Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
1902 veröffentlichte Sir James M. Barrie „The Little White Bird“, ein phantastische Erzählung aus verschiedenen Elementen, von denen ein spezieller Teil bis heute für besondere Aufmerksamkeit sorgen sollte: Als eine Art Buch im Buch beinhaltet das Werk die Geschichte eines kleinen Jungen, der von zuhause fortfliegt, weil er beschlossen hat, nicht erwachsen zu werden. Barrie erkannte das Potential seiner Figur; er begann, die Geschichte weiter auszubauen und so vergingen nur zwei Jahre, ehe das Theaterstück „Peter Pan; or, The Boy Who Wouldn‘t Grow Up“ seine erfolgreiche Premiere feierte. 1911 erschienen Peters Abenteuer schließlich in einem abgeschlossenen Roman, „Peter and Wendy“, der später umbenannte wurde zu „Peter Pan and Wendy“ und schließlich schlicht zu „Peter Pan“.
Die Abenteuer und Piratenkämpfe, die Peter Pan, die Darling-Kinder und die verlorenen Jungen im Nimmerland erleben, erwuchsen größtenteils aus Barries Spielen mit den Jungen der eng befreundeten Llewelyn Davies-Familie, nach denen auch ein großer Teil der Figuren des Films benannt ist. Doch die Grundidee des ewig Kindgebliebenen war bereits tief in Barries eigener Kindheit verwurzelt: Es war die Erinnerung an seinen älteren Bruder David, der als Junge starb und in den Köpfen der Familie niemals groß werden konnte. Im Schatten dieses Ereignisses erhält der Gedanke, dass Peter mit sieben Tagen sein Kinderzimmer verlässt und ganz einfach davonfliegt eine so tragische wie berührende Seite und lässt einen die Figur vielleicht in einem anderen Licht sehen. Doch die Verbindung zwischen Peter Pan und dem Kindstod wird im Buch durch Mrs Darlings Erinnerung auch eindeutiger angesprochen:
„Als sie an ihre Kindheit zurückdachte, erinnerte sie sich an einen Peter Pan, von dem man sagte, er lebe bei den Elfen. Es gab seltsame Geschichten über ihn, wie dass er, wenn Kinder starben, einen Teil des Weges mit ihnen ging, damit sie sich nicht fürchteten.“
Eine andere Komponente, die zu der Transzendenz von Peters Gestalt beiträgt, ist die Tatsache, dass (abgesehen von der Kleidung) im ganzen Buch nichts über sein Aussehen gesagt wird. Das Einzige, was einer Beschreibung nahekommt, ist die Aussage, er sei sehr wie der Kuss in Mrs Darlings Mundwinkel. Zugegebenermaßen trifft diese fehlende Darstellung genauso auf Wendy und einen Großteil der anderen Kinder zu, die Gestalt des Käpt‘n James Hook dagegen wird über eine gesamte Seite hinweg bis in jede Einzelheit genau definiert - eine interessante Beobachtung bei einem Schurken, dem der Autor sogar seinen eigenen Vornamen geliehen hat.
Die fehlende Beschreibung der Hauptfigur, die gerade in Hinsicht auf ein Theaterstück mit wechselnder Besetzung sicher ihre Vorteile hat, ließ Peters Gestalt von Anfang an Raum für Interpretationen und Umdeutungen; ein Raum, der in den verschiedensten, oft sehr freien, Adaptionen des Stoffes redlich genutzt wurde.
