Samstag, 22. Dezember 2012

Die Quellen der Disneyfilme: Aladdin

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Das mittelöstliche Märchen Aladdin und die Wunderlampe ist heute eine der berühmtesten Geschichten aus den „Erzählungen aus 1001 Nacht“, und das, obwohl es kein eigentlicher Bestandteil dieser Geschichtensammlung ist. Aladdin wurde von dem französischen Übersetzer Antoine Galland hinzugefügt, der es Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von dem syrischen Geschichtenerzähler Youhenna Diab hörte.
Das Märchen spielt offiziell in China, wobei die Wahl dieses Landes zu rein exotischen Zwecken gedient haben dürfte. In der Erzählung selbst lässt von dem Sultan bis zu den Moscheen und religiösen Aussagen alles auf eine typisch islamische Umgebung des mittleren Ostens schließen. Dazu kommt, dass ein noch so hellhäutiger Afrikaner wohl größere Schwierigkeiten hätte, sich als der leibliche Oheim eines chinesischen Jungen auszugeben.
Aladdin (oder Alaeddin, was „Adel der Religion“ bedeutet) ist ein Sohn armer Eltern, der nach dem Tod seines Vaters die Zeit völlig ungebunden als Tunichtgut auf der Straße verbringt. Als er fünfzehn Jahre alt ist, begegnet ihm ein afrikanischer Zauberer, der sich als Bruder seines Vaters vorstellt und Aladdin benutzen will, um an die in einer abgelegenen Höhle versteckte Wunderlampe zu gelangen. Der Plan misslingt und Aladdin bleibt mit Lampe und den Taschen voller Edelsteine in der Höhle zurück, doch der Dschinn eines Ringes, den ihm der Zauberer gegeben hatte, hilft ihm zu entkommen, und nachdem er herausgefunden hat, dass auch die Lampe selbst einen noch mächtigeren Dschinn beherbergt, kann er die nächsten Jahre über mit seiner Mutter ohne weitere Geldsorgen leben. Dabei wird in der Erzählung betont, dass alleine dieser Reichtum genügt, auch Aladdins Umgang zu verbessern und ihn zu einem geachteten Mann zu machen.
Einige Jahre später gelingt es Aladdin, die Tochter des Sultans, Prinzessin Bedrulbudur („Mond der Monde“), heimlich zu beobachten und er drängt seine Mutter, in seinem Namen bei dem Sultan um ihre Hand anzuhalten. Dem Großwesir des Sultans gelingt es, den neuen Freier zugunsten seines eigenen Sohnes abzuwehren, doch die Hochzeitsnacht der beiden wird von Aladdin vereitelt, der seinen Dschinn schickt, um Bedrulbudur in sein eigenes Gemach kommen zu lassen. Dort verbringt er, ohne sie zu berühren, zweimal die Nacht mit ihr - eine Erfahrung, die für die Prinzessin selbst als grauenvoll dargestellt wird.
Schließlich zieht Aladdin mit einem großen Aufmarsch vor den Sultan, der ihm nun glücklich die Hand seiner Tochter schenkt, die dem prächtigen Freier nun auch selbst alles andere als abgeneigt ist. Jahre vergehen, in denen Aladdin als Ehemann der Prinzessin glücklich lebt, ehe sich der afrikanische Zauberer seiner wieder erinnert und nach China zurückkehrt. In Aladdins Abwesenheit stiehlt er die Lampe und lässt den Palast samt Prinzessin in seine Heimat versetzen, um sie selbst zu freien. Mit Hilfe des Ring-Dschinns verfolgt Aladdin ihn und Bedrulbudur verführt den Zauberer, um ihn im geeigneten Augenblick zu vergiften, ehe der Dschinn der Lampe sie alle wieder in die Heimat führt.
Nach diesem ziemlich eindeutigen Ende fügt sich noch eine Nacherzählung an, in der der Bruder des Zauberers auf Rache aus ist und sich als Frau verkleidet bei Aladdin einschleicht, doch der erfährt durch den Dschinn schnell von dem Verrat und tötet auch diesen Angreifer. Zum Schluss wird noch erwähnt, dass Aladdin schließlich an der Seite seiner Prinzessin zum Sultan aufsteigt.
Wie die meisten der Märchen aus Tausendundeiner Nacht lebt auch Aladdin und die Wunderlampe von einer sehr ausschweifenden Erzählweise; die Geschichte schlägt viele Haken und es gibt einige unzusammenhängende Nebenstränge. Beim Lesen dieser Märchen wird mehr als deutlich, dass das hauptsächliche Ziel nicht darin bestand, eine stringente Erzählung wiederzugeben, sondern viel mehr, den Zuhörer über lange Zeit hinweg zu unterhalten - ob nun den Sultan, der die Geschichten von Scheherazade hört, oder den Leser des Buches selbst.



