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Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
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Dabei ist das Stereotyp des edlen, aber ungelehrten Wilden, das über lange Zeit im allgemeinen Bewusstsein festzementiert war, alles andere als dem Original entsprechend. Im Gegensatz zu der Darstellung der populären Filme ist Tarzan im Buch extrem gebildet; er hat die Hütte seiner verstorbenen Eltern und damit die Ansätze der Zivilisation mit 10 Jahren gefunden und sich selbst das Lesen beigebracht. Dazu verfügt er über das Messer seines Vaters, das ihm in Verbindung mit seinen selbsterworbenen Fähigkeiten das Überleben in der Wildnis erst ermöglicht. So wird er, der unübertroffene Herr des Dschungels, dem Leser als eine perfekte Kombination aus natürlicher und kultivierter Lebensweise präsentiert.
Dieser Widerstreit zwischen Natur und Kultur ist gleichsam das Grundprinzip, das das gesamte Buch durchdringt. Die Affen und die anderen Tiere des Dschungels stehen, auch wenn sie seine Familie sind, naturgemäß auf einer völlig anderen Stufe, so dass Tarzan alleine den Inbegriff des idealen Naturmenschen darstellt.
Wenn es also bereits mehr als genug Verfilmungen des Tarzan-Stoffes gab, nahmen sich die Disney-Studios Ende der Neunziger Jahre erneut der Herausforderung an, eine allgemein bekannte Literaturikone neu zu definieren - unter anderem mit dem Ziel, dem Publikum erstmals eine wirklich originalgetreue Interpretation des Dschungelherrschers zu bieten. Anders als der Großteil der bekannten anderen Filme basiert der Zeichentrickfilm nicht hauptsächlich auf dem allgemeingültigen Bild von Tarzan, sondern orientiert sich sehr viel mehr am Originalwerk selbst.
Der größte inhaltliche Unterschied zwischen Buch und Disneyfilm ist von vornherein durch das Medium bedingt: Im Gegensatz zu der bemüht realistischen Tierdarstellung bei Burroughs sind die Gorillas des Zeichentrickfilms selbstverständlich einer vollständigen Sprache mächtig und auch ansonsten eher anthropomorph dargestellt. Sie sind für Tarzan eine vollwertige Familie von Gleichgesinnten, und das lenkt den Fokus nicht zuletzt vermehrt auf eine zusätzliche Naturverherrlichung, die allerdings immer noch ganz im Sinne der eigentlichen Originalaussage steht.
Ab und zu bemüht sich der Film, Tarzans naturbedingte Sonderstellung zu unterstreichen, so vor allem während der „So ein Mann“-Montage, während der zum Beispiel seine Intelligenz in der Fähigkeit, sich und seiner Mutter ein Dach vor dem Regen zu konstruieren, herausgestellt wird, aber generell besteht in dem Film kein spezieller emotionaler oder mentaler Unterschied zwischen Gorillas und Menschen.
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Die Begegnung mit Jane und dem Rest der Zivilisation ist schließlich nur noch notwendig, um ihm die kulturellen Errungenschaften seiner Rasse wie Sprache und den technischen Fortschritt nahezubringen.
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(Nebenbei könnte man Burroughs in dieser Hinsicht durchaus ein wenig Heuchelei vorwerfen, denn auch wenn Tarzans natürlicher Lebensstil immer wieder als absolut überlegen herausgestellt wird, war es doch erst die Zivilisation, die ihn mit seinem Messer und den sonstigen Mitteln versah, sich im Dschungel alleine zu behaupten.)
Ein gutes Beispiel für den leichten Unterschied in der Betonung zwischen den zwei Werken kann man in der Szene finden, in der der junge Tarzan sich und sein Spiegelbild mit dem der anderen Affen vergleicht. Das symbolträchtige Bild enthält sowohl im Buch als auch im Film die gleiche Bedeutung: Tarzan betrachtet sein Bild voller Selbstzweifel, er weiß nicht, was er ist und wo er hingehört. Aber im Original ist diese Selbstreflexion eher trocken und realistisch angesetzt und endet mit dem ersten Beweis für Tarzans eigentliche Überlegenheit. Wenn die Löwin Sabor unvermutet angreift, springt Tarzan ohne zu überlegen ins Wasser und lernt notgedrungen, zu schwimmen, während ein anderes Affenkind, das die Wildkatze schreckgelähmt erwartet hat, von ihr zerfleischt wird. Im Disneyfilm dagegen wird diese Szene, die an eine ganze Reihe vergleichbarer Spiegelungs-Momente denken lässt, rein emotional ausgekostet. Zwar ist das Ergebnis dasselbe - Tarzan lernt, sich und seine Position im Dschungel zu akzeptieren - doch hier ist es die Liebe und der Zuspruch seiner Ziehmutter Kala, die ihn die Zusammengehörigkeit zu den Affen, statt wie im Buch seine eigene Überlegenheit, lehren.