Entgegen ihrem heutigen Ruf als simple Wunschfantasie behandeln sowohl Theaterstück als auch Buch eine höchst eigenwillige Thematik. Barrie erzählt seine Geschichte auf eine so melancholische wie hoffnungsvolle Weise und am bedeutendsten erscheint vielleicht, dass er trotz der gegebenen Möglichkeiten dabei ganz ohne eine klare moralische Botschaft auskommt. Es ist kein Zufall, dass gerade Mark Twain, der durchaus seine eigene Meinung zu Moral und Pädagogik hatte, das Theaterstück in höchsten Tönen lobt:
„Es ist ein Märchenstück. Nichts darin könnte je im wahren Leben geschehen und genauso soll es sein. Es ist durchgängig schön, lieblich, klar, faszinierend, befriedigend, verzaubernd und unmöglich vom Anfang bis zum Ende. Es bricht mit allen Regeln des echten Dramas, aber bewahrt alle Regeln eines Märchens, und das Ergebnis erfüllt die Seele durch und durch.“
Aber natürlich beinhaltet Peter Pan auf seine Weise auch die Glorifizierung der Jugend und Unschuld, für die die Figur heute im allgemeinen Bewusstsein steht, und so ist es kein Wunder, dass Walt Disney von der Geschichte seit jeher angetan war. Von seinen ersten Langfilm-Ideen an stand der Gedanke im Raum, Barries Gestalt zur Hauptfigur des nächsten Filmes zu machen, auch wenn diese Pläne durch Krieg und Wirtschaftsprobleme schließlich bis 1953 über zehn Jahre verschoben werden sollten.
Disneys Bearbeitung sollte von Anfang an auf eine sehr freie Interpretation des Stoffes hinauslaufen, doch frühe Konzepte und Szenenentwürfe zeigen an, dass die ersten Überlegungen in eine sehr viel dunklere Richtung gehen sollten, als es der fertige Film wagt. In älteren Entwürfen überwiegen dunkle Farben und düstere Symbolik, und gerade die Piraten scheinen hier noch eine sehr viel ernstzunehmendere Bedrohung darzustellen.
Gerade bei der Charakterisierung von Hook entschied man sich schließlich dafür, sich tendenziell mehr nach dem Theaterstück zu richten und dem Kapitän statt der unterschwelligen Tragik des Romans eher die komödiantischen Eigenschaften seiner Bühnenpräsenz zu verleihen - eine Entscheidung, die sich unmittelbar auf die furchteinflößende Seite der Figur auswirkt und ihn szenenweise jeder Ernsthaftigkeit beraubt. Selbst wenn Hook durchaus seine dunklen Momente hat und hin und wieder als echte Bedrohung erscheinen darf, so traut man der Disney-Version des Piraten doch nicht wirklich zu, dass er wie im Buch erwähnt einst Long John Silver erschlagen haben soll.
Auch Wendy, die im Buch zwar ihre mütterlichen Seiten hat, doch die ganze Szenerie eindeutig als Spiel empfindet, wird im Film zu einer reinen Glucke ausgewalzt. Sie übernimmt die Rolle der überlegenen Spielverderberin und verhält sich so erwachsen, dass die Frage aufkommen kann, was sie an Nimmerland ursprünglich wohl gereizt haben mag.
Zugutehalten muss man dem Film dagegen, dass es eine der wenigen Adaptionen ist, in denen Wendy ihr Talent zum Fliegen auf der Insel nicht plötzlich wieder einbüßt. Zwar zeigen die Kinder auch hier erstaunlich wenig Verlangen, sich durch die Luft fortzubewegen, aber das Ende der Lagunen-Szene belegt, dass zumindest Wendy im Notfall sehr wohl dazu in der Lage ist.
Generell ist die hohe Anforderung, Peters schwebenden Flug glaubwürdig darzustellen den ganzen Film hindurch perfekt gemeistert. Die Animation gerade der unscheinbareren Zwischenszenen gibt dem fantastischen Thema einen ganz neuen Realismus und es sollte ein halbes Jahrhundert vergehen, bis eine vergleichbare Abbildung auch in einem Realfilm möglich war.
