Das DVD-Medium nähert sich der abschließenden Phase seines Lebenszyklus, und wie man die Walt Disney Studios kennt, werfen sie auf dem letzten Drücker eines Heimkinozeitalters noch ein paar Katalogtitel auf den Markt. Dadurch will Disney Fans und Gelegenheitskäufer zum Kauf von Filmen bewegen, die sie nicht dringend auf dem besser auflösenden (und teurerem) neuen Medium brauchen, doch durchaus zu kaufen gewillt sind. Nun stehen in deutschen Landen also einige "Walt Disney Abenteuer Klassiker" und "Walt Disney Familien Klassiker" (nur echt ohne Bindestriche im Namen der Sammelreihe!) zum Kauf bereit, teils zum ersten Mal in digitaler Form.
Zu diesen Titeln gehören unter anderem waschechte Toptitel aus dem Disney-Realfilmarchiv, wie etwa
Die Schatzinsel,
20.000 Meilen unter dem Meer,
Alle lieben Pollyanna und
Ein toller Käfer, doch auch ein paar verstaubte Klamotten wie
Der Millionenschatz. Für Familien, die sich auf der Suche nach vergnüglicher Unterhaltung für einen gemeinsamen DVD-Nachmittag befinden, sowie für Nostalgiker und Disneyfans lohnt sich ein Blick auf dieses Sortiment aber auf jeden Fall. So kann ich, abseits der üblichen Verdächtigen, etwa wärmstens die hierzulande eher unbekannte Komödie
Alles für die Katz empfehlen, die mit leichtgängigem Humor und Esprit von eher ungewöhnlichen Ermittlungen in einem Entführungsfall erzählt.
Durch das erneute Anschauen einiger dieser Disney-Realfilmklassiker ist mir auch einer der wichtigsten Namen in der Historie des Disney-Spielfilms neu aufgefallen. Robert Stevenson sollte jedem Disney-Kenner, der sich nicht allein auf den Trickfilm beschränkt, ein Begriff sein, war er doch der Regisseur, der mit
Mary Poppins und
Ein toller Käfer zwei der zeitlosesten Realfilmerfolge des Maus-Hauses verantwortete. Was mir aber erst nun ins Auge stach: Robert Stevenson war für Disney nicht nur ein äußerst produktiver Filmer, jemand, der im Regiestuhl Walts Willen umsetzte. Er war Disneys erster Gore Verbinski!
Robert Stevenson und Notizen zu Jane Eyre
Was bitteschön den Mann hinter dem Familienfilm- und Musical-Klassiker
Mary Poppins und den Typren hinter
Fluch der Karibik verbinden soll, fragt ihr euch? Haben die zwei Regisseure überhaupt irgendwelche Charakteristika?
"Ja verdammt!" sag ich da! Wie ich treuen Bloglesern bereits mehrfach vorbetete, ist Gore Verbinski unter den heutigen Hollywood-Regisseuren insofern eine Ausnahmeerscheinung, als dass er seinen Filmen einige markante Eigenschaften mitgibt, ohne einen solchen Kultstatus und eine ihm eingeschworene Fangemeinde zu haben, wie sie ein Quentin Tarantino, Robert Rodriguez, Kevin Smith oder David Fincher aufweisen kann. In Augen vieler Gelegenheits-Kinogänger und Filmkritiker ist Verbinski einer dieser "Auftragsfilmer", ein Filmemacher, der zwar Kassenschlager in seiner Vita stehen hat, jedoch nicht sonderlich auffällt. Erst
Rango hat in Kritikerkreisen erstmals spürlich den Namen Verbinski als Marke durchhallen lassen, ein echter Markenname ist er indes noch nicht. Dabei muss man nur einmal genauer hinschauen. Gore Verbinskis Langfilmdebüt
Mäusejagd war ein hässlicher, bittterböser und gemeiner Streifen, der sich ekligerweise zum Alibi das Kleid einer Kinder-Slapstickkomödie übergestreift hat. Dieses groteske Aufeinanderprallen der cineastischen Traditionen vollführte Verbinski, ebenso wie das Einbinden einer verwunderlichen Liebe zum Detail, in all seine weiteren Regiearbeiten. Selbiges gilt auch zu seiner Tendenz, all seine Filme ein Scherflein "kantiger" zu machen als die Norm. In
Mexican ließ er eine Romantikkomödie und eine in Robert-Rodriguez-Manier gehaltene Gangsterkomödie aufeinanderklatschen, sein Remake von
The Ring mischte überdeutliche Anteile von Familiendrama und journalistischer Detektivgeschichte in die japanische Horrorsuppe und laut Verbinskis eigenen Aussagen sind seine
Pirates of the Caribbean-Filme mindestens genauso sehr Western und Rockoper wie Piratengeschichte. Dass diese sowohl ernst gemeint ist und das zuckrige Piratenbild minderwertiger Abenteuerfilme mit abgehalfterte, dreckigen Piraten unterwandert und zu gleichen Teilen auch pythoneske Züge trägt, verkompliziert die kategorische Analyse zusätzlich.