Die Verfilmung des Märchens, die von Disney 1992 in die Kinos geschickt wurde, nimmt diese eher geruhsam erzählte Geschichte und macht daraus einen lauten, actionorientierten Abenteuerfilm, der sich - gerade für Disney-Verhältnisse - als ungewöhnlich moderne Adaption erweist.

Dabei ist der Film eigentlich erstaunlich originalgetreu, denn rein faktisch hangelt er sich genau an seinem Vorbild entlang. Natürlich gibt es einige Abweichungen, wie dass der Zauberer, der Großwesir und sein Sohn in Dschafar zu einem Bösewicht zusammengeführt wurden, was sich durch die Struktur der Geschichte auch anbietet; dazu ist die Erzählstruktur generell gerafft und am Ende wurde ein sehr viel dramatischeres Finale angefügt, das alle Stränge gemeinsam abschließt. Aladdins häusliches Umfeld wurde geändert und der Dschinn des Ringes, der Aladdin erst aus der Höhle rettet und nach dem Verlust der Lampe zu dem verschwundenen Palast bringt, ist nun ein fliegender Teppich.
Aber all das ist nicht der eigentliche Grund, der Aladdin zu einer ungewöhnlichen Märchenverfilmung macht. Die wahre Neuerung des Filmes kommt in Gestalt des Dschinnies, der als anachronistisches, lebensfrohes Ungetüm einen Großteil des allgemeinen Aufsehens für sich beansprucht. Dabei ist der erste Unterschied zu der Geschichte alleine die Tatsache, dass dem Lampengeist überhaupt eine eigene Persönlichkeit zugesprochen wird, denn auch wenn in einigen anderen der Erzählungen aus 1001 Nacht sehr wohl eigenständige Dschinns auftauchen, so sind die beiden in Aladdin und die Wunderlampe auftretenden Geschöpfe doch reine Befehlsempfänger.
In dem Zeichentrickfilm dagegen ist Dschinnie ein echter Freund, der noch stärker als Abu und der Teppich als Ansprechpartner für Aladdin dient. Vor allem er ist es, der die Grundlage für Aladdins Selbstzweifel bietet und so eine moralische Zwickmühle schafft, die in der Vorlage überhaupt nicht vorhanden ist.



In Geschichte fällt Aladdin buchstäblich alles, was er wünscht, in den Schoß, und gerade das stellt wohl einen großen Teil des Reizes dar. Aladdin ist zwar am Anfang noch unleidlich, doch es ist der Reichtum selbst, der ihm hilft, ein besserer Mensch zu werden - sobald er seine Schätze besitzt, hat er sie somit in den Augen der Zuhörer auch verdient.
Bei Disney ist diese Frage um einiges anders gelöst, denn gerade die unlautere Erhebung zum Prinzen bringt die moralischen Komplikationen erst mit sich. Aladdin ist von Anfang an würdig für sein Glück, das man ihm gerne gönnt; erst mit der Zeit stellen sich für den Zuschauer wie auch für Aladdin selbst leise Zweifel an der Rechtmäßigkeit all dessen ein.
Die Tatsache, dass er bei Disney nur über drei Wünsche verfügt, verstärkt diesen Konflikt noch weiter, denn dadurch wird die Bedeutung jeder einzelnen Entscheidung um ein Vielfaches größer, und zur gleichen Zeit steigt die Notwendigkeit, sich für diese Entscheidung zu rechtfertigen. Somit liegt trotz aller überbordenden Farbenvielfalt die eigentliche Funktion des Dschinnies in seiner Rolle als moralischer Fingerzeig.