Was Tinker Bell angeht - ich werde mich hier jeder deutschsprachigen Unterscheidung zwischen Naseweis, Glöckchen oder Klingklang enthalten - so handelt es sich bei ihr wohl in jeder Hinsicht um einen der Glanzpunkte des Films. Allein mit pantomimischen Mitteln gelingt es Marc Davis, das kleine Zauberwesen mit mehr Charakter auszustatten, als der Großteil der restlichen Besetzung zusammen aufweist. Das perfekte Zusammenspiel ihres hitzköpfigen Wesens und der unvergesslichen Erscheinung fügt sich zu einem Gesamtbild, das zu Recht als eines der ikonischsten aus Disneys Figuren-Kanon gilt.
Wie prägnant die Figur den ganzen Film hindurch getroffen ist, zeigt sich besonders deutlich in der zusätzlichen Charakterentwicklung, die man ihr mit dem nur teilweise unfreiwilligen Verrat an Peter und den anderen Kindern gab. Ihr persönliches Eifersuchtsdrama fügt sich so nahtlos in den Rest der Geschichte ein, dass Tinks Konspiration mit Hook nun zum offiziellen Lauf der Geschichte zu gehören scheint und auf die eine oder andere Weise in nahezu jeder weiteren Adaption zu finden ist.
Die Entscheidung, Tinker Bells ikonischste Szene zu streichen, beziehungsweise zur Unkenntlichkeit zu verändern, hatte dagegen dankenswerter Weise wenig Auswirkungen auf die allgemeine Betrachtung des Stückes. Dass Tink sich trotz aller vorhergehenden Streitereien ohne zu zögern für Peter opfert, um ihn vor Hooks Gifttrank/Bombe zu retten, ist auch im Film überzeugend dargestellt, doch erhält die Szene nur einen Bruchteil ihrer Wirkung, solange nicht auch die Folgen ihrer Handlung deutlich werden. Der vielleicht berühmteste Moment des Theaterstücks, in dem Peter das Publikum bittet, seine tote Freundin mit ihrem Glauben und dem Klatschen wieder aufzuwecken, mag eine Herausforderung für jedes nicht-interaktive Medium darstellen, doch schon die Verarbeitung dieser Szene im Buch zeigt, dass es sich um eine durchaus mögliche Herausforderung handelt.
Vielleicht lag es an der alten, eher Theater-basierten Peter Pan-Verfilmung von 1924, dass Walt Disney meinte, eine derart publikumsorientierte Szene würde im Film nicht funktionieren, doch nicht erst der Spielfilm von 2003 zeigt das Gegenteil - schon ein Jahr zuvor kam mit der Disney-eigenen Fortsetzung Neue Abenteuer in Nimmerland der Beweis, dass sich der geforderte Vertrauensbeweis auch völlig ohne Spektakel inszenieren lässt, ohne etwas von seiner Wirkung einzubüßen.
Was die Charakterisierung von Peter Pan selbst angeht, so gibt sich der Film sichtlich Mühe, der Vorlage des Buches gerecht zu werden. Peter ist übermütig, arrogant, sorglos - all die verschiedenen Teile der Figur scheinen zu stimmen, und doch schafft es die Disney-Darstellung nicht, den eigentlichen Charakter des Buches einzufangen.
Der Peter des Films ist nicht kindlich, sondern kindisch; ihm fehlt die unterschwellige Melancholie des Jungen, der nicht erwachsen wird, und stattdessen will er sein Kind-Sein durch launische Kapriolen beweisen. Gleichzeitig zeigt er aber trotz all der betonten Sorgenfreiheit ein hohes Maß an Vernunft und Verantwortungsbewusstsein, das dafür einige der eher eigenwilligen bis rücksichtslosen Charakterzüge des Originals ersetzt. So schimpft er nach dem missglückten Attentat auf Wendy die Jungen mit aller Strenge eines verärgerten Vaters aus - anders als im Buch, wo er zuerst dem Impuls widerstehen muss, sich einfach davonzuschleichen, nur um daraufhin den Schuldigen mit einem sofortigen Todesurteil bestrafen zu wollen.
Ein Grund für diese Reinwaschung mag die Entscheidung gewesen sein, Peter als größtes der Kinder auch optisch zum eindeutigen Anführer zu machen. Dadurch, dass die Rolle in allen vorherigen Inkarnationen mit einer verkleideten Frau besetzt war, gab es kaum Präzedenzen, was Peters Alter angeht. Im Buch wird er als kleiner als die anderen Jungen beschrieben und die Tatsache, dass er noch alle Milchzähne besitzt, lässt auf ein Alter von rund sechs Jahren schließen, doch seit Disney Peter mit dem fünfzehnjährigen Bobby Driscoll besetzte, hat sich allgemein ein sehr viel älteres, beinahe pubertäres Bild der Figur durchgesetzt, das sich immer wieder mit den verantwortungsloseren Seiten seines Charakters reibt.
Auch in anderer Hinsicht stellt der Disneyfilm heute die größtenteils definitive Version der Geschichte dar. Ob es um die Richtungsangabe des zweiten Sterns rechts und Nimmerlands Lage in einer anderen Galaxie statt einem fremden Meer geht, um Kleidung und äußeres Erscheinungsbild von Peter und Tink, oder um die Wahl, welche Hand Hook nun wirklich an das Krokodil verlor - all diese Kleinigkeiten des Films haben das Allgemeinbewusstsein geprägt und ihren Weg in einen nicht unerheblichen Teil der späteren Adaptionen gefunden. Dabei könnte man es als ironisch bezeichnen, dass diese Verallgemeinerung gerade von einem Werk herrührt, das sich bemüht, dem Ursprungsmaterial einen eigenen Stempel aufzudrücken.
Der Film ist fröhlich und ausgelassen und gibt sich alle Mühe, die Freuden der Kindheit angemessen zu zelebrieren, auch wenn er dafür bewusst auf andere Charakterseiten des Buches verzichten muss. Was fehlt, ist die durchgängige Tragik der Hauptfigur und es ist kein Zufall, dass Peters Reaktion auf das glückliche Familienbild am Ende in dieser Version nicht gezeigt wird. Ganz zu schweigen von dem letzten Kapitel des Buches, das von Peters Zusammentreffen mit einer erwachsen gewordenen Wendy erzählt - auch (oder gerade) wenn die Fortsetzung zeigt, wie viel emotionales Potential selbst in einer vorsichtigen Disney-Version dieser Szene stecken kann.
Der wichtigste Unterschied zwischen Buch und Film lässt sich am ehesten mit einem Blick auf ihre Aussage zusammenfassen. Barries Geschichte bietet Abenteuer, Spannung, Spaß und Trauer, doch was man vergebens sucht, ist etwas wie Moral. Die Figuren entziehen sich gekonnt jeder Interpretation und je nach Gesichtspunkt lässt sich die Frage zwischen gut und böse nicht einmal zwischen Peter und Hook eindeutig beantworten. Der Disneyfilm dagegenstrotzt vor Moralverständnis und impliziten Hinweisen auf Verantwortung und Pflichten, was durch das Ende, das das ganze Abenteuer als einen gemeinsamen charakterbildenden Traum darstellt, noch unterstrichen wird.
Disneys Peter Pan ist ein Meilenstein der Zeichentrickgeschichte und hat mit Sicherheit einiges getan, um sich einen Platz im allgemeinen Bewusstsein zu verdienen, doch eine würdige Verfilmung von Barries Buch ist er nicht. Der Film setzt der Geschichte mit Nachdruck seine eigenen Akzente auf und was man auch davon halten mag, es hat dazu geführt, dass andere Adaptionen dadurch für immer in den Hintergrund gerückt scheinen. Was bleibt sind Bilder, die wahrhaft unvergesslich wirken und das traurige Gefühl einer Menge verschenkten Potentials.
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