Walt am Set von The Reluctant Dragon (Quelle: Disney History)
Mit Frankenweenie startete in Deutschland kürzlich der jüngste Vertreter einer raren, wenngleich nicht zu verachtenden Gattung: Die Gattung der animierten Disney-Filme, die nicht zum so genannten "Meisterwerke"-Kanon der Walt Disney Animation Studios zählen. Dass einem Film, der stolz den Disney-Markennamen trägt, der Einzug in diese ehrenwerte Liste verwehrt wird, kann aus vielerlei Gründen geschehen. Die einfachste Erklärung lautet: Er stammt schlicht aus dem falschen Studio. In manchen Fällen ist die Urteilsfindung jedoch ungleich verzwickter. Und wenn dann auch noch irgendwelche Marketing-Genies versuchen, Videokassetten oder DVDs loszuschlagen, kann der unbedarfte Verbraucher schnell den Überblick verlieren ...
Die Kerndefiniton eines "Walt Disney Meisterwerks" oder "Walt Disney Animated Classics" ist leicht zu begreifen und tief in der Konzerngeschichte Disneys verwurzelt: Als der Disney-Konzern noch an vorderster Stelle aus einem kleinen Cartoon-Studio namens Walt Disney Productions bestand, waren die dort entstehenden Werke in Kurzfilme und Langfilme einzuteilen. Die Langfilme, also Schneewittchen und die sieben Zwerge, Pinocchio und Fantasia, begründeten die Tradition des animierten Klassikers, die Walt Disney im Fahrwasser des Erfolges von seinem vorab als Flop abgestempelten Märchenfilms von 1937 voller Tatendrang zweimal jährlich fortzusetzen versprach. Bekanntlich gelang Walt Disney dies nur 1940. Zu aufwändig war die Produktion eines abendfüllenden Zeichentrickfilms, zu perfektionistisch der Studioboss und alle Strippen in der Hand haltende Produzent, als dass es jährlich möglich gewesen wäre. Hinzu kamen die durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Finanzprobleme des visionären Unternehmens sowie ein sich am Horizont abzeichnender Mitarbeiterstreik.
Um den erschwerten Rahmenbedingungen zum Trotz sein Studio am Laufen zu halten, nahm Walt Disney von seinen fast megalomanischen künstlerischen Bestrebungen Abstand und öffnete sich der Vorstellung von weniger aufwändigen Langfilmen mit simplerer Optik (wie Dumbo) und von Produktionen mit abendfüllender Laufzeit, die aus mehreren lose zusammengehaltenen Kurzsegmenten bestehen. Die erste dieser Kompilationen diente zudem, das öffentliche Interesse am Tagewerk hinter den Pforten zum Disney-Studio zu bedienen: The Reluctant Dragon verband Kenneth Grahames Geschichte eines Drachen wider Willen, die Story eines überintelligenten Babys sowie die Geburtsstunde von Goofys How to ...-Reihe dank einer Rahmenerzählung, in der Radiogröße Robert Benchley eine (durch und durch geskriptete und gestellte) Tour durch die Arbeitsabteilungen Disneys erhält, zu einem filmischen Gesamtpaket.
Rund 40 der 74 Minuten Laufzeit sind animiert, dennoch verzichtete man darauf, den für 600.000 Dollar innerhalb von knapp sechs Wochen runterproduzierten Film als Walts großen neuen Kinoklassiker zu bewerben. Auch mit etwas Abstand blieb diese filmische Notlösung, für die Fox-Vertragsregisseur Alfred Werker herbeigeholt wurde um die Realfilmsequenzen zu drehen, ein schwarzes Schaf in der disneyschen Filmfamilie: Im Gegensatz zu den meisten anderen Langfilmen erfuhr The Reluctant Dragon keine Wiederaufführung im Kino und die Heimkino-Auswertungen.
Bereits im Jahre 1942 fand eine weitere von gezeichneten Kurzfilmen unterbrochene Realfilmtour den Weg in die Kinos: Saludos Amigos, das erste Produkt von Disneys "Good Will Tour" nach Lateinamerika, wurde jedoch auf Postern als Walt Disneys neuster (und heiterster) Langfilm gepriesen. Dass der 42-minütige Reisefilm zum "Meisterwerk" befördert wurde, während die Führung durch das Disney-Studio in der Filmographie des Konzerns unter "Sonstiges" landete, erhielt niemals eine offizielle Erklärung. Plausibel erscheint, dass in Saludos Amigos das Filmmaterial von der Reise der Disney-Künstler bloß einen Rahmen darstellt, in The Reluctant Dragon ist Benchleys Besichtigung des Disney-Geländes derweil ihre eigene Storyline für sich und sogar, je nach Sichtweise, das Hauptverkaufsargument des Films.
