Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.
Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme
Als Arthur Conan Doyle 1887 anfing, seine Geschichten über die Fälle von Sherlock Holmes zu veröffentlichen, brachte er ohne es zu wissen eine Lawine ungeahnten Ausmaßes ins Rollen, er definierte das Genre des Kriminalromans neu und machte sich und seine ikonische Hauptfigur zur Legende.
Mit Sherlock Holmes schuf Doyle eine Gestalt, die über die Rolle des simplen Ermittlers hinausgeht und sich als eigenständige Persönlichkeit einen Platz in der Weltliteratur erobern konnte. Holmes hat nicht nur einen eigenständigen Charakter, sondern stellt eine derart faszinierende Figur dar, dass seine Geschichten auch für völlige Krimi-Verachter als rein personenbezogene Romane funktionieren. Dieser Ansatz erklärt zumindest ansatzweise die ungebrochene Faszination des beratenden Detektivs, der seit seiner ersten Kurzgeschichte vor über hundert Jahren ein ungebrochener Kritiker- wie Zuschauerliebling ist und bis heute in unterschiedlichsten Inkarnationen sein Publikum findet.
Eine der ungewöhnlicheren dieser Bearbeitungen ist die Buchreihe um „Basil of Baker Street“, die sich alle Mühe gibt, Sherlock Holmes‘ Faszination schon einer Leserschaft von Kindern nahebringen zu können.
Die Figur des Mausers, der in den Kellerräumen von 221b, Baker Street seine Wohnung aufgeschlagen hat und dort buchstäblich im Schatten seines großen Idols Sherlock Holmes Kriminalfälle löst, wurde 1958 von Eve Titus geschaffen, Präsidentin der Sherlock Holmes Society von Los Angeles. Die von 1958 bis 1982 erschienen fünf Bände sind seit seinem Ersterscheinen fester Bestandteil von John Bennet Shaws „100 items for the Basic Holmesian Library“.
Die Hauptintention der Autorin kommt gleich auf der ersten Seite des Buches zum Ausdruck, direkt nach der Widmung an Doyles Sohn Adrian M. Conan Doyle: Es ist Titus‘ Wunsch, gerade Kinder mit ihren Büchern an die klassischen Sherlock-Holmes-Geschichten heranzuführen. Folglich ist es nicht verwunderlich, dass die Bücher voller größtenteils leichtverständlicher Anspielungen auf ihr literarisches Vorbild stecken - angefangen direkt mit dem Namen der Hauptfigur, der natürlich eine Hommage an den legendären Sherlock-Holmes-Darsteller Basil Rathbone darstellt.
Generell sind die starken Parallelen zwischen Basil und Holmes kein handlungsnotwendiger „Zufall“, sondern werden durch Basil gezielt hervorgerufen. Der Mauser verehrt sein menschliches Vorbild und ahmt ihn nach, wo er nur kann. Das ist überhaupt erst der Grund für Basils Wohnsitz; er selbst hat die Mäusesiedlung Holmestead explizit gegründet, um den Deduktionen des Meisters besser lauschen zu können und von ihm zu lernen. In anderer Hinsicht ist er allerdings weniger erfolgreich: Obwohl Basil Holmes‘ Geigenspiel nur zu gerne imitieren würde, zeigt er sich gänzlich unfähig und muss in musikalischer Verehrung auf die Flöte zurückgreifen. Die Pistolenfertigkeiten seines Vorbildes wiegt Basil dagegen mit Pfeil und Bogen auf.
In den Büchern wird klar, dass Basil sich als sehr guter, aber dennoch zweitklassiger Detektiv betrachtet und in jeder Hinsicht eigentlich Sherlock Holmes‘ größter Fan ist. Gerade da er ansonsten den durchaus selbstgerechten Charakter seines Idols teilt, wirkt diese Zurückhaltung teilweise unangebracht und trübt das Bild von Basil als alternativer Holmes-Figur zuweilen leicht.
Besonders erwähnenswert ist dagegen das wiederkehrende Motiv von Holmes Gerechtigkeitssinn, der das eigenständige Denken über simple Gesetzestreue stellt. Wie er hat auch Basil keine Bedenken, überführte Verbrecher laufen zu lassen, wenn er selbst es für moralisch angebracht hält - ein auffallender Kontrast zu vielen anderen politisch korrekteren und somit „pädagogischeren“ Detektivgeschichten.
Nicht nur Holmes selbst, auch die Staffage der Doyle-Geschichten findet sich in Basils Umgebung detailgetreu wieder. Von seinem treuen Begleiter David Q. Dawson über Basils Nemesis, Professor Padraic Ratigan (trotz seines Namens in den Büchern eine Maus), bis zu der verführerischen Opernsängerin Mlle Relda kommen hier die ikonischsten Gestalten von Doyles Universum allesamt in Nagetiergestalt vor.
