Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Die Frau, die unter ihrem Spitznamen Pocahontas (was so viel bedeutet wie „Kleiner Übermut“) in die Geschichte einging, wurde etwa im Jahre 1595 als Matoaka, Tochter des Häuptlings Powhatan und einer seiner vielen Frauen geboren.
Von ihrer denkwürdigen Begegnung mit Kapitän John Smith, der 1607 mit den amerikanischen Siedlern in Virginia ankam, erzählen nur seine eigenen Berichte und vor allem ein Brief, den er viele Jahre später an Königin Anne richtete. Darin beschreibt er ausführlich, wie er von den Indianern gefangen genommen wurde und von Powhatan selbst durch einen schweren Prügel hingerichtet werden sollte, als sich dessen Lieblingstochter Pocahontas im letzten Moment schützend über ihn legte und ihm somit das Leben rettete.
Heute gilt es als unklar, ob diese Episode wirklich in dieser Art stattgefunden hat, oder ob Smith übertrieb, um das Ansehen der indianischen Prinzessin in London zu heben. Dagegen spricht vor allem, dass Smith in früheren Berichten zwar auch von Pocahontas spricht, doch nirgendwo seine Rettung erwähnt. Eine andere Interpretation ist, dass es sich bei der Szene um einen indianischen Initiationsritus handelte, den Smith - absichtlich oder in der späteren Darstellung - falsch verstanden hat.
Fest steht, dass Pocahontas, die zu dieser Zeit zwölf Jahre alt war, zwar kaum irgendwelche romantischen Bindungen zu dem Engländer hatte, aber dennoch auf freundlichem Fuß mit Smith und den anderen Bewohnern von Jamestown stand. Sie besuchte die Siedlung oft und half zu Notzeiten mit Nahrungsmitteln aus, bis John Smith 1609 wegen einer Verletzung zurück nach England gebracht werden musste, woraufhin Pocahontas von seinem angeblichen Tod erfuhr.
In ihrer späteren Geschichte heiratete Pocahontas einen Krieger namens Kocoum, ehe sie 1613 von weißen Siedlern gefangen und einige Monate als Geisel festgehalten wurde (was nach indianischer Sitte ihre Verbindung wohl aufhob). Sie trat während dieser Zeit zum Christentum über und ließ sich auf den Namen Rebecca taufen. 1614 heiratete sie den Tabakpflanzer John Rolf und fuhr zwei Jahre später mit ihm und ihrem Sohn nach England, wo sie auch John Smith wiedertraf. In London wurde sie als indianische Prinzessin geehrt und als Musterbeispiel für die positive Rolle der amerikanischen Ureinwohner hochgehalten.
Über die vergangenen Jahrhunderte hinweg war Pocahontas einer steten Legendenbildung ausgesetzt, sie galt zu jeder Zeit als eine positive Sinnbildfigur für Frieden, Integration und das friedliche Zusammenleben zwischen den Völkern.
Als die Disneystudios 1995 Pocahontas‘ Leben als Inspiration für ihr 33. Meisterwerk wählten, hieß es, dies wäre der erste Disney-Zeichentrickfilm, der auf wahren Begebenheiten basiert; ein eigentlich als Prestige gemeintes Etikett, dass ihnen durch Kritiker- und Besuchermeinung in vieler Hinsicht zum Verhängnis wurde. Dabei war Disneys Pocahontas genauso wenig das erste Meisterwerk mit realen Vorbildern, wie es die erste Verarbeitung ihres Lebens war, in der sie und John Smith zu Liebenden umerklärt wurden - derartige Romantisierungen existieren bereits seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert.
Disneys Bericht über Pocahontas‘ Leben ist in vieler Hinsicht „politisch korrekter“ als die Realität, wie zum Beispiel dadurch, dass Pocahontas‘ Mutter nicht wie in Wirklichkeit nur eine unbekannte Indianerin ist, die dem Häuptling ein Kind schenkte, und dann fortgeschickt wurde. Generell kann man die Abwandlungen wohl allesamt als Mittel zum Zweck sehen, da der Film eine überlebensgroße Botschaft aussenden will, die die wahre Geschichte in dieser Klarheit naturgemäß nicht hat.