Aber Aladdin und der Dschinnie sind nicht die einzigen Figuren, deren Charakter im Film neu definiert wird: Gerade für ein heutiges Publikum ist es wichtig, dass Aladdin all die Zeit einen überzeugenden Grund hat, für den es sich zu kämpfen lohnt.
Im Gegensatz zu der altertümlichen Erzählung, in der sich eine Prinzessin ausschließlich durch ihr Aussehen zu definieren hat, erhält Jasmin im Film nicht nur eine Persönlichkeit, sondern eine höchst eigenwillige dazu. Dadurch stellt sie neben dem Dschinnie die andere wichtige Angelfigur dar, an der sich Aladdins wahre Rechtschaffenheit erweisen muss. Der Kontrast zwischen Jasmin und ihrem Vorbild fällt besonders in der Frage nach dem geeigneten Heiratskandidaten auf, wo in der alten Geschichte gerade solch eine Art Kuhhandel betrieben wird, wie ihn Jasmin in aller Schärfe verurteilt.

Bedrulbudur hat vor ihrer Hochzeit keine Gelegenheit, ein Wort mit Aladdin zu wechseln, und es ist buchstäblich nur ihr Aussehen, in das er sich verliebt. Sie selbst ist von seinen ersten Avancen, als er sich ihr mit Hilfe der Lampe zeigt und ihre Hochzeitsnacht mit dem Wesirssohn verhindert, angewidert und entsetzt, und erst als Aladdin mit einem großen Aufzug vor ihr im Palast erscheint, ändert sich ihre Meinung blitzartig. Besonders in dieser Hinsicht wächst der Film wirklich über seine Vorlage hinaus und bietet in Jasmins Charakterisierung eine gerade gegenteilige Entwicklung: Sie verliebt sich schnell in den armen Straßenjungen, doch als Prinz muss Aladdin erst beweisen, dass er immer noch über die gleichen herausragenden Eigenschaften verfügt, wie zuvor.


Das Märchen Aladdin und die Wunderlampe hat - ob nun mehr oder weniger bewusst - keinerlei Moral; es will den Zuhörer unterhalten mit spannenden Abenteuern und ausschweifenden Beschreibungen eines Luxus und Glückes, das schon durch seine Darstellung als eindeutig positiv und wundervoll angesehen wird. Auch der Film scheut sich nicht, in seiner Optik offen zu protzen, aber hier handelt es sich eindeutig nicht um einen Selbstzweck. Die Hauptfigur wird nicht einfach zu einem vollkommenen Glückskind, mit dem man sich von ferne freut, sondern zu einer Identifikationsfigur, die in ihrer Entwicklung dem Zuschauer selbst etwas bieten kann.


Wenn man über die Quellen für Disneys Aladdin redet, sollte dabei der alte Hollywood-Klassiker The Thief of Bagdad auf keinen Fall vergessen werden. Dieser Film von 1940 mit seinen für seine Zeit spektakulären Spezialeffekten hat alleine dadurch das Bild der Arabischen Märchen bis heute maßgeblich geprägt. Es gibt kaum ein anderes Werk ähnlichen Umfelds, der von diesem Film nicht inspiriert ist - und im Falle von Aladdin geben es die Macher dankenswerterweise selbst zu: Der Disneyfilm borgt Namen, Kleidungsstile, Figuren und ganze Szenen auf eine Weise, dass man den ganzen Film als eine große Hommage bezeichnen könnte.
Ob es der böse Wesir Jaffar ist, der den Sultan um Hand der Tochter bittet und mit hübschen mechanischen Spielzeugen einlullt, die Prinzessin, die sich verkleidet um ihrem vorbestimmten Gatten zu entgehen und sich stattdessen in einen scheinbar armen Straßenköter verliebt oder der Held selbst, der begleitet wird von dem fähigen Dieb und Schlösserknacker Abu, der weiß, wie man am geschicktesten an frische Melonen kommen kann. Es gibt einen Dschinn, der drei Wünsche erfüllt und gerne frei wäre, einen fliegenden Teppich und natürlich eine abgelegene Höhle mit verborgenem Schatz in Gestalt eines riesigen roten Edelsteins.
Aladdin erweist seinem Vorgänger-Film die perfekte Referenz, ohne je Gefahr zu laufen, einfach abzukupfern. Das Zusammenspiel der verschiedenen Quellen funktioniert in diesem Fall wirklich wunderbar, und das liegt nicht zuletzt daran, dass The Thief of Bagdad selbst das Märchen Aladdin und die Wunderlampe als Quelle seiner Geschichte mitbenutzt.
Zu den vergleichbaren Parallelen zwischen Aladdin und The Thief and the Cobbler möchte ich mich dagegen weniger äußern; zu verworren und unübersichtlich scheint dafür die gegenseitige Produktionsentwicklung, als dass ein Außenstehender ein gerechtes Urteil fällen könnte.