Insgesamt stellt Basil of Baker Street eine erstaunlich charaktergetreue Holmes-Verkörperung dar und trotz kleinerer Schwächen handelt es sich bei Titus‘ Büchern um eine allerliebste Krimireihe für Kinder, die ihre Aufgabe, den Lesern einen Geschmack des Meisterdetektivs zu vermitteln, meisterhaft erfüllt. Von den wichtigen Charakteristiken der Deduktion als Mittel der Falllösung, die teilweise direkt aus Doyles Geschichten übernommen sind, bis zu dem Klischee der Deerstalker-Mütze, von denen Basil (im Gegensatz zu Holmes) einen ganzen Vorrat besitzt, spiegelt sich wirklich das gesamte Spektrum des zeitgenössischen Sherlock-Holmes-Fankults.
Mit diesen Grundvoraussetzungen stellen die „Basil of Baker Street“-Bücher ein ideales Quellenmaterial für Disney dar. Gerade in einer Zeit, als man sich im Mäusestudio stark auf anthropomorphe Tiere konzentrierte und dafür zeitweise sogar klassische Geschichten kurzerhand ins Tierreich verfrachtete, passte Basil, der große Mäusedetektiv perfekt ins Beuteschema - schließlich hatte Titus den Storyentwicklern in ihren Büchern dabei schon die Hälfte der Arbeit abgenommen, um Sherlock Holmes in das Disney-Universum einzufügen.
Natürlich gibt sich der Film Mühe, auch für Nichtkenner der Bücher sofort klarzumachen, dass Basil hier nicht Holmes‘ Alter-Ego darstellt, sondern sein Gewerbe parallel zu dem des großen Detektivs ausführt. Gleich in der ersten Szene kann man Sherlock Holmes hinter seinem Fenster Violine spielen sehen und in einer Szene leiht ihm sogar Basil Rathbone persönlich die Stimme - und das 19 Jahre nach seinem Tod. Dieser kurze Sprachfetzen aus der „Liga der Rothaarigen“ sorgt allerdings für ein kleines zeitliches Paradoxon, da dieser Fall laut Watsons Aufzeichnungen im Herbst 1890 spielt, während der Film eindeutig im Jahre 1897 angesiedelt ist.
Während der Name Basil in den Büchern im Übrigen wohl einen Nachnamen darstellt (seine Schwester heißt Brynna Basil), ist die Lage im Film uneindeutig und manche Übersetzungen des Filmtitels lassen Basil zu einem klaren Vornamen werden.
Ansonsten lässt sich, was den Vergleich zwischen Film und Büchern angeht, generell nicht viel zum Inhalt sagen. An Parallelen lässt sich das Entführungs-Szenario erwähnen, Basils Geschick, was eine überzeugende Seemann-Verkleidung angeht und die Tatsache, dass Professor Rattenzahn als einzige Maus souverän mit Katzen umgehen kann. Doch von solchen Schnipseln abgesehen, hat der Kriminalfall des Disneyfilms weder mit Titus‘ noch mit Doyles Geschichten viel zu tun und somit liegt der Schwerpunkt der Beurteilung (wie auch in vielen anderen Sherlock-Holmes-Verfilmungen) vorrangig auf der Originaltreue und den eingebrachten Charaktereigenschaften der Figuren.
Als Erstes fällt beim Vergleich der verschiedenen Versionen auf, dass sich der Disneyfilm weit mehr auf die originalen Sherlock-Holmes-Geschichten stützt, als dies in den Büchern der Fall ist. Man spürt dem Film an, dass die verantwortlichen Künstler das Ursprungsmaterial nicht mit der gleichen ehrfürchtigen Achtung betrachteten wie Eve Titus, und der daraus folgende unverkrampfte Umgang tut speziell Basils Charakter wirklich gut.
Natürlich hält sich auch der Film an die gängigen Klischees und weder die Deerstalker-Mütze, noch Watsons korpulentere Statur dürfen dabei fehlen. Aber Basil selbst ist hier nicht mehr der obsessive Sherlock-Holmes-Fanboy, sondern er wird nun seinem großen Vorbild selbst charaktergetreuer. Er meistert nun doch erfolgreich die Violine, hat geradezu manische Stimmungsschwünge und Anflüge von Melancholie und hält sich nicht zurück, auch gereizt, unfreundlich oder geradezu unverschämt mit seinen Gästen umzugehen.