Einer der sonderbarsten, gleichfalls auch wichtigsten, Disney-Filme startete 1943: Die Dokumentation Victory Through Air Power, ein Passionsprojekt Walt Disneys, fasste die Geschichte der Fliegerei im Allgemeinen und des Luftkampfes im Speziellen zusammen, um abschließend auf Basis der Argumentation des Luftfahrtingenierus Alexander P. de Seversky eine Fürsprache für den Einsatz von Langstreckenflugzeugen im Kampf gegen die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg zu halten. Dass diese Produktion trotz ihrer animierten Sequenzen nicht in den Kanon aufgenommen wurde, sollte sich selbst erklären – der Film hat keine unterhaltende Narrative, sondern ist ein abendfüllendes Pendant zu Disneys Informationsfilmen, Zeichentrick diente nur zur Auflockerung und Veranschaulichung.
Ab 1946 expandierten die Disney-Studios allmählich in den Realfilmsektor. Der erste, primär eine mit realen Darstellern gefilmte erzählende Film aus dem Mäusestudio bezauberte aber zudem mit amüsanten Geschichten, die ihre Titelfigur erzählte und sich als Tricksegmente vor den Augen der Zuschauer ausbreiteten. Onkel Remus' Wunderland ist dennoch nicht mit Saludos Amigos oder Drei Caballeros zu vergleichen, die sich im Kanon befinden: Füllte in ersterem Reisefilmmaterial die Zeit zwischen den Cartoons und flogen im zweitgenannten Film Donald und seine Freunde zwischenzeitlich in reale Gegenden, so legt Onkel Remus' Wunderland sein Hauptaugenmerk auf die Geschichte eines sich einsam fühlenden Jungen, der sich mit einem weisen und humorvollen Märchenonkel anfreundet. Die Trickelemente sind inhaltlich die Stützen für die Beziehung zwischen den Hauptfiguren, nicht aber das Hauptelement. Selbst wenn die Rezeption den Fokus verschob.
Noch weiter traten die Zeichentrickelemente in Ein Champion zum Verlieben in den Hintergrund, wo eine kurze Fantasiesequenz fast schon alibimäßig daherkommt: Es ist eine Disney-Produktion, es muss was gezeichnetes über die Leinwand hüpfen! Künstlerisch weitaus fallen da schon die gezeichneten Elemente des fantastischen Musicals Mary Poppins ins Gewicht, die keine Selbstgefälligkeiten sind, sondern dazu dienen, die Figuren für eine Sequenz lang in eine Fantasiewelt abtauchen zu lassen. Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett kopierte diese Formel nach Walt Disneys Ableben und wurde zwischenzeitlich auf Kinoveröffentlichungen, genauso wie Mary Poppins, aus Marketinggründen bei Heimkinoveröffentlichungen als "Walt Disney Meisterwerk" beworben, obwohl die Leute aus den Disney-Trickstudios nur einen kleinen Teil zu ihnen beisteuerten. Ein aus heutiger Sicht besonders interessanter Fall ist das Musical Elliot, das Schmunzelmonster. Während Disneys andere Familien-Mischmusicals selbst heute möglicherweise mit Zeichentrickelementen berücken wollen würden, stellt sich die Frage, ob heutzutage weiterhin ein Zeichentrickdrache oder vielleicht doch ein fotorealistischer CG-Drache in Elliot, das Schmunzelmonster vorkäme. Sind die Trickfiguren in Mary Poppins auch für Mary Poppins, Bert und die Banks-Kinder Teil einer kunterbunten, künstlichen Welt, so bleibt bei Elliot die Frage offen, ob er als Trickfigur oder als lebensecht aussehender Drache wahrgenommen wird.
Ein weiterer Mischfilm, und bislang der letzte aus dem Disney-Konzern, der intensive Interaktionen zwischen gezeichneten Figuren und realen Darstellern beinhaltet, ist natürlich der Megahit Falsches Spiel mit Roger Rabbit von 1988. Anders als Mary Poppins entging diese Kriminalgeschichte stets einer falschen Kategorisierung als "Walt Disney Meisterwerk", da Disney die kokette Spielerei mit Trickfilmgesetzen und Film-noir-Konventionen aufgrund ihres teils brisanten Humors als Film seiner Touchstone-Pictures-Marke veröffentlichte. Außerdem fand die Produktion auf Wunsch von Richard Williams, dem Regisseur der Trickelemente, nicht in Burbank statt, sondern in einem Londoner Studio (auch wenn viele Disney-Talente dafür nach England geflogen wurden – das Ziel war allein, die Bürokratie des Mäusekonzerns loszuwerden).
