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Freitag, 20. April 2012

Chronicle


Was aus Hancock hätte werden können, gehört zu den bedauerlichsten Hollywood-Entwicklungen der vergangenen Jahre: Ein erschütterndes Superhelden-Drama mit bösem Humor und einem verantwortungslosen Helden, das aus kerniger Action und sehr viel Tragik besteht. Stattdessen bekamen wir einen Film, der nur unwesentlich mutiger als der Durchschnitt war und nach derberen Superhelden-Komödien wie Kick-Ass schwer an Attraktivität verloren hat.

Chronicle zeigt uns, selbstredend mit einer ganz eigenen Geschichte, wie Hancock tonal hätte aussehen können. Wahrscheinlich ist er sogar ein gutes Stück besser, als Hancock im Idealfall geworden wäre. Denn Chronicle vereint das Superheldengenre mit dem Spaß juveniler Internet-Tagebücher, dem "mittendrin, statt nur dabei"-Thrill eines Cloverfield sowie einer tragischen Coming-of-Age-Geschichte. Es ist fast so, als hätte der weit gelobte Mobbingopfer-Fernsehfilm Homevideo seinen übernatürlichen Cousin gefunden. Eine Mischung, die man sich nur schwer vorstellen kann, die aber sehr gut aufgeht und für 90 sehr intensive Kinominuten sorgt.

Auch der Einsatz des "Found Footage"-Stils ist schlüssig: Der von seinem Vater bedrohte, in der Schule ständig schikanierte Andrew baut mit seiner Filmkamera eine Barriere zwischen sich und der ihn verletztenden Umwelt auf. Als er, sein Cousion Matt und der beliebte Schüler Steve auf ein mysteriöses Objekt stoßen, das ihnen Superkräfte verleiht, wird aus diesem Schutzmechanismus des Filmens eine Videochronik dessen, wie die drei Jungs durch das gemeinsame Geheimnis ihrer telekinetischen Kräfte zu Freunden werden und ihre Kräfte trainieren. Mit größerer Macht steigen allerdings auch die Gefahren, denn Außenseiter Andrew hat trotz allem Probleme, sich gegen seinen Vater und gemeine Mitschüler zur Wehr zu setzen ...

Manche verglichen Chronicle schon mit den Fantastic Four (pfffff...), andere mit Akira oder Carrie. Teilt das Regiedebüt von Josh Trank mit den letzten beiden Filmen zumindest ein paar grundlegende Themen, so ist es letztlich doch eine ganz eigene Entität. Das liegt vor allem daran, dass die gewählte Medienform dieses Mal mehr als nur ein Gimmick ist, sondern eine schlüssige, die narrative Erzählweise beeinflussende Entscheidung: Chronicle wirkt wie ein persönliches Dokument, das eine zuweilen vergnügliche, sehr oft aber auch tragische Jugendgeschichte von Anerkennung, bedauerlichen Umständen, Rache und Verantwortungsgefühl erzählt. Während Matt und Steve zwar abgerundet, aber dennoch nur Standardfiguren sind, ist Andrew eine komplexe, verletzliche Figur, die Chronicle eine moralische Ambiguität verleiht. Es fällt einem schwer, sich in vielen Szenen nicht herbeizusehnen, dass sich Andrew an seinem Arschloch von einem Vater zur Wehr setzt. Dennoch bleibt stets bewusst, dass die Jungs mit harmlosen Blödeleien besser bedient sind.

Chronicle dreht im Finale vielleicht etwas zu sehr auf. Es ist beeindruckend, was mit einem 15-Millionen-Dollar-Budget geleistet wurde, auch wenn gelegentlich das Shading etwas unfertig scheint. Aber wer bereit ist, nach gelungener Figurenbildung auch ein etwas extremeres Finale in Kauf zu nehmen, wird in Chronicle mit einem außergewöhnlichen Genre-Mix belohnt, der seine steten Stimmungswechsel perfekt unter Kontrolle hat und wie aus einem Guss wirkt.

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