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Dabei sind gerade die ersten Szenen zwischen den beiden ein Paradebeispiel dafür, wie geschickt man bei Disney den Drahtseilakt zwischen Originaltreue, Erwartungserfüllung und behutsamer Modernisierung gemeistert hat. Die Rettung, die zu einer ersten erstaunten Annäherung führt, der ikonische „Tarzan - Jane“-Austausch und die emotionale Komponente in dem vorsichtigen Erkunden des verwandten Körpers fügen sich zu einem passenden und bewegten Ganzen.
Neben Tarzan sind auch die anderen Figuren im Film durchaus charaktergetreu dargestellt. Jane ist ihrer Zeit entsprechend unbedarft und naiv, gleichzeitig zeigt sie sich aber klug, resolut und kann sich prinzipiell gut um sich selbst kümmern. Auf den strahlenden Helden im Lendenschurz ist sie erst im tiefsten Dschungel angewiesen, wenn Tarzan sie vor den wilden Affen - im Buch seinem Rivalen Terkoz - retten muss.
Die treibende Kraft zwischen der Beziehung der beiden ist Janes eigener Zwiespalt zwischen animalischer Anziehung und kultureller Vernunft. Quasi vom ersten Augenblick an fühlt sie sich von dem starken Wilden tief bewegt und würde ihm am liebsten sofort in seine Welt folgen, doch ein anerzogenes Sittenbewusstsein lässt sie bei ihrer Entscheidung zögern, bis es beinahe zu spät ist. Trotzdem ist es am Ende ihre eigene Initiative, die sie endgültig in Tarzans Arme treibt.
Auch Janes Vater, Professor Porter, ist im Film hundertprozentig originalgetreu dargestellt - was nicht schwer ist, da er schon im Original ausschließlich als die absolute Karikatur eines zerstreuten Wissenschaftlers angelegt ist.
Die zwei zusätzlichen Begleitfiguren der (nach dem Buch im Dschungel ausgesetzten) Gruppe, Porters Assistent und Janes schwarze Amme, sind vernachlässigbar und im Falle der Amme zurecht herausgestrichen; wie auch bei den afrikanischen Eingeborenen verzichtet der Disneyfilm wohlweislich auf die antiquierten Rassenstereotypen von Burroughs‘ Geschichte.
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Ein leichter Abstrich in Claytons sonst tadellosen Charakter wird erst deutlich, als er bemerkt, dass Jane etwas für den unbekannten Dschungelhelden empfindet, und unwillkürlich versucht er, diesem negative Absichten zu unterstellen. Diese schwer zu übersehende Parallele zu Disneys Version von Die Schöne und das Biest war vielleicht einer der Gründe, dass die Beziehung zwischen ihm und Jane im Film von jeder Romantik reingewaschen wurde und Clayton somit zum Bösewicht mit rein gierigen Beweggründen degradiert wurde.
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Statt der altbekannt erzählten Dreiecksproblematik konzentriert sich der Disneyfilm auf das große Finale im Dschungel, das durch den ausgearbeiteten Charakter der Affen eine ganz neue Dimension der Geschichte eröffnet. Diese Figuren, die im Original relativ schnell aus dem Blickfeld verschwinden, nehmen gerade im zweiten Teil der Verfilmung einen deutlich größeren Raum ein - eine Entscheidung, die durchaus Sinn ergibt, handelt es sich im Film bei den Gorillas doch um absolut vollwertige Charaktere. Vor allem Tarzans Mutter Kala, die nicht wie im Buch relativ früh von einem schwarzen Jäger erlegt wird, symbolisiert bis zuletzt seine Familie und alles, was er mit dem Dschungel zurücklassen müsste.
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Auf diese Weise bleibt der Film insgesamt dem Charakter des Buches treu, aber gibt sich dennoch emotionaler und bemüht sich, gerade die im Buch eher unterrepräsentierten Figuren voll auszuarbeiten. Außerdem nutzt er die Chance, als einheitlich durchgeplantes Werk seine Geschichte in eine sehr viel strukturiertere Form zu führen, als es der Episodenroman seinerzeit konnte.
Damit gilt Tarzan heute zurecht als eine mehr als vollwertige Verfilmung des Stoffes, die spannungsmäßig wie auch emotional alles aus der ikonischen Gestalt herausholt und auf neue und dennoch getreue Weise einem heutigen Publikum präsentiert.