Die offensichtlichste Veränderung betrifft Pocahontas‘ Alter, indem sie von einem Kind zu einer jungen Frau erhoben wurde, die aber trotzdem einen betont kindlich-offenen Geist besitzt. Diese Verschiebung bildet nicht nur die Grundlage für die große Liebesgeschichte, sondern hilft auch, dem Film das innere Thema einer beidseitigen Entwicklungsgeschichte der beiden Hauptfiguren zu geben. Rein handlungs- beziehungsweise ästhetikorientiert sind auch kleinere Freiheiten wie die Bilder der Landschaft mit ihren Bergen und Klippen oder die Darstellung von John Ratcliffe - weder der Kapitän des Schiffes noch der erste Gouverneur von Jamestown - als typischem Bösewicht.
Einer der größten Steine des Anstoßes, wenn es um die realistische Darstellung der Ureinwohner geht, sind die eingeflochtenen Fantasy- oder Mystikelemente, wie sie sich in Pocahontas‘ Natureinstellung und vor allem ihrer Verbindung zu Großmutter Weide präsentieren. Auch hier lässt sich leicht sehen, dass diese Freiheiten gewählt wurden, um die positive Botschaft weiter herauszustreichen, die einerseits Pocahontas an John Smith und andererseits der Film an seine Zuschauer vermitteln will. Was seine Aussage in Bezug auf Frieden, Verständigung und die Liebe zur Natur angeht, ist Pocahontas wohl einer der ambitioniertesten und erwachsensten Disneyfilme - ob diese Aussage Entschuldigung genug für die weitreichenden künstlerischen Freiheiten ist, bleibt dabei Ansichtssache.
Doch der wichtigste Unterschied zwischen Disneys Version der Geschichte und der Realität ist sicherlich die eingefügte Liebesgeschichte, die den Dreh- und Angelpunkt des Filmes darstellt, denn wenn der Film wie gesagt auch nicht die erste romantische Darstellung von Pocahontas‘ und John Smiths Beziehung darstellt, so ist er heute doch die mit Abstand prägendste.
Betrachtet man den Film als Ganzes, so wird klar, dass diese Liebesgeschichte für die eigentliche Aussage prinzipiell gar nicht nötig ist. Eine enge Freundschaft zwischen den beiden - ob nun als gleichaltrige Erwachsene oder in ihrer realen Mann-Kind-Konstellation - hätte die Botschaft von Frieden und Verständigung genauso gut oder noch besser bildlich verbreiten können. Gerade die Rettungsszene könnte, richtig inszeniert, noch großartiger erscheinen, wenn Pocahontas bereit wäre, sich für den Frieden statt für ihre persönliche Liebe zu opfern.
Doch auch hier scheut der Film nicht zurück, die Realität zugunsten einer großen Romanze zu beugen, und sieht man das Ergebnis auf einer rein künstlerischen Ebene, so macht diese Liebesgeschichte zwischen Indianerin und Siedler sicherlich Sinn.
Bei der Betrachtung der zentralen Liebesgeschichte sollte man ein paar Worte zu dem zusätzlich eingefügten Lied „If I Never Knew You“ fallenlassen. Anders als die zusätzlichen Szenen in Die Schöne und das Biest und Der König der Löwen wurde diese Szene nicht extra für die DVD erstellt, sondern war von Anfang an Teil des Films. Genau wie „When Love Is Gone“ in der Muppets Weihnachtsgeschichte war es eine kurzfristige Entscheidung knapp vor Kinoveröffentlichung, das Liebeslied zu streichen, um die kleinen Kinder im Publikum nicht zu überfordern. Je nach künstlerischem Standpunkt kann also in beiden Fällen die längere Version des Filmes als die „originale“ Version bezeichnet werden.