Nachdem Roger Rabbit und Arielle, die Meerjungfrau das Zeichentrickmedium neu belebten, sprangen nicht nur zahlreiche andere Studios auf den Zug auf, auch Disney expandierte. Die Frequenz der Meisterwerke wurde erhöht und darüber hinaus gründete der Konzern weitere Studios, um Animationsfilme abseits seines geschätzten Kanons zu veröffentlichen. Und somit öffnet sich ein völlig neues Kapitel im Buch der Disney-Filme, die trotz Animation nicht als Meisterwerk eingeordnet werden ...
Im September 1989 erwarb Disney das französische Trickstudio Brizzi Films, um es zu Walt Disney Animation France, S.A. aufzubauen. Das Studio wurde mit der Produktion vereinzelter Episoden diverser Disney-Trickserien beauftragt und war auch federführend in der Produktion von DuckTales: Der Film – Jäger der verlorenen Lampe, bei dem es auch von der Arbeitskraft der Walt Disney Television Animation Australia unterstützt wurde. Das Entenabenteuer blieb hinter seinen finanziellen Erwartungen zurück, dennoch folgte ein weiterer Kinofilm, der auf einer TV-Serie basiert. Die 1995 veröffentlichte Vater-Sohn-Geschichte Der Goofy Film jedoch wurde nicht gänzlich den internationalen Disney-Dependences überlassen. Stattdessen fand sämtliche Vorproduktionsarbeit in den Disney-Hauptstudios in Burbank statt, deren Arbeiten als Meisterwerke gelistet werden, erst dann ging das Material nach Frankreich, wo der Löwenanteil animiert wurde. Einzelne Szenen wurden außerdem in Australien bearbeitet, das Clean-Up hingegen war wieder die Aufgabe der Studios in Burbank.
Und nun dürfen die Debatten beginnen: Während der australische Disney-Ableger zu den DisneyToon Studios wurde, die sich auf für den Videomarkt gedachten Fortsetzungen von Disney-Meisterwerken spezialisierten, taufte Disney das französische Studio in Walt Disney Feature Animation Paris um, das sich an den meisten der Disney-Meisterwerken der restlichen 90er und frühen 00er beteiligte. Wieso also fand Der Goofy Film nicht Einzug in den Meisterwerke-Kanon, zumal ein ganz anderer Film retrospektiv zur Liste hinzugefügt wurde?
Die Rede ist von Dinosaurier, Disneys technisch ambitionierter, inhaltlich lauwarmer Verschmelzung von realen Hintergründen und computeranimierten Dinosauriern, die so realistisch aussehen, wie es Ende der 90er mit allen Mitteln der Computertechnologie möglich war. Und so weit sprechende Dinosaurier halt realistisch aussehen können ... Erschaffen wurde der Film von einem speziell zusammengesetzten Team aus Effektkünstlern von DreamQuestImages, einer in den 90ern führenden Effektfirma, die in Sachen Ansehen branchenintern knapp hinter Industrial Light & Magic folgte und 1996 von Disney gekauft wurde, sowie der Computereffektspezialisten von Walt Disney Feature Animation. Letztere wurden zwecks dieser Großproduktion von ihrem alten Arbeitsplatz weggezerrt, um gemeinsam mit den DreamQuestImages-Schaffenden ein neues Studio zu gründen: The Secret Lab!
Dieser jüngste Zuwachs zur ständig wachsenden Familie der Disney-Tochterfirmen litt aber unter massiver Fehlkalkulation seitens der Konzernführung. Die Firmenbosse waren überzeugt, dass Dinosaurier ein gigantischer Hit wird, so dass von 2000 bis 2002 für The Secret Lab eine riesige Lücke im Arbeitsplan gelassen wurde, um eine Fortsetzung des Dino-Films zu verwirklichen. Dazu war die Publikumsrezeption allerdings zu lauwarm und das Effektstudio tat sich auch schwer, andere Aufträge zu erhaschen, weshalb bereits im Oktober 2001 die Schließung des Secret Lab verkündet wurde.
