgearbeitet - obwohl das Buch betont, dass es gerade kein Märchen sein möchte. Aber gleichzeitig erscheint dies als ein seltsamer Vorwurf, bedenkt man, dass Pinocchio allgemein als der düsterste Disneyfilm überhaupt bezeichnet wird.
Die Erklärung liegt ganz einfach in der jeweiligen Betonung: Statt einer Lehrfabel mit plakativem pädagogischem Zweck hat Disney einen atmosphärischen Horror-Film für Kinder geschaffen und dabei auf geschickte Weise sämtliche Eckpunkte des Originals mit einfließen lassen. In den beiden Werken bestehen nun trotz aller Ähnlichkeiten zwei im Inneren völlig unterschiedliche Geschichten, und ob dem Zuschauer Disneys Adaption gefällt oder nicht, liegt hauptsächlich an der Frage, welche der beiden Version ihm näher liegt. Freunde des Buches werden den Film womöglich kitschig finden, aber der Zuschauer, dem mehr an atmosphärischem Schauder und gleichzeitig sympathischen Figuren liegt, als an einer Strafpredigt für ungezogene Kinder, wird froh sein, dass Disneys Pinocchio so geworden ist, wie er ist.
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