Storytechnisch macht das Lied mit Sicherheit Sinn, denn wenn der Film sich schon derart auf die Liebesgeschichte fokussiert, so ist ein Liebeslied wohl nicht fehl am Platz - und die Nacht vor John Smiths Exekution, in der Pocahontas ihn besucht, um sich zu verabschieden, ist sicher die stärkste Szene, um die Gefühle der beiden musikalisch zu unterstreichen. Die anderen Lieder des Films sind fast durchgehend naturfokussiert und würden allesamt auch genauso gut ohne die Liebesgeschichte funktionieren. Somit wird musikalisch erst durch „If I Never Knew You“ ein wirklicher Schwerpunkt auf die starken Gefühle gelegt, die zwischen Pocahontas und John Smith bestehen.
Ein zusätzlicher Zweck, den das Lied erfüllt, ist die Unterstreichung der Entwicklung, die Pocahontas im Laufe des Films durchmacht. Welche Wirkung sie auf John Smiths Weltbild hat, wird im Verlauf der Geschichte mehr als deutlich, doch auch Pocahontas selbst macht durch ihn eine - wenn auch sehr viel subtilere - Veränderung durch: Von dem lebenslustigen, beinahe kindlichen Mädchen, das Kocoum ob seiner Ernsthaftigkeit belächelt, wird sie zu einer verantwortungsbewussten Frau, die am Ende ihr persönliches Glück für das Wohl ihres Volkes opfert. Auch in dieser Beziehung stellt die Nacht vor der geplanten Hinrichtung einen Wendepunkt dar, denn während des Liedes erst wird ausgesprochen, welche Wirkung John Smith und die Gefühle für ihn auf Pocahontas ausgeübt haben.
Es ist in diesem Fall eine schwierige Aufgabe, die Veränderungen zu bewerten, die der Disneyfilm an seiner „Vorlage“ vorgenommen hat. Im Gegensatz zu Buchadaptionen, bei denen gewöhnlich allen Änderungen Verständnis entgegengebracht wird, solange sie helfen, die Geschichte besser zu erzählen, wird den Filmemachern bei historischen Geschichten eine starke moralische Verantwortung gegenüber ihrem Ausgangsmaterial zugeschoben.
Natürlich ist es kaum jemals möglich, die Realität ohne jede Abwandlung zu einem gut durchdachten, künstlerischen Werk zu verarbeiten. Ich kann gut verstehen, dass Vorbehalte gegen den Film geäußert werden, weil er sich zu wenig an seinen eigentlichen Wurzeln orientiert, doch andererseits geschah es wohl gerade in diesem Fall wirklich in bester Absicht. Anders als in anderen Fällen, wo eine historische Begebenheit nur als entfernte Inspiration für ein thematisch weit entferntes Filmwerk dient, war das Ziel von Pocahontas eindeutig, die Aussage der originalen Geschichte nur weiter zu unterstreichen und jede der vielen Änderungen, die dabei vorgenommen wurden, steht im Sinne einer Botschaft, für die die reale Pocahontas seit ihren Lebzeiten zum Symbol geworden ist.
5 Kommentare:
Ich weiss bis heute noch nicht genau wie in den Film sehen soll, einerseits bietet er tolle bilder und songs...andereseits ist er aber auch wieder so klischiert das es teilweise fast weh tut
Wiedermal ein wunderbarer Beitrag!
Das "Zusatzlied" kannte ich noch gar nicht.. gefällt mir allerdings nicht wirklich, was primär an Smiths Singstimme liegt, die mir viel zu hoch erscheint ;)
Dass die Verfilmung inhaltlich vom Vorbild abweicht, finde ich absolut nicht schlimm.
Danke für den Artikel.
Wer sich eher literarisch/kulturhistorisch dem Thema annähern möchte,die Lektüre ist spannend...
http://www.perlentaucher.de/buch/klaus-theweleit/der-pocahontas-komplex.html
und auch die Rezension:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=4113
(wobei hier auch ganz kurz auf den Disney-Film eingegangen wird)
(Bücher wahrscheinlich nur noch in Bibliotheken..)
Wow danke der Text ist wirklich sehr hilfreich :) Ich schreibe meine Seminararbeit über die Veränderungen historischer Fakten über Pocahontas in Filmen und das hier ist eine echt gute Starthilfe :)
Freut mich, wenn es dir geholfen hat! ^.^
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