Disney-Fans diskutierten in den Jahren nach dem Dinosaurier-Kinostart, ob der Film in den Kanon gehört oder ob er ein schwarzes Schaf wie The Reluctant Dragon darstellt. Die deutschen Heimkinoveröffentlichungen etwa sparten sich den "Meisterwerk"-Aufdruck, während selbst reine DisneyToon-Studios-Produktionen wie Das Dschungelbuch 2 zur Verbesserung der Verkaufszahlen einfach Mal zu Meisterwerken befördert wurden. Wenige Monate vor dem Kinostart von Rapunzel wurde Dinosaurier allerdings in die offizielle Liste sämtlicher Produktionen der Walt Disney Animation Studios (ehemals Walt Disney Feature Animation ehemals Walt Disney Productions) aufgenommen, wodurch Rapunzel den Titel des 50. Meisterwerks sicher hatte.
Abseits der Filme, die vom "richtigen" Studio produziert wurden, aber zu viel Realfilmmomente beinhalten, und jenen, die vom richtigen Studio unter zu großer (oder eben doch nicht zu großer) Unterstützung anderer Studios verwirklicht wurden, gibt es zu guter Letzt jene, die keine relevante Verbindung zum zentralen Disney-Animationshaus haben. Über Pixar-Filme etwa muss man wohl nicht weiter sprechen, das Studio mit der süßen Lampe im Logo ist längst bekannt genug: Pixar hatte ursprünglich einen Vertriebs- und Finanzierungsdeal mit Disney, kreativ hatte Disney jedoch nur eine beratende Funktion für das unabhängige Studio. 2006 kaufte Disney dann Pixar auf, strukturell bleibt Pixar dennoch eine eigene Entität.
Künstlerisch deutlich hinter Pixar zurück liegen derweil die DisneyToon Studios, die trotz vereinzelter Versuche, Qualität abzuliefern, schlicht kaum mehr sind als der verlängerte Arm der Merchandising-Abteilung. Generell produzieren die Studios für den Heimkinomarkt, ab und an erhalten Produktionen wie Peter Pan 2 oder TinkerBell: Das Geheimnis der Feenflügel aber größere Kinoauswertungen, weil irgendwelche Verantwortlichen im Disney-Konzern die Qualität als hoch genug für einen Kinostart halten. Oder Disney einen schnellen Dollar braucht.
Und dann wären da noch die animierten Filme, die von anderen Künstlern speziell für Disney erstellt wurden. Darunter fallen alle Stop-Motion-Projekte, da die Disney-Trickstudios diese mühevoll zu erlernende Kunst nicht zu ihren Fähigkeiten zählen. Deshalb versammelten Henry Selick und Tim Burton für Nightmare before Christmas und Frankenweenie Fachmänner und -frauen auf diesem Gebiet um sich. Auch Robert Zemeckis' Eine Weihnachtsgeschichte und Milo und Mars waren Projekte, die von Pionieren auf einem Animationsgebiet für Disney produziert wurden. Verwünscht wiederum entstand zu einer Zeit, als die Walt Disney Animation Studios ein reines Computeranimationshaus darstellten, weswegen die Zeichentricksequenzen in die James Baxter Studios ausgelagert wurden.
Abschließend sind noch die Filme zu nennen, die Disney lediglich vertreibt. Die britische Animationskomödie Valiant über Tauben, die im Zweiten Weltkrieg ihren Dienst leisteten, war ursprünglich kein Disney-Projekt, aber das Mäusestudio übernahm den US-Verleih. Auch sämtliche Produktionen von Studio Ghibli finden ihren US-Vertrieb durch den Disney-Konzern, einst via Miramax, nun über Disney selbst.
Dann wäre da noch einer der am meisten verachteten Filme, die den Disney-Namen tragen: Tierisch wild. Produziert von C.O.R.E. Feature Animation sollte dieser Film von 2006 Disney eine neue, fruchtbare Partnerschaft sichern. Der Film entstand, als das Verhältnis zwischen Disney und Pixar sehr gestresst war und die Disney-Bosse sich nach einem Ersatz umsahen. Ähnlich wie bei Pixar hatte Tierisch wild Disneys volle PR-Power hinter sich, der Konzern sicherte sich sämtliche vorstellbaren Rechte am Film und unterstützte das Projekt auch finanziell. Trotzdem ist Tierisch wild bloß so sehr Disney, wie es auch Toy Story ist. Da diese wilde Komödie enorm floppte und Disney die Idee, C.O.R.E. zum neuen Pixar aufzubauen, mangels Qualität (oder Notwendigkeit) aufgab, machten sich die C.O.R.E.-Leute keinen Namen wie es Pixar gelang.
Solche kleine Wunderfabriken wie Disney oder Pixar entstehen nunmal nicht auf Befehl. Bestimmen lassen sich nur die Definitionen, mit denen deren Produktionen eingeteilt werden. Und wie man sieht ist selbst dies einfacher gesagt als getan.
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