Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Die Abenteuer von Ichabod und Taddäus Kröte ist, was die Wahl der Geschichten angeht, ein gewisser Spezialfall. Es ist der letzten einer Reihe von Episodenfilmen, die das Disney-Studio in den vierziger Jahren herausbrachte, doch anders als die meisten dieser im Schatten der Kriegsjahre entstandenen Filme, deren Segmente oft mehr an die Inszenierung der Silly Symphonies erinnern, handelt es sich hier um nur zwei (dafür aber sehr unterschiedliche) Geschichten, die beide den Anspruch haben, auf einem Stück klassischer Weltliteratur zu beruhen: „Der Wind in den Weiden“ und „Die Legende von Sleepy Hollow“.
Daneben kann der Film wohl das eloquenteste Titellied überhaupt vorweisen - es handelt sich um nichts als die wiederholt gesungenen Namen der Hauptfiguren.
Kenneth Grahames 1908 geschriebenes Kinderbuch „The Wind in the Willows“ ist entstanden als eine Ansammlung von Ideen und Geschichten, die der Autor seinem Sohn erzählte. Entsprechend vielgestaltig ist auch der Inhalt, der sich größtenteils eher locker um die Abenteuer und Erlebnisse einiger am Fluss lebender Tiere schlingt, vor allem Ratte, Maulwurf, Dachs und natürlich Kröte.
Passend zu dem betont lyrischen Tonfall des Buches haben die Tiere hier keine eigenen Namen, auch wenn sie ansonsten stark anthopomorphisiert sind. Allerdings ist die Dynamik gerade zwischen Tier und Mensch eine eher undefinierte und es wirkt teilweise, als habe sich der Autor nicht entscheiden können, die Tiere als wirkliche Naturlebewesen oder als menschlich gleichgestellt darzustellen. Es gibt Tiere, die sich Haustiere halten, aber dies nur mit deren Einverständnis, sie benutzen Autos und Züge, essen Sardinen und Würstchen und unterhalten sich mit Menschen, aber gleichzeitig huschen Ratte und Maulwurf heimlich durch eine Stadt, bemüht, den Blicken der Bewohner ängstlich auszuweichen.
Die Kapitel des Buches lassen sich im Großen und Ganzen in zwei Teile einsortieren: die auf Ratte und Maulwurf konzentrierten Partien, die eher naturverbunden auf den Fluss und seine Umgebung eingehen, und Krötes eigene, sehr viel abenteuerlichere Geschichte. Das im Disneyfilm von Kröte so hochgeschätzte „Nowhere in Particular“ ist im Buch Teil eines sehr naturgebundenen Kapitels und bezeichnet den Ort des abendlichen Mondaufgangs.
Der Inhalt des Disneyfilms, beziehungsweise dessen erster Teil, konzentriert sich völlig auf die Geschichte von Taddäus Kröte und seinen hoffnungslosen Manien. Diese Fokusänderung, zu der sich der Film schon im Titel bekennt, ist weder verwunderlich noch neu; schon die erste Theater-Verarbeitung des Buches von 1929 war als „Toad of Toad Hall“ alleine auf diese Seite des Buches konzentriert. Dabei ist es interessant, zu überlegen, wie gerade ein ausführlicher Disneyfilm beide Aspekte der Geschichte gleichwertig behandelt hätte - etwa so, wie es erste Entwürfe vor Ausbruch des Krieges vorsahen. Vielleicht wäre die Kombination von Lyrik und Action eher nach dem Vorbild der anderen frühen Filme wie Bambi oder Dumbo ausgeschlagen.
Doch abgesehen von dieser Fokussierung ist der Inhalt des Buches einigermaßen getreu wiedergegeben. Die Geschichte erzählt von Krötes ewiger Besessenheit, die sich auf immer neue Ziele konzentriert, bis er durch den (fraglichen) Diebstahl eines Autos schließlich hinter Gittern landet. Durch die - angeblich sehr überzeugende - Verkleidung als altes Waschweib gelingt ihm die Flucht und nach einer langwierigen Verfolgungsjagd erreicht er seine Heimat, nur um festzustellen, dass sein ehrwürdiges Anwesen in der Zwischenzeit von einem Haufen Wiesel besetzt wurde. Gemeinsam mit seinen Freunden gelingt es, die widerrechtlichen Gäste zu vertreiben und Kröte zeigt sich endlich geläutert und von seiner Manie geheilt - zumindest fürs Erste.
Änderungen zwischen Buch und Film zeigen sich hier nicht so sehr in der eigentlichen Geschichte, als in der Charakterisierung und Betonung der verschiedenen Figuren. Der deutlichste faktische Unterschied ist ganz einfach der, dass Kröte im Buch das Auto sehr wohl gestohlen hat, auch wenn diese Tat zumindest moralisch niemanden groß zu kümmern scheint. Die Wiesel und Hermeline, die nichts mit der Diebstahl-Geschichte zu tun haben, nutzen einfach Krötes Abwesenheit, um sich in seinem Anwesen einzunisten und das Gesetz der Natur scheint hier eine sehr viel größere Rolle zu spielen als irgendeine menschliche Rechtsprechung.
Vor allem Ratte und Maulwurf haben im Buch sehr viel mehr Charakter und stellen nicht nur die langweiligen Spielverderber für Krötes Ideen dar. Sie sind sofort bereit, ihm in jeder Situation beizustehen - und erhalten dafür mehr als genug Gelegenheit, denn im Buch hat Kröte auch vor seiner Automobil-Besessenheit jede Menge Unfug anzustellen. Damit wird zum einen Kröte selbst in seiner Angeberei und Rücksichtslosigkeit sehr viel unausstehlicher, zum anderen wird klarer, dass Ratte und Maulwurf ihrem Freund in jeder Lage nur helfen wollen.
Im Gegensatz dazu sind Ratte, Maulwurf und Dachs im Film drei reine Klischee-Gestalten, die sich in Krötes Angelegenheiten nur einmischen, um das Statussymbol Toad Hall vor der Veräußerung zu retten. Ratte erweist sich für seinen „Freund“ im entsprechenden Augenblick sogar als unbarmherziger Verräter, der ihn ohne zu zögern der Polizei ausliefern würde.
Taddäus Kröte dagegen ist lustig und scheint im Allgemeinen niemandem zu schaden. Die ganze Geschichte spinnt sich darum, dass er nichts Ungesetzliches getan hat und folglich stellt seine ganze Verurteilung eine himmelschreiende Ungerechtigkeit dar.
Zum einen macht diese Verschiebung den Film moralischer: Es wird deutlich, dass Stehlen etwas Schlimmes ist, das eine gerechte Strafe nötig ist und dass der Held des Filmes eine unbefleckte Weste hat.
Dagegen ist aber Kröte selbst hier sehr viel sympathischer. Er ist ein lustiger Geselle, dem man seine Schrullen und Verrücktheiten durchaus gönnt, anders als im Buch, wo er sich als solch nerviger Aufschneider gibt, dass man ihm die verdiente Strafe wirklich wünschen kann. Auf der gleichen Linie liegt die leichte Veränderung des Endes; während im Buch eine dauerhafte Verbesserung zumindest nicht ausgeschlossen scheint, ist dies im Film mit Sicherheit nicht der Fall.
Also ist die Geschichte bei Disney nicht eigentlich „moralischer“, sondern eher kindgerechter im besten Sinne des Wortes. Taddäus Kröte stellt hier zwar nichts „Schlimmes“ mehr an, aber dafür mehr Unfug, dem man ihm nun von Herzen gönnen kann.
Die zweite Hälfte des Films ist eine Nacherzählung von Washington Irvings „The Legend of Sleepy Hollow“ von 1820. Die erstaunlich originalgetreu übernommene Geschichte um den Kopflosen Reiter ist wohl für Disney-Verhältnisse als ungewöhnlich zu beschreiben, auch wenn sie heutzutage gerade aus dem Halloween-Fundus des Studios nicht mehr wegzudenken ist.
Irvings Geschichte ist für eine angebliche Geistergeschichte durchaus ungewöhnlich erzählt, und das beginnt schon mit der ersten Beschreibung des Handlungsortes. Sleepy Hollow wird als eine - wie der Name schon sagt - verschlafene Gegend dargestellt, die traulich und wie verzaubert mitten in der Natur liegt. Den Status des Unheimlichen erhält der Ort nur dadurch, dass seine Bewohner, die wie Schlafwandler umherziehen, immer wieder seltsame Dinge zu sehen und zu erleben meinen. Die denkwürdigste dieser Erzählungen ist natürlich die Legende vom Kopflosen Reiter oder dem Galoppierenden Hessen, der immer wieder in der Nähe einer bestimmten Kapelle gesehen wird. Es heißt, dort auf dem Friedhof liege sein Grab und daher verschwinde die Erscheinung regelmäßig an der Brücke, die zu dieser Kapelle führt.
Auch die Hauptfiguren stellen eigentlich eine höchst ungewöhnliche Konstellation dar: Der hässlichen und unleidlichen Person des Ichabod Crane wird Brom Bones als gutaussehender, „lustiger“, aber doch erklärtermaßen gutherziger Gegenspieler entgegengestellt. Diese seltsame Verschiebung funktioniert vor allem, weil sowohl Geschichte als auch Film sehr kurz sind; es bleibt keine Zeit für eine ausführliche Charakterisierung, und so lässt sich der Zuschauer einfacher dazu verleiten, ohne weiteres Hinterfragen zu der Hauptfigur zu halten.
Dazu kommt natürlich, dass die denkwürdigste Figur der Geschichte wohl eindeutig der Kopflose Reiter selbst ist und alleine dadurch kann sich jeder, der ihm gegenübersteht, der ungeteilten Sympathie des Publikums gewiss sein.