Insgesamt besteht wohl ein großer Teil der Stärke des Films darin, dass es ihm gelingt, aus seinen Quellen grobe Handlungsumrisse und Szenerien zu übernehmen und zu etwas Neuartigem zusammenzufügen. Das, was Aladdin eigentlich ausmacht, die emotionale Handlung und das Zusammenspiel der Figuren, sind selbst entworfen und geben dem Film einen eigenen Charakter, der ihn unter anderen Adaptionen der Arabischen Erzählungen eindeutig herausstechen lässt.
Außerdem gelingt es Disney, der Geschichte eine Botschaft zu geben, ohne sie moralisch wirken zu lassen und man kann sagen, dass sich der Film nach heutigen Maßstäben weit über seine Vorlage hinausschwingt
.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für diesen tollen Artikel!
"Die Quellen der Disneyfilme" ist eine meiner Lieblingsrubriken, aus welcher ich immer wieder neue Informationen ziehen kann, die ich sehr interessant finde.
Bei mir im Regal steht "Tausenundeine Nacht" in 6 Bänden, doch bis zu "Aladin/Aladdin und die Wunderlampe" habe ich es nocht nicht geschafft...
Ich glaube, ich werde mich an dieses Werk/ diese Werke mal wieder herantasten. :D

Ananke hat gesagt…

Ja, sind schon einige Seiten ...
Ich habe die gesammelten Märchen einmal gelesen - dürfte an die 15 Jahre her sein. Ansonsten immer die ersten zehn oder zwanzig Geschichten, und eben Aladdin, Sindbad und Ali Baba. :)

Über das Lob freue ich natürlich sehr. Jetzt, wo ich langsam an das Ende der "interessanteren" Fälle komme, bin ich natürlich auch für jede Anfrage dankbar, welche Disneyfilme denn unbedingt noch betrachtet werden sollten ...

Der Mann ohne Namen hat gesagt…

Da mische ich mich gerne ein!
Wünsche aus dem Kanon:

Die Froschprinzessin / Küss den Frosch
Pinocchio
Hercules (mit extra Blick auf Superman & Rocky, vielleicht?)
(Die vielen Abenteuer von) Winnie Puuh

Sonstige Disneyfilme:
Mary Poppins (zum Start von Saving Mr. Banks?)
Onkel Remus' Wunderland
Die Schatzinsel
Ein toller Käfer
Elliot, das Schmunzelmonster
Inspektor Gadget (wieso nicht?)
In 80 Tagen um die Welt
Die Narnia-Filme

Könntet ihr nächstes Jahr zu Weihnachten vielleicht ein Special zu Disneys Adaptionen der Dickens-Weihnachtsgeschichte machen? Oder gibt es da Ärger bei der Aufteilung, wer welchen Film nimmt? Und wann gibt's neues von Kevin?

Ananke hat gesagt…

Ja, die vier Meisterwerke waren eh auf der Liste.
Was den Rest angeht, da hatte ich eigentlich vor, es bei reinen Zeichentrickfilmen zu belassen - obwohl gerade Mary Poppins natürlich ein dankbarer Kandidat wäre. Mal schauen, zumindest hab ich die Vorschläge gespeichert.

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