Kurzum: Verbinskis Filme sind oberflächlich betrachtet massentauglich, sobald man seinen Blick schärft, merkt man dagegen, dass sie stets eine Spur schräger, verschrobener, bitterer, dunkler sind, als sie in anderen Händen wären. Sowie eine Spur größer und aufwändiger. Dies spürt man sogar dann, wenn Verbinski für den ursprünglichen Regisseur einspringt (siehe
The Time Machine), mehr noch aber, wenn er für Disney dreht. Gore ist für drei der bis dato sechs Realfilme verantwortlich, die unter dem Disney-Markennamen erschienen und in den USA ein PG-13-Rating als Jugendfreigabe trugen (die bislang höchste Freigabe, die Disneyfilme erhielten). Sie sind dreckiger, moralisch ambivalenter und machen deutlichere sexuelle Anspielungen als übliche Disney-Produktionen – und sind dennoch keine Anti-Disney-Filme.
"Na fein ... aber, nochmal: Was hat das mit dem
Mary Poppins-Regisseur zu tun? Müsste der nicht eher der absoluten Disney-Norm entsprechen?", fragt sich nun sicher manch einer.
Sieht man sich Robert Stevensons Regiearbeiten für Disney an und vergleicht jene mit anderen Disney-Realfilmen, die zur selben Zeit in die Kinos kamen, so werden alsbald gewisse Tendenzen klar. Stevensons Filme zeigen durchaus Parallelen zu den Arbeiten Gore Verbinskis auf, als dass sie eine Spur kerniger, oft auch filmkategorisch komplexer und meist visuell ausgefeilter sind als vergleichbare Disney-Ware die neben ihnen startete.
Bereits Robert Stevensons Debüt als Disney-Kinoregisseur gab deutlich die Laufrichtung vor. Wo andere Disney-Realfilme der Marke "Ein Kind und sein geliebtes Tier" im Fahrwasser dieses Streifens zunehmend süßlicher, kitschiger und undramatischer wurden, ist das Drama
Sein Freund Jello mit seinen harschen, herzerreißenden Augenblicken seit Jahrzehnten Auslöser verstimmter Kindesgemüter. Sind andere Disneystreifen dieser Art reine Kind-und-Tier-Geschichten, ist dies auch ein Familiendrama über das Farmleben vergangener Tage, und nur wenige Disneyrealfilme arbeiten mit so einer Ernsthaftigkeit und emotionaler Rauheit. Erst recht, wenn sie so eine potentiell klebrige Story haben.
Weiter ging es für Stevenson mit der Spezialeffekt-Extravaganza
Das Geheimnis der verwunschenen Höhle, einer sich selbst ernst nehmenden Fantasygeschichte über einen alternden Trickser und Lebemann, der das Volk der Leprechauns entdeckt. Das Finale involviert eine schaurige Begegnung mit der Kutsche des Todes, eine Szene, die wohl der unterschätzteste Schauermoment der Disney-Realfilmgeschichte ist (wenigstens der
Nostalgia Critic erinnert sich an sie).
Alles für die Katz, 1965
Ende der 50er, zu Beginn der 60er änderte sich allmählich der Trend im Bereich der Disney-Realfilme und Walt Disney setzte verstärkt auf lockere, spaßige Komödien. In dieser Ära kam zu Stevensons Talent für wohlplatzierte "Düsternis" auch sein Geschick bei Verschrobenheiten zum Vorschein. Etwa in
Der fliegende Pauker. Mit etwas Abstand werden sich viele an diesen Vorgänger des Robin-Williams-Vehikels
Flubber als liebe Familienkomödie erinnern. Das ist dieser Kinohit zwar auch, doch er geht weit über das Disneykomödien-Minimum hinaus, streut etwa ab und an Zweifel daran, ob der Protagonist korrekt handelt. So nutzt er sein fliegendes Auto, um seinen Nebenbuhler um die Gunst seiner Verlobten wahnsinnig zu machen. Stevenson ist zwar nicht für das Drehbuch verantwortlich, doch er als Regisseur bestimmte den Tonfall der Umsetzung dieser Elemente, und er lässt den Helden des Films bei seiner Rache an seinem Konkurrenten eben nicht als charismatisch-frech auftreten, sondern verleiht mit umfangreichen Schattenwürfen und massenhaft Horrornebel diese Verfolgungsjagd einen nahezu psychopathischen Dreh. Das Finale wiederum ist unter seinem Disney-Slapstick-Irrsinn ein feister Seitenhieb auf die militärische Paranoia der USA. Nichts fahnenschwingend politisches, dennoch ein köstliches Bonbon für den Zuschauer, der es bemerkt. Zuvor ging
Der unheimliche Zotti, der Auslöser des Disney-Comedy-Booms, nicht ganz so weite Wege, verlieh dem zentralen Fluch, der einen jungen Mann in einen Hund verwandelt, bei allem Humor aber noch immer eine unangenehme Note. Man vergleiche dies etwa mit dem "Alberner Spaß pur!"-Remake mit Tim Allen und sieht, wie bedeutend diese kleine Prise sein kann.
Besonderes Augenmerk verdient noch die Komödie
Alles für die Katz – ein Film, in dem eine Hauskatze als lebende heiße Spur in einem Entführungsfall dient, müsste eigentlich nach allen Regeln der Kunst albern sein. Sofern er nicht kindisch-zuckersüß ist. Als Beweis dient die völlig schrille, dümmliche und, meiner Ansicht nach absolut komische, 90er-Neuverfilmung
Dieser verflixte Kater. Doch der letzte Film, den Hayley Mills als Jugendliche für Disney drehte und in dem sie Dean Jones bei seinem Disney-Debüt begleitet, widersetzt sich dieser Regel. Es kommt ein ehrlicher Sinn für Gefahr auf, da die Entführer nicht dem Disney-Archetypen des dümmlichen Gangster-Duos entsprechen, sondern sehr wohl fähig sind, krumme Dinger zu drehen. Sie sprechen unverfälscht und ohne humorigen Unterton von Mord, einer von ihnen berührt das weibliche Entführungsopfer sogar bedrohlich-verführerisch am Hals (Jahrzehnte später sollte Frollo diesen Akt nehmen und ums Zigfache intensivieren). Die Katze sorgt zwar für allerlei Slapstick, allerdings gründet Stevenson es in so einer bodenständigen Normalität, dass der Film eben nicht zur Disney-Kiddie-Komödie abrutscht. Für die zusätzliche Portion Kantigkeit sorgt ein Subplot über eine neugierige Nachbarin, die die von Hayley Mills der Vielmännerei beschuldigt – was irgendwann auch ihr Freund glaubt, der wiederum mit großen Augen das Bademodenmodel begafft, dass das Surfwetter im Fernsehen ansagt und deshalb keine zu große Klappe in Sachen treue haben dürfte.
Zwischen
Der fliegende Pauker und der 1963 ins Kino entlassenden Fortsetzung drehte Stevenson für Disney übrigens wieder einen aufwändigen Fantasy-Abenteuerfilm, also eine Produktion der Marke, für die Disney vor dem Komödien-Boom bekannt war.
Die Abenteuer des Kapitän Grant ließe sich, mit etwas Willen, als älterer Cousin von
Fluch der Karibik beschreiben: Was als klassischer Disney-Abenteuerfilm mit großen, realistischen Sets und vergleichsweise bodenständigen Figuren beginnt, entwickelt sich plötzlich zu einer augenzwinkernden Tour de Force mit eskalierendem Fantasyanteil und deutlicher werdendem, schrägem Comedy-Einschlag.
Es wäre müßig, nun alle Stevenson-Disney-Regiearbeiten durchzugehen, aber das leicht Verschrobene und dennoch Kantigere ist in vielen weiteren von ihnen anzutreffen. Man darf nicht vergessen, dass in
Ein toller Käfer eine ausführliche Szene Herbies mitleidigem Selbstmordversuch gewidmet ist oder die Fortsetzung
Herbie groß in Fahrt surreale, für jüngere Zuschauer auch leicht verschreckende Albträume rund um den VW-Käfer beinhaltet. Eine Szene, in der groteske Herbie-Ärzte Schabernack mit dem Schurken des Films treiben, wurde sogar vor Kinostart aus dem Film geschnitten – vermeintlich, um das Kinderpublikum zu schonen.
Selbstredend sind diese über die grundlegende Disney-Familiarität hinausgehende Elemente nicht exklusiv in Stevensons Filmen vorzufinden. Doch wie Gore Verbinski bei weitem nicht der schrägste aktuell tätige Regisseur Hollywoods ist, seine Charakteristika aber dennoch deutlich an Stellen anbringt, wo sie der unbedarfte Kinogänger nicht vermuten dürfte, machte auch Stevenson seine Filme zumeist eine Spur besonderer. Er konnte solche tonalen Gratwanderungen zielsicher vollführen, wo manch einer seiner Kollegen Probleme hatte.
Mary Poppins schließlich beinhaltet auch einen Hauch Melancholie, der bei einer weniger selbstbewussten Inszenierung rasch untergehen oder fehlplatziert hätte wirken können.
Gore Verbinski am Set von Pirates of the Caribbean – Die Truhe des Todes (ja, der deutsche Titel lautet offiziell anders, mir egal...)
Gemein ist Verbinski und Stevenson auch, wie schon angedeutet, ihr überragender Erfolg, den man ihnen bei der verhältnismäßigen Unbekanntheit ihrer Namen nicht erwarten würde. Oder anders formuliert: Es ist erstaunlich, dass zwei so handwerklich versierte Regisseure mit solch einem Erfolg keine größere Publicity haben. Gore Verbinski generierte mit seinen bislang acht Kinofilmen weltweit 3 Milliarden 465 Millionen Dollar an den Kinokassen. Das ist ein durchschnittliches Einspielergebnis von stattlichen 433,13 Millionen. Und das hat er nicht allein den
Pirates of the Caribbean-Filmen zu verdanken. Allein
The Weather Man galt als finanzieller Flop. Mehr noch: In der Liste der finanziell einträglichsten Regisseure steht Verbinski aktuell auf Platz 8 – knapp hinter Christoper Nolan und noch vor Roland Emmerich.
Und Robert Stevenson? Der kann sich, der Inflation sei es "gedankt", natürlich nicht mit diesen noch aktiven Filmemachern messen lassen. Aber wenn man die Zeit ein wenig zurückdreht und ihn mit Regisseuren seiner Zeit vergleicht, ist das Urteil überwältigend: 1977 ernannte ihn das Branchenmagazin Variety zum (bis dahin)
kommerziell erfolgreichsten Regisseur in der Geschichte des Films, ein Jahr später listete das American Film Magazine die größten Kassenschlager aller Zeiten. Darin enthalten: 19 Arbeiten Stevensons. Doch wie Gore Verbinski, bislang, im Schatten seines bald fünffach genutzten Stars Johnny Depp, des Produzenten Jerry Bruckheimer und der Markennamen Disney und
Pirates of the Caribbean steht, so steckte der spätere Stevenson stets hinter der Prominenz Walt Disneys zurück. Was sogar noch stärker in Vergessenheit geriet: Schon vor seinem Einstand bei den Disney-Studios war Stevenson ein erfahrener, von kommerziellem Erfolg gekrönter Regisseur (ähnlich, wie langsam Verbinskis Pre-
PotC-Filme übersehen werden): Er startete bei der Filmfirma Gaumont-British, wo er direkt hinter Hitchcock der verlässlichste Erfolgsgarant war, weshalb ihm Produzentenlegende David O. Selznick gemeinsam mit dem Meister des Suspense in Hollywood unter Vertrag nahm. Später versuchte er sich gemeinsam mit Frank Capra als Dokumentarfilmer, mit zunehmender Verbreitung des Fernsehmediums betätigte er sich zwischenzeitlich als Autor bei der Western-Kultserie
Gunsmoke.
Natürlich wird kaum jemand einen Robert-Stevenson-Film mit einem Gore-Verbinski-Film verwechseln. Sie sind beide nicht die verschrobensten Regisseure ihrer Zeit, nicht einmal im Mainstream-Segment. Auch sind sie längst nicht die einzigen, die außergewöhnliche Disney-Realfilme auf die Beine stellen können. Aber beide sind versierte Talente, die es dicker hinter den Ohren haben, als man es anfangs glauben mag.
Tut euch doch selbst einen Gefallen und schaut euch ein paar ihrer Filme nicht nur als Wegwerfunterhaltung an, sondern mit offeneren Augen. Ihr werdet vielleicht überrascht sein, was alles in ihnen steckt.