Doch an sich wird Ichabod wirklich in dem schwärzest möglichem Licht dargestellt; neben seiner unvorteilhaften Erscheinung ist er gierig und egoistisch, er schlägt die Kinder und ist an der schönen Katrina nur wegen der Besitztümer ihres Vaters Baltus van Tassel interessiert. Eine der wichtigsten Eigenschaften ist allerdings Ichabods Aberglauben, der immer wieder speziell betont wird - genau wie Brom Bones Vorliebe für Streiche, die Ichabod schon mehr als einmal an Geister und Hexen haben glauben lassen.
Irvings Geschichte selbst hat im Eigentlichen keine direkte Verbindung zu Halloween - der denkwürdige Abend, an dem sich das Finale abspielt, wird nur als Herbstabend einer Quilt-Festlichkeit statt wie bei Disney als der Halloween-Abend selber bezeichnet.
Brom Bones nutzt diese Gelegenheit des Zusammenseins im Hause van Tassel, um erneut die Legende von Kopflosem Reiter zu erzählen. In der Kurzgeschichte ist dieser Bericht von Bones‘ eigenem früheren Wettrennen mit dem Reiter, der sich schließlich in einem Feuerblitz auflöste, nicht besonders auffällig; sie dient nur dazu, die immer wieder angesprochenen Andeutungen neu heraufzubeschwören. Das entsprechende Lied des Disneyfilms ist dagegen beinahe so beeindruckend wie die spätere Verfolgung selbst und zeigt dabei unauffällig, wie gut Bones in der Lage ist, mit Hilfe einfachster Mittel eine passable Spukgestalt zu imitieren.
Die Festlichkeit endet für Ichabod mit einem Treffen mit Katrina unter vier Augen - eine Begegnung, die, wie die Irvings Erzähler betont, alles andere als positiv für den Schulmeister endet.
Ichabods schauerliche Heimreise durch den dunklen Wald, während der sich jedes Geräusch und jedes Bild für ihn in eine Erscheinung verwandelt, leitet das Finale perfekt ein und wird auch in Irvings Geschichte ebenso gruselig-absurd erzählt wie im Zeichentrickfilm. Dann folgt das Glanzstück von Geschichte und Film: der Angriff des Kopflosen Reiters und Ichabods verzweifelte Fluch vor seinem infernalischen Verfolger, bis hin zum brennenden Kürbiskopf und dem beinahe spurlosen Verschwinden der beiden.
Das Ende ist wunderbar zweideutig und es bleibt unklar, ob die Ereignisse nun wirklich übernatürlicher Gestalt sind, oder ob Bones nur Mittel und Wege gefunden hat, seinen Gegenspieler dauerhaft auszustechen. Die originale Geschichte hütet sich, das Mysterium eindeutig zu brechen, aber dennoch wird mit kleinen Bemerkungen zur Erklärung der Vorkommnisse nicht gegeizt: Es wird gesagt, dass Ichabod Crane gerüchteweise an einem weit entfernten Ort wieder aufgetaucht sei und vor allem Brom Bones scheint über die Umstände seines Verschwindens einiges zu wissen.
Auch der Film bietet entsprechende Anzeichen für einen Streich des Konkurrenten: Bones zeigt seine Verkleidungskünste schon während des Liedes und auch sein Pferd und sein Säbel passen gut zu denen der Spukgestalt. Andererseits scheint gerade der Moment, wenn Ichabod direkt in den Halsausschnitt des Kopflosen Reiters hineinblickt anzudeuten, dass es sich wirklich um eine dem Grabe entstiegene Erscheinung handeln muss, ganz abgesehen von dem sich selbst entflammenden Kürbis am Ende.
Natürlich muss man einer Verfilmung gewisse Zugeständnisse machen. Alleine durch den Unterschied des Mediums kann der Film nicht genauso subtil bleiben wie das Buch; die Darstellung des Reiters muss notgedrungen expliziter erfolgen, um die gleiche Wirkung zu erzeugen. Und dann öffnet sich im Buch noch eine ganz spezielle Frage, die durch das andere Medium des Films dort gar nicht auftritt: Wenn die ganze Geschichte eine überlieferte Legende ist - wer war es dann, der von Ichabods Begegnung mit dem Galloppierenden Hessen berichtet hat? Denn wie wir alle wissen, dead men tell no tales.
Insgesamt ist die Verfilmung der klassischen Geschichte wohl eine der getreuesten Disney-Bearbeitungen überhaupt und wie das Original gelingt es ihr, trotz aller Schaurigkeit die zweideutige Ironie beizubehalten. Die große Hetzjagd des Kopflosen Reiters ist ein Animations-Juwel an sich und bietet bis heute die Basis für alle möglichen Anspielungen, Kopien und Hommagen - verdientermaßen, möchte man sagen. Gerade der zweite Teil des Films ist ein besonderes Segment, das trotz, oder gerade wegen seiner Kürze dem Zuschauer mit Sicherheit unvergesslich bleibt.
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