Speziell in Basils sorglosen Umgang mit der Pistole zeigt sich eine Rücksichtslosigkeit, die an ein aussagekräftiges Zitat aus dem erstem Sherlock-Holmes-Roman „Studie in Scharlachrot“ erinnert:
„Ich könnte mir vorstellen, dass er einem Freund eine kleine Prise eines neuentdeckten pflanzlichen Giftstoffes gibt; nicht aus Bösartigkeit, verstehen Sie, sondern nur aus Forscherdrang, um die genaue Wirkung festzustellen. Um ihm aber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denke ich, dass er es mit derselben Bereitwilligkeit selbst nehmen würde.“
Und wenn die Rede auf Giftstoffen kommt: Auch wenn der Disney-Basil genau wie die Kinderbuch-Version selbstverständlich keinerlei verbotene Drogen nehmen, wurde ihm zumindest die ikonische Detektiv-Pfeife nicht verwehrt und in einer Szene darf er um seiner Verkleidung willen sogar Zigarette rauchen und trinken.
Im Film ist Basil zum größten Teil auch nicht der freundliche, besorgte Helfer aus Titus‘ Büchern. Er macht sich keine Mühe, seine Ungeduld Olivia gegenüber zu zügeln und erklärt sich erst bereit, dem Kind zu helfen, als sich deren Fall mit seinen eigenen Interessen überschneidet. Alles in allem benimmt er sich, verglichen mit den Büchern, sehr viel mehr wie seine grenzwertig soziopathischer Vorlage Sherlock Holmes, und das in einer Darstellung, die dieser eher „modernen“ Lesart um einige Jahre vorauseilt.
Auch in anderer Hinsicht traut sich der Film, um Basils Charakters Willen Neuland zu betreten: Basil, der große Mäusedetektiv ist der erste Disney-Zeichentrickfilm mit einer erwachsenen Hauptfigur, der ohne Liebes-Szenerie auskommt - und bis zu dem notirischen Regelbrecher Ein Königreich für ein Lama blieb er auch der einzige.
Dabei galt diese Entwicklung wohl nicht als selbstverständlich, denn in ersten Story-Entwürfen sollte eine sehr viel ältere Olivia noch als potentieller Love-Interest für Basil oder zumindest Wasden sorgen. Es war wohl nur ein glücklicher Zufall, dass man sich entschied, Olivia als Kind „sympathischer“ wirken zu lassen und Basil somit seine originalgetreue Integrität zu belassen.
Stattdessen findet sich im Film eine mehr oder weniger subtile Andeutung auf die Frau, auch bekannt als Irene Adler oder Mlle Relda in der Mäusewelt: Satt der Opernsängerin treffen Basil und Wasden auf die Tanzmaus Miss Kitty, die mit verführerischem Charme und der anfangs allzu unschuldigen Aufmachung die Männer um den Verstand bringt. Zwar gönnt Basil selbst ihr keinen genaueren Blick, aber immerhin ist sie es, die es schafft, für die 15 Minuten Verspätung zu sorgen, die Rattenzahns Plan so weit durcheinanderbringen, dass er Basil schließlich unbeaufsichtigt zurücklassen muss ...
Doch auch an sich bietet Miss Kitty für genug Zunder für mehr als einen Disneyfilm. Mit Zeilen wie „Hey fellas, I‘ll take off all my blues! Hey fellas, there‘s nothin‘ I won‘t do, just for you!“ versucht sie gar nicht mehr, die Anzüglichkeiten zu verschleiern und bietet Mäusen wie Zuschauern einen gewagten viktorianischen Striptease.
Und natürlich stellt das Ende eine einigermaßen kreative Abwandlung des Reichenbachfall-Szenarios dar, wenn Basil und Rattenzahn scheinbar gemeinsam in ihr Verderben stürzen, das nur Basil alleine überlebt. Will man dieser Entwicklung das Klischee vorwerfen, muss man bedenken, dass dieses Sherlock-Holmes-Kapitel zu der Zeit noch nicht so ausgereizt war wie nach den verschiedenen Verfilmungen der letzten Jahre. Seinerzeit war Basils kurzfristiger Untergang nur ein ganz gewöhnlicher, typischer Disney-Tod.
Betrachtet man sie objektiv, so besteht wohl keine Frage, dass Titus‘ Bücher - so geeignet sie als Hinführung auch sein mögen - es doch literarisch gesehen nicht mit Doyles Werk aufnehmen können. Von daher kann man es wohl als eine gute Entscheidung bezeichnen, dass sich Basils Charakter näher an Holmes‘ Vorbild als an seiner direkten literarischen Quelle orientiert; durch diese Entscheidung wurden die Figuren stärker und ausgeprägter, und der unverkennbar gewagtere Inhalt gibt dem Film einen eigenen, markanten Charakter.
Basil, der große Mäusedetektiv hat die Babyschuhe der Basil-Bücher abgestreift und ist mehr als eine kindgerechte „Nacherzählung“ der Holmes-Geschichten - es ist ein selbstständiger Beitrag zu dem ständig wachsenden Erbe des Meisterdetektivs und damit Disneys höchsteigene Verfilmung der Sherlock-Holmes-Legende.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen